Erste Novellen. Henri Barbusse

Erste Novellen - Henri Barbusse


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die zum Begräbnis ein graues Kleid trug und die Blume von ihrem Hut getrennt hatte, um trauermäßig auszusehen, fuhr erst ein Stück mit der Eisenbahn, dann durchquerte sie zu Fuß das schwarze Land, um ihren Bruder Jean aufzusuchen.

      Je mehr man sich dem Ziel näherte, desto schwärzer wurden die Straßen, die zu den Kohlengruben führten; eine schwarze Wolke schien sich hier über die Erde gebreitet und auf sie abgefärbt zu haben.

      Sie nahm ein Zimmer in einem der Gasthäuser an der Hauptstraße, die schwarz war von Straßen- und Kohlenstaub.

      Abends erwartete sie die Ausfahrt aus dem Schacht in der Mitte der anderen Frauen. Sie wurde hin- und hergeschleudert, erst durch das Geheul der Signalpfeifen, dann durch die schwere und massige Schar der Arbeiter, die aus dem Loch im Berge aufstiegen und die alle in der gleichen Richtung davonzogen wie bei einem Begräbnis.

      Obwohl sie ihren Bruder seit seinem fünfzehnten Jahre nicht gesehen hatte, erkannte sie ihn unter ihnen. Ja, das war sicher Jean, der mit dem kleinen blassen Gesicht, das zu blaß und zu klein für den großen Körper war. Er sah stumpf aus wie die andern, aber er schien müde und tief vereinsamt.

      Lieber Himmel . . .

      Marie sah, daß seine Gefährten ihn pufften, lachten, ihn verhöhnten. Er wehrte sich, riß sich los und lief davon.

      Sie folgte ihm. Erst trat er in ein Haus ein, wo Zimmer vermietet wurden, nachdem er sich, nach der Art schüchterner Menschen, sorgsam vergewissert hatte, ob es auch das richtige Haus sei; er kam wieder heraus und ging ins Wirtshaus zum Essen. Erst blieb er auf der Schwelle stehen, wie erschrocken von dem Lärm, dann ging er mechanisch auf die entfernteste Ecke des Raumes los und verkroch sich dort.

      Also hatte er keine Frau, keine Freundin. – Sonderbar! Für sie war das die wichtige Gewißheit, daß sie an der Seite ihres Bruders leben konnte, ohne ihn zu stören, war das ein Glück nach ihrer abenteuerlichen Reise in den Zufall und doch tat ihr das Herz weh. Auch sie trat ins Wirtshaus und setzte sich ihm gegenüber, aber durch zwei Tische von ihm getrennt und eingeengt zwischen Leuten, die schmatzend aßen.

      Jean sah bedrängt und traurig aus, obgleich er von dem Tode seiner Mutter noch nichts wissen konnte. Das nackte Licht einer Gasflamme ließ auf seinem knochigen Gesicht schwarze Linien und weiße Flächen erstehen.

      »Ach, der schöne Bursch!«

      Ein paar übermütige Kerle, ein gierig blickendes, buntbebändertes Frauenzimmer mit überdeutlicher und leichtfertiger Gebärde unter ihnen, waren vor dem jungen Menschen stehen geblieben und rempelten ihn höhnisch an. Schamvoll, stotternd beugte er das Gesicht über seinen Teller. Endlich gingen die Spötter, aber aus den Kehlen der Weiber stieg ringsumher raketenartig Gelächter auf.

      Ach, der Bruder, den sie wiederfand, wurde geschmäht und verlacht! Niemand wollte etwas von ihm wissen. Wenn er von der Arbeit heimkam, mußte er in die äußerste Ecke des Schankzimmers flüchten, um den Menschen zu entgehen!

      Tränen traten in Mariens Augen. Er tat ihr so leid. Jetzt aber war sie da. Durch sie würde sein Leben milder werden. Sie würde seine Familie sein. Sie würden ein Heim haben und sie, Marie, würde dafür sorgen, daß ihm vom Sims ein Blumenstrauß entgegenblühe.

      Bevor sie sich von ihrem Platz erhob, wo sie von ihren Nachbarn fast zerquetscht wurde, sah sie ihn lange an. In diesem Augenblick hob er den Kopf und sein Blick begegnete dem ihren.

      Sie lächelte.

      Er blieb mit offenem Mund, wie erstarrt, als er sah, daß eine Frau ihm zulächelte.

      Sie errötete. Er konnte sie nicht erkannt haben. Er würde also glauben, daß sie . . . Instinktiv senkte sie die Augen, aber instinktiv hob sie sie wieder. Er blickte sie noch immer an und hatte die Augen so weit aufgerissen, daß sie in seinem blassen Gesicht glänzten wie von Tränen. Auf diesem Antlitz malte sich ein so erschütterndes Staunen, daß Marie am ganzen Körper zu zittern begann. Aufs neue lächelte sie.

      Die kleine Szene war den Gästen nicht entgangen, deren lärmende Schar im Schankzimmer umherlümmelte. Der Cadiot und die niedliche Unbekannte äugten sich an! Die Arbeiter stießen einander, beobachteten die Vorgänge und flüsterten erstaunt:

      »Der da? Unglaublich! Nein, wirklich!«

      Marie verkroch sich in sich selber, vollendete ihre Mahlzeit und wagte nicht, aufzusehen, obgleich sie seine Augen und die aller andern auf sich ruhen fühlte.

      Als es Zeit zum Kaffee war, leerte sich das Zimmer teilweise.

      Da erhob sie sich und näherte sich ihrem Bruder. Als dieser gewahrte, daß wirklich er es war, mit dem sie sprechen wollte, erhob er sich und um den Irrtümern, den Verwechslungen, an die er glaubte, ein Ende zu machen, nannte er seinen Namen:

      »Ich bin Jean Cadiot.«

      Sie öffnete eben den Mund, um zu sagen: »Und ich bin Marie!« aber er sah diesen frischen Mund mit einem Ausdruck von so wundersamer Erwartung und Hoffnung an, daß sie schwieg, und ohne ganz zu verstehen, was in ihr vorging, lächelte sie wieder und sah ihn an.

      Der Mann murmelte endlich: »Wollen wir miteinander fortgehen?«

      Zusammen traten sie hinaus, verlegen und linkisch. Unter den Gästen des Arbeiterwirtshauses wurde es ganz still, als sie vorbeigingen.

      Kaum waren sie draußen, so berührte er ihren Arm und legte ihn in den seinen. Sie ließ ihn gewähren. Warum klärte sie nicht so rasch wie möglich seinen traurigen und peinigenden Irrtum auf? Sie sagte aber nur:

      »Leben Sie ganz allein?«

      »Natürlich,« sagte er. Dann stammelte er mit Anstrengung: »Warum fragen Sie mich das? Ich bin es nicht gewöhnt, daß man von mir hören will. Die andern finden das auch sonderbar.«

      Er zeigte mit dem Finger nach hinten. Die erleuchteten Fenster sahen aus, wie Flächen weißer Kinoleinwand, und auf ihnen zeigten sich schwarze Späherköpfe.

      »Haben Sie gar keine Freunde?«

      »Kann man mich denn lieb haben? Ich kann es ja verstehen, es ist nur, um Ihnen zu erklären . . .«

      Er sprach schwer, als wäre er von diesen Dingen ausgehöhlt und des Redens ungewohnt. Anstatt ihm alles in diesem Augenblick aufzuklären, sagte sie leise:

      »Sie sehen gut aus. Es gibt gewiß Frauen, die glücklich mit Ihnen werden könnten.«

      »Das hat mir noch keine gesagt,« murmelte der junge Mensch.

      »Aber ich sag' es Ihnen.«

      »Sie . . .! Sie . . .!«

      Plötzlich warf er seine langen Arme dem jungen Mädchen um die Schultern und zog sie an sich. Sie stieß ihn zurück.

      Er stand regungslos, mit hängenden Armen, wie ein Sklave.

      »Hören Sie,« sagte Marie, »Sie dürfen mich nicht lieb haben. Ich würde unglücklich werden, wenn Sie mich lieb hätten. Ich bin nicht mehr frei, nein, wirklich nicht. Wenn Sie alles wüßten! Aber andere Frauen werden kommen und finden, daß Sie besser sind als andere Männer.«

      »Wirklich?« sagte er. »Wirklich? Wieso?«

      Er stand vor ihr in Verzückung: »Mich lieb haben? Ist das denn möglich? Sagen Sie, würden Sie mich lieb haben, wenn Sie frei wären?«

      »Ja,« flüsterte sie. »Leben Sie wohl. Ja.«

      Sie verschwand und er blieb stehen, starr, bleich und wie von innen heraus erleuchtet. Sein ganzes Wesen glänzte von dem wundervollen Widerschein eines weiblichen Wesens.

      Er war damit geschmückt wie von einer wunderbaren Kostbarkeit von unbeschreiblichem Wert, wie mit einem Talisman, der ihm die Kraft und den Mut geben sollte, mit dem Leben und dem Glück zu ringen.

      Sie war schattenhaft ins Wirtshaus zurückgeglitten und begrub sich in dem armseligen Zimmerchen, aus dem sie am nächsten Morgen weit fort fliehen mußte. Jetzt durfte sie den verlassenen Bruder nicht wiedersehen, dem sie statt einer wirklichen Schwester lieber der Schimmer eines wirklichen Weibes gewesen war. Die Tränen flossen über ihr Gesicht und sie weinte zugleich vor Schmerz und vor Glück.

      Das


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