Eure Wege sind nicht meine Wege. Hermine Wild
hatte scheinbar unbekümmert dem Auftritt beigewohnt; auch jetzt sagte sie nichts, aber in ihrem Herzen wühlte es und ließ ihr keine Ruhe. Was war es denn, was der Vater, zu dem sie stets nur mit tiefer Scheu, wie zu einem höheren Wesen, unfehlbar in seiner unerbittlichen Strenge, aufgeblickt, was war es, das er so sorgfältig, – ja in dem Grunde ihrer Gedanken lag das Wort unausgesprochen: wie ein Verbrechen – verbarg?
Ich muß doch dahinter kommen, sagte sie sinnend. Aber es war schwerer, als sie geglaubt.
Eines Tages war sie mit Otto im Walde.
Wir müssen heim, sagte er, es wird spät —
O, wir können den kürzeren Weg nehmen, meinte Leonie.
Dann müssen wir beim Thomas vorbei, und das thue ich nicht.
Der Thomas ist aber nicht zu Hause; ich hörte gestern wie die Leute sagten, er gehe heute nach der Stadt.
Das ist mir einerlei, war Ottoʼs resolute Antwort.
So gehe ich allein, versetzte Leonie schnippisch.
Du weißt, der Vater hatʼs verboten, und ich sagʼs ihm, wenn du gehst.
Mir hat erʼs nicht verboten, erwiderte Leonie in gereiztem Tone. Aber du weißt, er mag mich nicht, und da freust du dich, wenn du mir einen Verdruß machen kannst.
Damit war nun freilich Otto geschlagen. Sein gutes Herz litt unter der größeren Liebe des Vaters, die er als eine Ungerechtigkeit gegen die Schwester empfand; aber sein Nachgeben zeigte sich nicht auf eine freundliche Art.
Du bist eine rechte Katze, sagte er ärgerlich und sah sie zornig an. Meinetwegen! thue was du willst. – aber mit dir gehe ich nicht, und wennʼs der Vater erfährt, so istʼs meine Schuld nicht, wenn er dir ein Wetter macht.
Ich will nur den kürzeren Weg gehen, um schneller daheim zu sein, und das ist nichts Böses, versetzte sie still.
Er entfernte sich langsam; bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um. Kommst du? rief er ihr zu.
Sie hatte sich niedergesetzt. Nein, sagte sie, und er ging fort.
Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand sie auf, horchte ein wenig und schritt dann leichtfüßig und froh den Weg dahin, der zum Waldhof führte; dort angekommen, ging sie langsamer; sie sah um sich; es war um die Mittagszeit und kein Mensch war auf dem Felde zu sehen. Sie näherte sich der Hecke des Gartens und blickte hindurch. Auch hier war Alles verlassen, die Fenster geschlossen, die oberen mit weißen Vorhängen umhängt. Ihr Herz klopfte ein wenig; sie dachte, die fremde Frau könne plötzlich hervortreten und wirklich eine Wahnsinnige sein. Sie dachte an Thomas, an dessen Mutter, die sie sehen konnte, an ihren eigenen Vater, an seinen Zorn, den sie mehr als Alles fürchtete, und sie war nahe daran, die Rückkehr nach Hause in Wahrheit anzutreten, aber die Neugier überwand doch jede Furcht. Ich will nur ein wenig ausruhen, sagte sie und setzte sich. Sie war ermüdet, die Sonne brannte, sie neigte den Kopf zurück, und bevor sie sichʼs versah, war sie eingeschlafen. Ein leises Geräusch weckte sie. Sie schlug die schweren Augen auf; durch die mühsam zurückgebogenen Zweige der Hecke schimmerte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, aus dem zwei dunkle, weitgeöffnete Augen mit einem fast irren Blick unverwandt auf das zarte, kleine Wesen sahen. Es war die Fremde. Leonie sprang auf. Ihre erste Empfindung war ein überwältigendes Entsetzen, ihre erste Bewegung war eine Bewegung zur Flucht. Aber rasch wie ein Gedanke fuhr eine weiße, durchsichtige Hand, sich blutig ritzend, durch die Dornen der Hecke und hielt das erschreckte Kind am Kleide fest.
Bleibe! sagte eine süße, leise Stimme in der sanften Sprache, die sie so lange nicht mehr gehört, und die wie ein halbvergessener Traum nur noch in seltenen Nachklängen durch ihre Seele zitterte. – Wieder siegte die Neugierde, sie blieb stehen und wandte sich der Fremden zu.
Wer bist du? Wie heißest du? frug diese jetzt, und ihre zweite Hand, ebenfalls durch die Dornen gestreckt, erfaßte mit zitternder Hast des Mädchens kleine, halb widerstrebende Hand.
Ich heiße Leonie und bin des Grafen Tochter, dem das Gut gehört.
O komm näher! Laß dich anschauen! bat die Frau und zog sie mit beiden Händen dichter an die Hecke heran. Mit durstigen Augen hing sie an dem seinen, in wechselnder Bewegung erröthenden und erbleichenden Gesichtchen fest. Kein Zug, murmelte sie halblaut, kein einziger Zug! Ein düsterer Ausdruck wie Schmerz und Trauer, aber ohne Weichheit, zog über ihr Gesicht und überdeckte es mit einer noch tieferen Blässe. Wo ist dein Bruder? frug sie plötzlich, wie sich besinnend.
Er wollte nicht kommen, der Vater hatʼs verboten, sagte Leonie.
Und da kommt er auch nicht?
Nein, er fürchtet sich.
O er ist seines Vaters rechtes Kind! sagte die Frau mit einer Bitterkeit, die nicht ohne Verachtung war. Sie, schwieg eine Weile. Hat er dirʼs auch verboten? frug sie dann.
Die Röthe der Scham schlug unwillkürlich auf in Leonieʼs Gesicht. Ich habe nicht gefragt, sagte sie zögernd und erwartete fast einen Verweis.
Die Frau betrachtete sie aufmerksam einen Augenblick. Liebst du deinen Vater? frug sie dann.
Leonie stockte – darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.
Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren mageren, heißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weißen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön— man sieht jetzt nichts mehr davon. – Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!
Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.
Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er – hüte dich vor Ihm – hörst du? – Er kennt kein Erbarmen! – Aber du wirst mich rächen! O siehst du – die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —
Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Uebel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater – der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als daß es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.
Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.
Ich – ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf nicht wissen, daß ich da war.
In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese sich von ihrem Schrecken erholt, stand er schon neben ihr. Er blickte über die Hecke, und als er das zitternde Mädchen auf der anderen Seite stehen sah, zog sich seine Stirne in wunderbar krause Runzeln zusammen; doch er nahm die Mütze ab, und seine Rede war höflich, wenn auch fest. Gnädiges Fräulein, sagte er, es schickt sich nicht, so heimlich herzukommen wider den Willen Ihres Vaters und mit Leuten zu reden, die ihren Verstand nicht bei sich haben, und in deren Nähe man keinen Augenblick sicher ist.
Ich ging vorüber, da rief sie mich an, sagte Leonie, in deren Leben die Großmuth nur dann eine Rolle spielte, wenn sie deren von Anderen bedurfte. Sie wandte sich ab und ging. Den ganzen Tag stand sie in der Erwartung eines strengen Verweises von ihrem Vater; sie studirte sein Gesicht; aber es war nicht anders als sonst. Am folgenden Morgen erhielt sie den Befehl, mit der Pfarrerin, welche dort eine Schwester besuchen wollte, nach der Stadt zu fahren. Leonieʼs Augen öffneten sich weit; das Vergnügen, das ihr geboten ward, kam ihr weniger gelegen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie dachte an die Fremde und saß lange schweigend in dem Wagen neben der ebenfalls schweigenden Pfarrerin. Plötzlich fuhr sie aus ihrer Träumerei auf. Was ist Klugheit? fragte sie die Pfarrerin.
Dieser war die Unterbrechung nicht gerade angenehm. Sie hatte in der