Gösta Berling: Erzählungen aus dem alten Wermland. Lagerlöf Selma

Gösta Berling: Erzählungen aus dem alten Wermland - Lagerlöf Selma


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in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in Schweden, in einer entlegenen Gemeinde des westlichen Wermland zu.

      Es war dies das erste Unglück, das über Gösta Berling hereinbrach; es sollte nicht das letzte bleiben.

      Denn für die Pferde, die weder Sporen noch Peitsche dulden, ist das Leben nicht leicht. Bei jedem Schmerz, der sie trifft, fahren sie dahin auf wilden Wegen, den gähnenden Abgründen zu. Sobald der Weg steinig ist und die Fahrt schwer wird, wissen sie sich nicht anders zu helfen, als die Fuhre umzuwerfen und in tollem Galopp dahinzusprengen.

      Der Bettler

      An einem kalten Tag im Dezember kam ein Bettler den Brobyer Hügel hinaufgewandert. Seine Kleidung bestand aus den elendsten Lumpen, und seine Schuhe waren so zerrissen, daß der kalte Schnee seine Füße durchnäßte.

      Der Löfsee ist ein langes, schmales Gewässer in Wermland, das sich an ein paar Stellen zu einem schmalen Sund verengert. Er erstreckt sich nach Norden zu bis an die finnischen Wälder und nach Süden bis an den Wenersee. Mehrere Kirchspiele liegen an seinen Ufern, von allen aber ist die Broer Gemeinde die reichste und größte. Sie nimmt einen guten Teil des östlichen wie auch des westlichen Ufers ein, an letzterem aber liegen die größten Güter, Edelsitze wie Ekeby und Björne, weitberühmt wegen ihres Reichtums und ihrer Schönheit, sowie Broby, ein größerer Flecken mit einem Krug, Gasthaus, Thinghaus, Amtmannswohnung, Pfarrhof und Marktplatz.

      Broby liegt an einem steilen Abhang.

      Der Bettler war an dem Kruge vorübergekommen, der an dem Fuß des Hügels liegt, und arbeitete sich nun nach dem auf dem Gipfel gelegenen Pfarrhof hinauf.

      Vor ihm her ging ein kleines Mädchen, das einen Schlitten zog, auf dem ein Sack Mehl lag.

      Der Bettler holte das kleine Mädchen ein und begann eine Unterhaltung mit ihm.

      »Das ist doch ein kleines Pferd für eine so schwere Last«, meinte er.

      Das Kind wandte sich um und sah ihn an. Es war ungefähr zwölf Jahre alt, klein, mit spähenden, scharfen Augen und einem zusammengekniffenen Mund.

      »Gott gebe, daß das Pferd kleiner und die Last größer wäre, dann hielte sie wohl länger vor«, erwiderte das Mädchen.

      »Ist es vielleicht dein eigenes Futter, was du da schleppst?«

      »Ja, Gott sei’s geklagt. Ich muß mir meine Nahrung selber verschaffen, so klein ich bin.«

      Der Bettler schob von hinten an dem Schlitten. Das Mädchen wandte sich um und sah ihn an.

      »Du brauchst nicht zu glauben, daß du etwas dafür bekommst«, sagte sie.

      Der Bettler lachte laut auf. »Du bist wohl die Tochter des Pfarrers von Broby,« sagte er, »das kann man merken.«

      »Freilich bin ichs. Einen ärmeren Vater hat manch ein Kind – einen schlechteren Vater hat keins. Es ist die reine Wahrheit, wenngleich es auch eine Schande ist, daß sein eigen Kind es sagen muß.«

      »Er ist wohl geizig und böse obendrein, dein Vater?«

      »Geizig ist er und böse obendrein, aber seine Tochter wird, wenn sie am Leben bleibt, noch schlimmer als er, das sagen alle Leute.«

      »Darin mögen die Leute recht haben. Ich möchte wohl wissen, wie du zu dem Sack Mehl gekommen bist.«

      »Es kann wohl nicht schaden, wenn ich dirs sage. Ich nahm heute morgen Korn aus des Vaters Scheune, und nun bin ich damit zur Mühle gewesen.«

      »Wird er dich denn nicht sehen, wenn du nun damit angeschleppt kommst?«

      »Du scheinst mir noch ziemlich grün zu sein! Vater ist auf einer Amtsreise!«

      »Da kommt jemand hinter uns den Hügel hinaufgefahren. Ich kann den Schnee unter den Schlittenkufen knirschen hören. Wenn er das nun wäre?«

      Die Kleine lauschte und spähte; dann fing sie an zu brüllen. »Das ist Vater!« schluchzte sie. »Er schlägt mich tot. Er schlägt mich tot!«

      »Ja, nun ist guter Rat teuer, und ein schneller Rat ist besser als Gold und Silber«, sagte der Bettler.

      »Weißt du was,« sagte das Kind, »du kannst mir helfen. Nimm den Strick und zieh den Schlitten, dann glaubt Vater, daß es der deine ist.«

      »Was soll ich denn damit machen?« fragte der Bettler und warf den Strick über die Schulter.

      »Geh damit hin, wohin du willst, komm aber, sobald es dunkel wird, nach dem Pfarrhof. Ich werde dir schon aufpassen.«

      »Ich kann es ja versuchen.«

      »Gott gnade dir, wenn du nicht kommst!« rief das Mädchen und lief dann, so schnell es konnte, um vor dem Vater nach Hause zu kommen.

      Der Bettler wandte den Schlitten schweren Herzens und schob ihn nach dem Krug hinab. Der Ärmste hatte seinen Traum gehabt, während er dort auf nackten Füßen durch den Schnee watete. Er hatte von den großen Wäldern nördlich vom Löfsee – von den großen finnischen Wäldern geträumt.

      Hier unten in der Broer Gemeinde, wo er jetzt an dem schmalen Sund entlang wanderte, der den oberen und den unteren Teil des Sees miteinander verband, in diesen reichen, fröhlichen Gegenden, wo ein Schloß neben dem andern, ein Eisenwerk neben dem andern liegt, hier war ihm der Weg zu schwer, jedes Zimmer zu eng, jedes Bett zu hart. Hier empfand er ein schmerzliches Sehnen nach dem Frieden der großen, ewigen Wälder.

      Hier hörte er den Dreschflegel auf die Tenne fallen, als solle das Dreschen nie ein Ende haben. Holz- und Kohlenladungen kamen unablässig aus den unerschöpflichen Waldungen herab. Endlose Reihen erzbeladener Wagen zogen in tiefen Spuren, die Hunderte von Vorgängern hinterlassen hatten, die Wege entlang. Hier sah er Schlitten von Gehöft zu Gehöft fahren, und es war ihm, als führe die Freude die Zügel, als stehe Schönheit und Liebe hinten auf den Kufen. Ach, wie sich der arme einsame Wanderer nach dem Frieden der großen Wälder sehnte!

      Dort oben, wo die Bäume wie schlanke Säulen aus der ebenen Fläche emporragen, wo der Schnee in schweren Schichten auf den unbeweglichen Zweigen liegt, wo der Wind keine Macht hat, sondern nur ganz leise mit den Nadeln der Wipfel spielen kann, dort wollte er tiefer und tiefer in den Wald hinein wandern, bis ihn die Kräfte eines Tages verlassen würden und er unter den großen Bäumen umsank, um vor Hunger und Kälte zu sterben.

      Er sehnte sich nach dem großen, sausenden Grab oberhalb des Löfsees, wo ihn die zerstörenden Mächte übermannen konnten, wo es endlich dem Hunger, der Kälte, der Ermattung und dem Branntwein gelingen mochte, die Herrschaft über diesen elenden Körper zu gewinnen, der allem zu widerstehen schien.

      Er war nach dem Krug hinuntergekommen und wollte dort bis zum Abend warten. Er trat in die Schenkstube und saß in stumpfer Ruhe auf der Bank neben der Tür, von den ewigen Wäldern träumend.

      Die Schenkwirtin hatte Mitleid mit ihm und gab ihm ein Glas von ihrem starken, süßen Branntwein. Und sie gab ihm noch eins dazu, weil er sie so inständig darum bat.

      Mehr wollte sie ihm nicht geben, und der Bettler geriet in helle Verzweiflung. Er mußte mehr haben von diesem starken, süßen Branntwein. Er mußte noch einmal fühlen, wie ihm das Herz im Leibe hüpfte, wie die Gedanken im Rausch aufflammten. O, dies herrliche Kornbräu! Des Sommers Sonne, des Sommers Vogelsang, des Sommers Duft und Schönheit umfluteten ihn auf seinen Wogen. Noch einmal, ehe er in Nacht und Finsternis verschwindet, will er Sonne und Glück trinken.

      Und so vertauschte er denn erst das Mehl, dann den Mehlsack und schließlich den Schlitten – alles gegen Branntwein. Damit trank er sich einen tüchtigen Rausch an und verschlief den größten Teil des Nachmittags auf einer Bank in der Schenkstube.

      Als er erwachte, sah er ein, daß ihm nur eins hier auf der Welt übrigblieb. Sintemal dieser elende Körper die ganze Herrschaft über seine Seele gewonnen hatte, sintemal er das vertrinken konnte, was ihm ein Kind anvertraut hatte, sintemal er eine Schande für die Erde war, mußte er sie von der Last all dieses Elends befreien. Er mußte seiner Seele die Freiheit schenken, mußte sie zu Gott gehen lassen.

      Er lag auf der Bank in der Schenkstube und ging mit sich selber ins Gericht: »Gösta Berling, abgesetzter


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