DAS GRANDHOTEL. Ursula Hass
Monsieur Philippe Laurent wird Sie zu einem Aperitif am Freitag, 23. August, 19 Uhr, im Grand Salon des GRANDHOTEL in Davos erwarten. Bitte, teilen Sie mit, ob Sie alleine oder mit wieviel Personen Sie anreisen werden, damit die Zimmer reserviert werden können.“
Urs Rüpli Besitzer des GRANDHOTELS
Folgende Gäste haben eine Einladung erhalten:
Ulla Sommer / Claudine Meister / Annette Fischer
Karl Feistel / Josef Haas/ Renate und Arnim Hermann
Sonja Netter / Albert Rehlein / Peter Bloch
Norbert Neurer / Axel Lehmann / Ansgar Hoch
Klara Breuer / Dominik John / Andreas Lichte
Man hätte sie bis zu diesem unheilvollen Tag im April als glücklichen Menschen bezeichnen können. Vieles war ihr gelungen, manches auch nicht, aber insgesamt konnte sie eine gute Bilanz ihres bisherigen Lebens vorweisen.
Sie fuhr gerne diese Strecke dem Schwarzwald und seinen dunklen Tannen entgegen. Wie ein blaues Band floss die Kinzig ruhig und gemächlich durch die Landschaft. Es war April, die Sonne schien, aber es war kalt. Je höher sie kam, desto kälter wurde es. Einige Tage zuvor hatte es noch einmal kräftig geschneit und ab Triberg war die Landschaft in ein weißes Kleid gehüllt. Es war eigentlich ungewöhnlich für den Monat April, dass noch einmal Schnee gefallen war. Viel Schnee. Die paar Schneeglöckchen oder Primeln, die vorsichtig aus den Beeten durch den Schnee lugten, wollten eigentlich noch weiterschlafen. Ja, vielleicht wäre ein Winterschlaf für sie in dieser Zeit auch gut gewesen. Aber sie war nicht pessimistisch eingestellt, sie war wohl etwas wütend, weil sie eine Nachricht erschreckt und ärgerlich gemacht hatte. Aber sie war auch gleichzeitig gefasst. „Das machen wir jetzt auch bei Neurer!“ Dieser Satz kreiste wie ein Bungee-Ball, in ihrem Kopf herum. Endlich war sie in ihrem Paradies. Schon von Weitem sah sie einen riesigen schwarzen Kasten, einen Container stehen. Als sie aus dem Auto ausgestiegen war und näher an den Container kam, stank es ziemlich nach Öl. Ein bisschen rückte sie an diesem Containerdeckel, um ihn zu öffnen. Er war mit einer schaurigen und übelriechenden Masse voll bis oben hin. Es stank bestialisch nach Öl. Gelblich-grün lagen einzelne Mauerstücke aufeinander gehäuft vor ihr, die alle diesen Geruch hatten und die sich vor ihren Augen zu einem riesengroßen Berg stapelten. Für sie gehörten diese herausgehauenen Mauerreste, die kreuz und quer in diesem schwarzen, stinkenden Kasten lagen, zu ihrem Leben, denn sie waren Teil des Paradieses. Vielleicht klingt dies etwas zu pathetisch, aber man hatte ihr Paradies zerstört, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten.
Nur ein paar Schritte entfernt, stand diese Person, die diesen fatalen Satz gemailt und in ihr Herz gemeißelt hatte, der in ihrem Kopf herumgeisterte, ihr diffuse Schmerzen bereitete, nicht nur in ihrem Kopf. Ihr ganzer Körper war angespannt. Dieser Satz brannte wie Feuer in ihrem Herz, das immer schneller schlug, rasend schnell, je steiler der Anstieg wurde und sie endlich in ihrem Paradies angelangt war.
Nur von Weitem hörte sie noch eine Person sagen: „Aber freundlich sind sie doch!“ Was oder wen meinte diese Person denn damit? Wer war freundlich? Wer hatte all dies zu verantworten, diesen Dreck, diesen Gestank, diese ölgetränkten Bruchstücke in ihrer bis dahin heilen Welt? Sie stieg die Treppen hinauf, immer schneller, ihr Herz pochte. Ein rasender Schmerz wühlte sich durch ihren Körper. Oben angekommen, sah sie nur eine offene Tür, zwei offene Türen, nein drei offene Türen und daraus kam wieder dieser bestialische Gestank, den sie unten schon am Container gerochen und wahrgenommen hatte. Sie stieg die Stufen noch weiter hinauf und lief ein kurzes Stück über die Wiese. Da sah sie wieder diese Person stehen, die ein Messer in der Hand hielt und langsam, mit hämischem Grinsen, auf sie zukam. Plötzlich blinkte dieses Messer im Sonnenlicht auf. Diese Person lief auf sie zu, immer schneller. Sie rammte dieses Messer mit aller Wucht in sie hinein. Sie sah noch wie das Blut, ihr Blut, aufspritzte und es im weißen Schnee Blutspuren hinterließ. Es waren viele kleine, rote Tupfer. Dann wurde sie ohnmächtig und sackte zusammen. Über ihrem Kopf sah sie noch einen Vogel, einen Adler oder einen Bussard kreisen, der immer näher kam. Wie in Trance bemerkte sie seine großen Flügel und seinen rotgetränkten Schnabel.
Dann war Nacht um sie, ewige Nacht.
Kapitel 1
Am Freitag, 23. August trafen die Gäste in Graubünden ein. Das GRANDHOTEL lag wunderschön in einem Seitental von Davos. Es war ein vornehmes Hotel, das jedoch aufgrund seiner Jahre schon ein etwas verblichenes Erscheinungsbild aufzuweisen hatte. An den grünen Fensterläden blätterte der Lack ab, und auch sonst sah man sofort, dass das Hotel schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Aber dennoch hatte das Gebäude eine beeindruckende Fassade und mit seinen vielen spitzen Türmchen erinnerte es auch ein bisschen an ein Dornröschenschloss. Nur wo war hier ein Prinz zu sehen, der es aus seinem Dornröschenschlaf erwecken könnte?, dachte Ulla Sommer, die die Hoteleinfahrt gedankenvoll passierte.
Als sie in ihrem schicken Cabriolet in die Einfahrt einbog, musterte sie argwöhnisch die verblichene Fassade. Die Einladung für ein paar Tage Erinnerungs-Feeling kam ihr eh ein bisschen merkwürdig vor. Aber, da sie gerade nichts zu tun hatte, wollte sie sich diese Tage im schweizerischen Davos auch nicht entgehen lassen. Zielstrebig ging sie den kiesbestreuten Weg entlang und trat in den Eingangsbereich des Hotels. Auch der Innenbereich vermittelte ihr das Bild, dass dieses Hotel schon ziemlich alt war. Es könnte Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden sein. Die grünen, etwas abgewetzten Samtvorhänge passten genau zu dieser seltsamen Atmosphäre, die augenblicklich im Hotel vorherrschte.
„Ich glaube, dass ich schon bessere Hotels, als dieses gesehen habe“, murmelte sie halblaut, mehr zu sich selbst.
Sie setzte sich in einen Fauteuil, der ebenfalls in grünem Samt gehalten war, aber schon an vielen Stellen und Ecken des Samtbezugs ein bisschen speckig aussah. Eigentlich würde sie sich am liebsten in ihr Cabriolet verziehen und auf schnellstem Weg die Heimreise antreten. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Im Augenblick konnte sie es selbst nicht sagen, was es war? War es diese eigentümliche Atmosphäre oder dieses alte, gespenstische Haus, das sie magisch anzog? Oder war es Neugierde und ihre doch immer wieder auftauchende Abenteuerlust, die sie bewog, hierzubleiben?, überlegte sie nur kurz, um dann doch mit einem Kopfnicken zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich auf dieses Abenteuer einlassen wollte.
Als sie sich der Rezeption näherte, sah sie einen Herrn am Tresen stehen. Irgendwie kam ihr dieser Mann bekannt vor, aber erinnern konnte sie sich nicht, wann und wo sie seine Bekanntschaft gemacht hatte. Dann drehte sich der Mann um und erschrak auch ein bisschen, als er sie gesehen hatte, fing sich aber gleich wieder und machte den Weg zur Rezeption für sie frei.
Neugierig warf sie natürlich gleich einen Blick auf den Mann und auf die Eintragung im Gästebuch, das sie gerade wieder dem freundlichen Herrn hinter der Theke übergeben hatte. Sie bemerkte, wie plötzlich die Buchstaben vor ihren Augen zu tanzen anfingen.
„Peter Bloch!“, buchstabierte sie leise den Namen. Aber an einen Mann mit diesem Namen konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. „Irgendwie kenne ich ihn!“, murmelte sie, blickte dann kurz um sich, ob es auch niemand gehört hatte und schimpfte mit sich selbst. Denn seit ihrem Autounfall hatte sie diese Angewohnheit mit sich selbst zu reden. Ihrem Mann gefielen diese Selbstgespräche auch nicht, deshalb beherrschte sie sich auch vor ihm, aber wenn sie alleine war, fingen ihre Gedanken wieder zu sprechen an. Mit wem sollte sie auch reden, es war ja keiner da. Ihre Kinder waren aus dem Haus und ihr Mann wollte noch nie so richtig wissen, was sie bewegte.
„Gut, dass Wilhelm zuhause geblieben ist!“, murmelte sie weiter. So altmodisch wie ihr Mann nun mal war, hätte er sicherlich das alte Hotel ganz nett gefunden, ging es ihr noch durch den Kopf. Hotels waren ihm eigentlich ein Gräuel und so hatten sie früher immer in Ferienwohnungen ihre Freizeit oder ihren Urlaub verbracht, wenn überhaupt einmal Urlaub angesagt war. Da sie beide in ihrer Berufsphase durch Arbeit eingedeckt waren, konnten sie gar nicht so oft Urlaub machen. Vor allem musste sie aufpassen, dass sie ihren