Gesammelte Werke. Robert Musil
ich ihn wiedersah, besaß er ein Auto, jene Frau, die nun sein Schatten war, und eine angesehene, einflußreiche Stellung. Wie er das angefangen hatte, weiß ich nicht; aber was ich vermute, ist, daß das ganze Geheimnis darin lag, daß er dick wurde. Sein eingeschüchtertes, bewegliches Gesicht war fort. Genauer gesehen, es war noch da, aber es lag unter einer dicken Hülle von Fleisch. Seine Augen, die einst, wenn er etwas angestellt hatte, so rührend sein konnten wie die eines traurigen Äffchens, hatten eigentlich ihren aus dem Innern kommenden Glanz nicht verloren; aber zwischen den hoch gepolsterten Wangen hatten sie jedesmal Mühe, wenn sie sich nach der Seite drehen wollten, und stierten darum mit einem hochmütig gequälten Ausdruck. Seine Bewegungen fuhren innerlich immer noch umher, aber außen, an den Beugen und Gelenken der Glieder, wurden sie von stoßdämpfenden Fettpolstern aufgefangen, und was herauskam, sah wie Kurzangebundenheit und entschlossene Sprache aus. So war nun auch der Mensch geworden. Sein irrlichternder Geist hatte feste Wände und dicke Überzeugungen bekommen. Manchmal blitzte noch etwas in ihm auf; aber es verbreitete keine Helligkeit mehr in dem Menschen, sondern war ein Schuß, den er abgab, um zu imponieren oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Er hatte eigentlich viel gegen früher verloren. Von allem, was er äußerte, ging jetzt zwölf auf ein Dutzend, wenn das auch ein Dutzend guter, verläßlicher Ware war. Und seine Vergangenheit behandelte er so, wie man sich an eine Jugendtorheit erinnert.
Einmal gelang es mir, ihn auf unseren alten Gesprächsgegenstand, den Charakter, zurückzubringen. «Ich bin überzeugt, daß die Entwicklung des Charakters mit der Kriegsführung zusammenhängt», legte er mir in atemknapper Sprache dar «und daß er darum heute auf der ganzen Welt nur noch unter Halbwilden zu finden ist. Denn wer mit Messer und Speer kämpft, muß ihn haben, um nicht den kürzeren zu ziehen. Welcher noch so entschlossene Charakter hält aber gegen Panzerwagen, Flammenwerfer und Giftwolken stand!? Was wir darum heute brauchen, sind nicht Charaktere, sondern Disziplin!»
Ich hatte ihm nicht widersprochen. Aber das Sonderbare war, – und darum erlaube ich mir auch, diese Erinnerung niederzuschreiben – daß ich, während er so sprach und ich ihn ansah, immerdar das Empfinden hatte, der alte Mensch sei noch in ihm. Er stand in ihm, von der fleischigen größeren Wiederholung der ursprünglichen Gestalt eingeschlossen. Sein Blick stach im Blick des andern, sein Wort im Wort. Es war fast unheimlich. Ich habe ihn inzwischen noch einigemal wiedergesehen, und dieser Eindruck hat sich jedesmal wiederholt. Es war deutlich zu sehen, daß er, wenn ich so sagen darf, gerne einmal wieder ganz ans Fenster gekommen wäre; aber irgendetwas verhinderte ihn daran.
Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten
Als der Marquis von Epatant den Raubtieren vorgeworfen wurde – eine Geschichte, die leider in keiner einzigen Chronik des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt wird – sah er sich plötzlich in eine so peinliche Lage versetzt, wie es ihm noch nie widerfahren war. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und ging lächelnd, mit einem Blick, der aus zwei matt geschliffenen Edelsteinen zu kommen schien, aber nichts mehr sah, dem Nichts entgegen. Doch es löste ihn dieses Nichts nicht ins Ewige auf, zog sich vielmehr sehr gegenwärtig zusammen; mit einem Wort, nicht das Nichts, sondern nichts ereignete sich, und als er sich seiner Augen wieder zum Sehen zu bedienen begann, gewahrte er ein großes Raubtier, das ihn unschlüssig betrachtete. Dies wäre dem Marquis, wie man annimmt, weiter nicht peinlich gewesen – er hatte Angst, wußte aber, wie man sie zu tragen habe – wenn er nicht im gleichen Augenblick inne geworden wäre, daß es ein weibliches Raubtier sei, das er vor sich habe. Strindberganschauungen gab es damals noch nicht; man lebte und starb in denen des achtzehnten Jahrhunderts, und Epatants natürlichste Regung war es, mit Anmut den Hut zu lüften und eine galante Verbeugung zu machen. Dabei sah er aber, daß die Handgelenke der ihn betrachtenden Dame beinahe so breit waren wie sein Oberschenkel, und die Zähne, die in dem lüstern und neugierig geöffneten Mund sichtbar geworden, gaben ihm ein Bild des Massakers, das ihm bevorstand. Diese Person vor ihm war furchteinflößend, schön, stärk, aber in Blick und Gestalt durchaus weiblich. Er fühlte sich durch die in allen Gliedern spielende Zärtlichkeit der Raubkatze unwillkürlich an die entzückende, stumme Beredsamkeit der Liebe erinnert. Er mußte sich nicht nur fürchten, sondern hatte zugleich auch den beschämenden Kampf zu ertragen, den diese Furcht mit dem Bedürfnis des Mannes führte, einem weiblichen Wesen unter allen Umständen Eindruck zu machen, die Frau in ihm einzuschüchtern und zu besiegen. Er sah sich statt dessen von seinem Gegner verwirrt und unterliegen. Die weibliche Bestie schüchterte ihn als Bestie ein, und das vollendet Weibliche, das jede ihrer Bewegungen ausatmete, mengte in die Preisgabe jedes Widerstandes das Wunder der Ohnmacht. Er, Marquis d’Epatant, war in den Zustand und die Rolle eines Weibchens gebracht worden, und dies in der letzten Minute seines Lebens! Er sah keine Möglichkeit, diesem boshaften ihm angetanen Schimpf zu entrinnen, verlor die Herrschaft über seine Sinne und wußte zu seinem Glück länger nicht mehr, was mit ihm geschah.
Es soll nicht behauptet werden, daß die Jahreszahl richtig ist, aber wenn es den Staat der Amazonen wirklich gegeben hat, so müssen äußerst ernst zu nehmende Damen darin gewohnt haben. Denn hätten sie etwa nur einen etwas gewalttätigen Frauenrechtsverein dargestellt, so wären sie in der Geschichte höchstens zur Reputation der Abderiten oder Sancho Pansas gekommen und bis zum heutigen Tag ein Beispiel unweiblicher Komik geblieben. Statt dessen leben sie in heldenhaftem Andenken, und man darf daraus schließen, daß sie zu ihrer Zeit in einer überaus beachtenswerten Weise gebrannt, gemordet und geraubt haben. Mehr als ein indogermanischer Mann muß vor ihnen Angst gehabt haben, ehe sie es zu ihrem Ruf brachten. Mehr als ein Held wird vor ihnen davongelaufen sein. Mit einem Wort, sie müssen dem prähistorischen Mannesstolz nicht wenig zugesetzt haben, bis er endlich zur Entschuldigung von so viel Feigheit sagenhafte Geschöpfe aus ihnen gemacht hat: einem Gesetz folgend, wonach auch ein Sommerfrischler, der vor einer Kuh flüchtet, immer behaupten wird, daß es zumindest ein Ochse gewesen sei.
Wie aber, wenn es diesen Jungfrauenstaat niemals gegeben hat? Und das ist wohl schon darum wahrscheinlich, weil sich kaum denken läßt, daß es darin Divisions-und Regimentsstörche gab, die den männermordenden Jungfrauen die Rekruten brachten. Wovor haben sich dann die antiken Helden gefürchtet? War das Ganze nur ein wunderlich Gewalt antuender Traum? Unwillkürlich erinnert man sich daran, daß sie auch Göttinnen verehrt haben, von denen sie im Rausch der Anbetung zerrissen worden sind, und die Sphinx besuchten die kundigen Thebaner wie der Fliegerich die Spinne. Man muß sich schandenhalber wohl ein wenig darüber wundern, was für Spinnen-und Insektenträume diese Urväter unserer Gymnasialbildung kannten! Vorbildliche Sportsleute, die sich nicht viel aus Frauen machten, träumten sie von Frauen, vor denen sie sich fürchten konnten. Sollte am Ende Herr von Sacher-Masoch eine so lange Vorfahrenreihe gehabt haben? Es ist keineswegs anzunehmen. Denn wir mögen uns wohl gerne vorstellen, daß es früher dunkel gewesen ist, weil es dadurch jetzt umso heller ausschaut; aber daß an den Grundlagen des humanistischen Unterrichts etwas dermaßen in Unordnung sein sollte, vermögen wir nicht zu glauben. Sind sie scherzhaft gewesen, die alten Griechen? Oder haben sie in der Art aller Levantiner ungeheuerlich übertrieben? Oder liegt ihrer Ur-Perversität eine Ur-Harmlosigkeit zugrunde, die erst viel später die kranken Reiser getrieben hat?
Dunkel sind die Anfänge der Zivilisation.
Was haben zwei Jahrhunderte «moderner Zeit» aus dieser Geschichte gemacht?
Ein Mann besiegt in offener Feldschlacht das Amazonenheer, und die Amazone verliebt sich in ihren Bezwinger. So ist es nun in Ordnung! Die Widerspenstigkeit wird gezähmt, sie läßt Schild und Speer fallen, und die Männer kichern geschmeichelt in der Runde. Das ist von der alten Sage übrig geblieben. Das Zeitalter des gebildeten Bürgers bewahrte von der wilden jungen Raubfrau, die darauf brennt, ihre Pfeilspitze hinter Mannesrippen zu landen, bloß das moralische Beispiel, wie sich unnatürliche Triebe wieder in natürliche verkehren; und außerdem höchstens noch kümmerliche Reste in den Theatern, Kinos und den Köpfen sechzehnjähriger Lebemänner, wo das dämonische Weib, die Salonschlange und der Vamp von fern an ihre männermordenden Vorgängerinnen erinnern.
Aber die Zeiten bleiben in Fluß. Es soll nicht von weiblichen Bureauvorstehern gesprochen werden, um die sich der männliche Untergebene rankt wie der bescheidene Efeu um die starke Eiche; es gibt Geschichten, die dem Mittelpunkt der männlichen Eitelkeit näher liegen, und