Das Frühlicht. Henri Barbusse

Das Frühlicht - Henri Barbusse


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gesagt und wischte mir dabei den Mund ab und guckte nach Souchez hin und ging dann heim! Und nach ein paar Schritten drehte ich mich immer noch mal um und rief ihr noch einen Witz zu! Ach! du kannst dir das gar nicht vorstellen . . . Ja, und das hier?

      Er führte den Arm im Kreis um sich und deutete damit die ganze Leere an, die ihn umgab . . .

      – Wir wollen nicht zu lange hier bleiben. Der Nebel steigt wieder auf, weisst du.

      Dann stand er mühevoll auf.

      – Gehn wir . . .

      Das schwerste war noch nicht getan. Sein Haus . . . Er stutzt, orientiert sich und geht . . .

      – Da ist es . . . Nein, ich bin schon dran vorbei. Da stand es nicht. Ich find die Stelle nicht mehr, wo es stand. Gott, ist das ein Elend!

      Er ringt verzweifelt die Hände und hält sich nur schwer aufrecht auf dem Durcheinander von Verputz und Balken. Dann plötzlich fühlt er sich verloren in dieser verschütteten Ebene, ohne Anhaltspunkt und schaut zum Himmel wie ein unbewusstes Kind, wie ein Wahnsinniger. Er sucht das Heimelige jener in den unendlichen Raum verwehten Zimmer und sucht die Gestalt und das Halbdunkel der Wohnungen, die in den Wind gestreut sind.

      Nachdem er verschiedene Male hin- und hergegangen ist, bleibt er an einer Stelle stehn und tritt ein wenig zurück.

      – Da war es. Ganz bestimmt. Guck her: an diesem Stein erkenn ich's wieder. Da war das Kellerloch. Hier hat das Gittereisen noch eine Spur zurückgelassen, bevor es davongeflogen ist.

      Er schnäuzt die Nase, denkt nach und schüttelt in einem fort den Kopf.

      – Wenn nichts mehr da steht, dann begreift man erst recht, wie glücklich man war. Ach! wie war man doch glücklich!

      Er nähert sich mir und lacht nervös.

      – Das ist keine gewöhnliche Sache, was? So was hast du sicher noch nicht gesehn; was das heisst, sein Haus nicht mehr finden, nachdem man seit jeher drin gelebt hat . . .1

      Dann macht er kehrt und zieht mich nach.

      – Jetzt können wir uns drücken, nachdem doch nichts mehr da ist. Und wenn wir noch stundenlang die Stelle ansehn, wo das Zeug gestanden hat! Komm, wir gehn.

      Und wir gingen. Wir sind wie zwei lebende Flecken an diesem dunstigen und illusorischen Ort, in diesem Dorf, das am Boden liegt und auf das wir treten.

      Nun steigen wir die Strasse wieder hinauf. Das Wetter heitert auf. Der Dunst verfliegt sehr schnell. Mein Kamerad schreitet mit grossen Schritten stumm einher, die Nase auf den Boden gerichtet; dann zeigt er mir ein Feld:

      – Der Kirchhof, sagt er. Da stand er früher, jetzt ist er überall und hat um sich gegriffen, unaufhörlich, wie eine Wellkrankheit.

      Auf halber Höhe kommen wir langsamer vorwärts. Da tritt Poterloo näher an mich heran.

      – Das alles, siehst du, es ist zu viel. Es ist zu arg ausgewischt mein ganzes früheres Leben. Ich habe Angst, so sehr ist das ausgewischt.

      – Bewahre: deine Frau ist doch gesund, du weisst es doch und dein kleines Mädchen auch.

      Auf diese Bemerkung hin macht er ein komisches Gesicht:

      – Meine Frau? . . . Ich will dir was sagen: meine Frau . . .

      – Nun, was ist?

      – Was ist? Gesehn hab ich sie.

      – Gesehen? Ich dachte, sie sei im besetzten Gebiet?

      – Ja, sie ist in Lens bei meinen Eltern. Und ich hab sie wieder gesehn . . . Ach, übrigens pfeif ich drauf! . . . Ich will dir alles erzählen! Jawohl, ich war in Lens, vor drei Wochen. Es war am elften. Also vor zwanzig Tagen,

      Ich schaute ihn verblüfft an . . . aber er sieht wirklich aus, als sage er die Wahrheit. Er schreitet in der zunehmenden Helligkeit neben mir und fängt an zu stottern:

      – Es hiess, erinnerst dich vielleicht noch . . . Nein, ich glaub, du warst nicht da . . . Es hiess also, man müsse den Drahtverhau vor dem Billard-Parallelgraben verstärken. Du weisst, was das heissen will. Bis jetzt halte man's noch nie machen können; sowie man aus dem Schützengraben rausgeht, sieht man einen auf dem Abhang, der so 'nen komischen Namen hat.

      – Der Toboggan.

      – Ganz recht; nachts oder bei Nebel ist die Stelle ebenso gefährlich wie am Tag, wegen der Gewehre, die schon auf Gabeln bereit liegen und wegen der Maschinengewehre, die man am Tage aufstellt. Wenn sie nichts sehn, dann beschiessen die Deutschen immer die ganze Gegend. – Man hat ein paar Pioniere aus der Genie-Kompagnie genommen, aber sie haben sich gedrückt, dann hat man an ihre Stelle ein paar ausgewählte Soldaten aus verschiedenen Kompagnien herausgesucht. Ich war auch einer davon. Also gut. Wir steigen raus. Kein einziger Gewehrschuss! Wir wussten nicht, was das bedeuten sollte. Auf einmal kriecht ein Deutscher, zwei Deutsche, zehn Deutsche aus dem Boden – die grauen Teufels! – und machen uns Zeichen und rufen: »Kamerad!« »Wir sind Elsässer«, rufen sie und kriechen in einem fort aus ihrem internationalen Schlauch. »Wir tun euch nichts«, schreien sie, »nur keine Angst, Freunde. Lasst uns nur ungeschoren unsere Toten begraben.« Und nun arbeiten wir, jeder für sich, miteinander gesprochen haben wir sogar, denn es waren Elsässer. Eigentlich schimpften sie über den Krieg und über ihre Offiziere. Unser Sergeant wusste wohl, dass es verboten war, sich mit dem Feind zu unterhalten; man hat uns sogar vorgelesen, dass wir nur mit der Knallbüchse zu ihnen sprechen sollten. Aber der Sergeant dachte eben, es sei eine aussergewöhnliche Gelegenheit, den Drahtverhau zu verstärken, und weil sie uns ruhig gegen sich selbst arbeiten Hessen, wär man dumm gewesen, wenn man's nicht ausgenutzt hätte . . . Nun aber kommt so'n Deutscher und fragt: »Ist keiner von euch aus dem besetzten Gebiet und möchte Nachrichten über seine Familie haben?« – Weisst du, da hab ich nicht mehr widerstehn können. Ohne zu wissen, ob's gut oder schlecht sei, bin ich vorgetreten und hab gesagt, ich sei so einer. Da fragt mich der Deutsche aus; ich sag ihm, dass meine Frau in Lens sei, bei ihren Eltern mit der Kleinen. Da fragt er mich, wo sie wohnt. Ich erkläre es ihm, und da meint er, es sei schon recht. »Horch mal,« sagt er dann, »ich bring dir die Antwort zurück.« Und auf einmal haut er sich an die Stirne, der Deutsche, und tritt naher: »Hör du, wir machen's noch viel besser. Wenn du machst, was ich dir sag, sollst du sie sehn, deine Frau und deine Kinder auch und alles, wie ich dich jetzt sehe.« Dann sagt er, ich müsse ihm nur nachgehn um die und die Zeit mit einem deutschen Mantel und einer Feldmütze, die er mir verschaffen wolle. Er wolle mich in Lens schon unter die Kohlenmannschaft bringen; und so könnten wir bis zu mir heim. Dort konnte ich alles sehn, müsste mich aber gut verstecken und mich nicht sehn lassen; er stehe schon für die Leute von der Kohlenmannschaft ein, aber im Haus seien Unteroffiziere, für die er nicht garantieren könne . . . Weiss Gott, Alter, ich hab's angenommen!

      – Das war gefährlich!

      – Freilich war das gefährlich. Aber ich hab mich plötzlich dazu entschlossen, ohne weitere Ueberlegung, ich wollte es gar nicht überlegen, so sehr blendete mich der Gedanke, dass ich die Meinen sehn sollte. Und wenn ich nachher auch erschossen würde, meinetwegen: für nichts hast du nichts. Das ist die Geschichte von Angebot und der Nachfrage, nicht? – Gegangen ist die Sache wie geschmiert. Das einzig Schwierige war, eine Mütze zu finden, weisst, ich hab einen dicken Schädel. Aber auch das haben sie gedeichselt; sie haben mir schliesslich einen Flohsack ausfindig gemacht, der mir passte. Ich hatte grad dem Caron seine deutschen Stiefel, das weisst du ja. So sind wir rüber in die deutschen Gräben (die übrigens den unsern verdammt ähnlich sehn) mit den deutschen Kameraden, die mir sagten, ich soll nur keine Angst haben, und zwar gut französisch – so'n gutes Französisch, wie ich red. – Kein einziges Hindernis, nichts. Der Hinweg ist glatt abgelaufen. Alles hat sich so leicht und einfach abgewickelt, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich nur ein geschminkter Deutscher war. Abends sind wir in Lens angekommen. Ich weiss noch, dass ich an la Perche vorbei in der rue du Quatorze-Juillet eingebogen bin. Die Leute hab ich in der Stadt rumgondeln sehn wie in unsern Quartieren. Erkannt hab niemand, es war zu dunkel; auch mich hat keiner erkannt, auch weil's zu dunkel war und auch weil keiner an so 'ne Geschichte dachte . . . Finster war's, dass man 's Aug mit dem Finger nicht mehr fand, als ich in den Garten meiner Eltern gekommen bin. – Das Herz pochte


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