Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
wurde, daß man in unserer Zeit ein völlig unnützes Gejammer darüber erhebe, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und daß die Regierung verpflichtet sei, Maßregeln zur Unterdrückung der Hydra der Revolution zu treffen; vielmehr liege nach der Meinung der Liberalen die Gefahr nicht in der vermeintlichen Hydra der Empörung, sondern in der Hartnäckigkeit der Tradition, welche den Fortschritt hemmte.
Er las auch einen zweiten Artikel über die Finanzen, in welchem dem Ministerium Seitenhiebe versetzt wurden. Mit der ihm eigenen schnellen Auffassungsgabe verstand er die Bedeutung einer jeden Seitenbemerkung; von wem sie herrührte, für wen sie bestimmt war und auf welchen Umstand sie sich bezog; dies alles verursachte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen.
Heute indessen wurde dieses Vergnügen vergällt durch die Erinnerung an die Ratschläge der Matrjona Philimonowna und an das Unglück in seinem Hause.
Er las weiterhin auch, daß der Graf Beust wie man höre, nach Wiesbaden gereist sei und ferner, wie man keine grauen Haare mehr zu fürchten habe; auch vom Verkauf eines leichten Wagens und von der Offerte eines jungen Mädchens. Allein alle diese Nachrichten verursachten ihm nicht jenes stille ironische Vergnügtsein, wie vordem.
Nachdem er mit der Zeitung zu Ende war, sowie mit einer zweiten Tasse Mokka und seiner Buttersemmel, erhob er sich, schüttelte die Brosamen der Semmel von seiner Weste ab und reckte mit zufriedenem Lächeln die breite Brust, nicht daß ihm ein besonders angenehmer Gedanke gekommen wäre – nur seine gute Verdauung rief das Lächeln hervor.
Aber dieses zufriedene Lächeln erinnerte ihn sogleich wieder an alles und er wurde nachdenklich.
Zwei Kinderstimmen – Stefan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen Grischas, seines kleinsten Söhnchens, und Tanas, seiner ältesten Tochter – wurden hinter der Thür vernehmbar. Die Kinder trugen wohl etwas und hatten dies fallen lassen.
„Ich habe gesagt, daß man auf das Dach doch nicht Passagiere setzen kann!“ rief das Mädchen auf englisch, – „heb auf!“ —
„Es ist alles durcheinandergeraten,“ dachte Stefan Arkadjewitsch, „die Kinder laufen schon allein umher.“ Er ging zur Thür und rief. Die Kleinen hatten eine Schatulle hingeworfen, die einen Eisenbahnzug vorstellen sollte; sie eilten nun auf den Vater zu.
Das kleine Mädchen, der Liebling des Vaters lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich lachend an seinen Hals, wie stets sich ergötzend an dem Wohlgeruch des Parfüms, welcher von seinem Backenbart ausströmte. Nachdem es ihm endlich das von der gebückten Stellung gerötete und voll Zärtlichkeit schimmernde Gesicht geküßt und die Händchen zurückgezogen hatte, wollte es fortlaufen, aber der Vater hielt sein Kind zurück.
„Was macht Mama?“ frug er, mit der Hand über den glatten zarten Hals der Tochter streichend. „Guten Morgen,“ sagte er dann lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.
Er wußte recht wohl, daß er den Knaben weniger liebte und bemühte sich stets, gegen ihn freundlich zu sein, aber der Knabe empfand dies und er hatte kein Lächeln für das kalte Lächeln seines Vaters.
„Mama? Sie ist aufgestanden,“ antwortete das Mädchen.
Stefan Arkadjewitsch seufzte auf.
„Das heißt, sie hat wieder die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen,“ dachte er.
„Ist sie denn heiter?“
Das Mädchen wußte, daß zwischen Vater und Mutter ein Zwist vorgefallen war und die Mutter nicht heiter sein konnte, daß der Vater dies recht wohl wissen müsse und sich nur verstelle, wenn er so leichthin frage. Es errötete über den Vater; er verstand das sofort und errötete gleichfalls.
„Ich weiß nicht,“ antwortete sie, „sie hat nicht befohlen, daß wir Unterricht haben sollten, sondern hat uns mit Miß Gule zu Großmama geschickt.“
„Nun, so geh, liebste Tantschurotschka. Doch halt, warte,“ sagte er, sie nochmals festhaltend und ihr zartes Händchen streichelnd.
Er nahm vom Kamin eine Düte Konfekt, die er am vorhergehenden Tage dorthin gelegt hatte und reichte ihr zwei Stücken Chokolade, die sie am liebsten aß.
„Soll ich dies dem Grischa geben?“ frug das Mädchen, auf das eine Stück weisend.
„Jawohl.“ Wiederum streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf das Haar und den Hals bevor er sie entließ.
„Der Wagen ist fertig,“ meldete jetzt Matwey, „aber es ist eine Bittstellerin da,“ fügte er hinzu.
„Schon lange?“ frug Stefan Arkadjewitsch.
„Etwa eine halbe Stunde.“
„Wie oft ist dir gesagt worden, daß du sofort melden sollst!“
„Ich mußte Euch doch vorerst den Kaffee nehmen lassen,“ antwortete Matwey mit jenem freundlich dreisten Tone, über den man nicht in Zorn geraten kann.
„Nur dann bitte sie möglichst schnell,“ sagte Oblonskiy, mit verdrießlich gerunzeltem Gesicht.
Die Bittstellerin, die Frau eines Stabskapitäns Kalinin, bat um etwas Unmögliches und Sinnloses, aber Stefan Arkadjewitsch ließ sie, seiner Gepflogenheit nach Platz nehmen und hörte sie aufmerksam und ohne ein Wort der Unterbrechung an; hierauf gab er ihr ausführlich Rat, an wen sie sich wenden sollte und in welcher Weise dies zu thun sei, und entwarf ihr sogar selbst schnell und gewandt in seiner zierlichen, schwungvollen, schönen und sorgfältigen Handschrift ein Schreiben an die Persönlichkeit, welche ihr nützlich werden konnte. Nachdem er die Frau des Stabskapitäns entlassen hatte, ergriff er seinen Hut, blieb aber noch eine Weile stehen, nachdenkend, ob er nicht etwas vergessen hätte. Es stellte sich heraus, daß er nichts vergessen, es wäre denn, daß er – seine Frau vergessen wollte. —
„Ach ja!“ Er ließ den Kopf hängen, und sein rotes Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. „Soll ich zu ihr gehen, oder nicht?“ frug er sich selbst. Eine innere Stimme sagte ihm, es sei nicht nötig zu gehen, da es dort für ihn nichts gebe als Lüge, und daß ihre beiderseitigen Beziehungen unmöglich wieder zu bessern und herzustellen sein würden, da es nicht anging, sie wieder anziehend und liebeerweckend zu machen, oder ihn zum bejahrten, nicht mehr der Liebe fähigen Greise zu verwandeln. Außer Falsch und Lüge konnte es jetzt nichts mehr geben, dieses beides aber war seiner Natur zuwider.
„Aber einmal muß es doch werden – so kann es doch nicht bleiben,“ sprach er, sich zu ermannen versuchend. Er reckte die Brust heraus, nahm eine Cigarette, steckte sie an und that einige Züge, warf sie hierauf in einen Aschenbecher aus Perlmutter und begab sich mit schnellen Schritten durch den Salon, worauf er eine andere Thür zu dem Schlafzimmer seiner Gattin öffnete.
4
Darja Alexandrowna, im Korsett, die bereits spärlich werdenden Zöpfe des früher einmal üppig und schön gewesenen Haars im Nacken aufgesteckt, mit eingefallenem, hageren Gesicht und großen, aus den magern Zügen hervorstehenden, erschreckt aussehenden Augen, stand inmitten einer Menge im Raume umherliegender Sachen vor einer geöffneten Chiffonniere, aus welcher sie soeben etwas herausnahm.
Als sie den Schritt ihres Mannes vernahm, blieb sie stehen, den Blick auf die Thür gerichtet und angestrengt versuchend, ihrem Gesicht einen strengen und verachtungsvollen Ausdruck zu geben. Sie fühlte, daß sie ihn fürchtete und das bevorstehende Wiedersehen. Soeben hatte sie wieder versucht, was sie schon zehnmal versucht hatte innerhalb der letzten drei Tage; ihre und ihrer Kinder Sachen einzupacken um sie zu ihrer Mutter zu bringen – und wiederum hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Aber auch jetzt, wie schon früher, hatte sie sich wiederholt, daß es so nicht fortgehen könne, daß sie handeln müsse, strafen, ihn beschämen und wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes an ihm ahnden, den er ihr bereitet. Sie sprach nur immer davon, daß sie ihn verlassen werde, aber sie fühlte, es sei unmöglich; es war in der That unmöglich, deshalb, weil sie sich nicht entwöhnen konnte, ihn als ihren Gatten anzusehen und als solchen zu lieben. Ferner erkannte sie auch, daß wenn sie hier, in ihrem eigenen Hause, kaum imstande war, ihre fünf Kinder zu beaufsichtigen, dies noch viel schwieriger dort werden würde, wohin sie mit ihnen allen wollte. Hierzu kam, daß