Jutt & Jula. Brust Alfred
gewiesen, ihr die unterschiedlichen Merkmale und Äußerungen verraten. Dort gab es Gundelrebe, Benediktskraut und Ehrenpreis, dort Huflattich, Schafgarbe und Salbei; hier wuchs Johanniskraut und Lavendel, da Tormentille, Zinnkraut und der übelduftende Lipstock. Auf den Rainen drängte sich silbergrau der bittere Wermut, und daneben, in zarten Reihen, krochen die Stauden von Gesellenschuh und Fingerhut ans Sonnenlicht. Und endlich schloß sich die Kette, derjenigen Gewächse verschwiegenen Namens an, deren Wurzeln oder Blüten so unmittelbar tödlich waren, daß auch der gewiegteste Arzt keine Ursache festzustellen imstande war. Diese gefährlichen Kräuter wuchsen ganz groß und ganz offen. Und sie waren durchaus diejenigen der wirksamsten Heilungen, wenn man sie mit dem Zutraun des Wissenden genoß. Es bedeutete für Jula jedesmal einen schauernden Reiz daran vorüberzugehen – im Wissen um Heilung und größte Gefahr – und Menschen daran nichtsahnend vorbeischreiten zu sehen, wie im Schlaf oder träumend die kostbaren Blüten mit den unbeherrschten Fingern streifend . . .
Dann verpackte Jula in großen, sauberen Pappschachteln den erhaltenen Auftrag, spannte das kleine muntere Pferdchen vor den Wagen und brachte die Pakete nach dem Dorf auf das Postamt, welches ein biederer Schneidermeister verwaltete, dem Tante Maria viel geholfen hatte. Denn zu seiner Sauberkeit und Tauglichkeit war er, wie die meisten Menschen, erst durch entschiedene Bedrohungen durch das Schicksal gekommen. Eines Tages hatte er ein Bein gebrochen, das abgenommen werden mußte. Tante Maria bezahlte die Unkosten und das Holzbein. Doch auch dieses Holzbein hielt ihn keineswegs ab, die Gastwirtschaften der näheren und weiteren Umgebung aufzusuchen, bis eines Abends, als seine Frau die Unruhe vor einer neuen heranbrechenden Ausschweifungsperiode bemerkte, sie kurz entschlossen das abgeschnallte Holzbein hoch auf den Schrank gelegt hatte. Der Schneider hatte sich schlafend gestellt und nichts davon gemerkt. Er wollte seine Frau erst im Schlummer wissen und dann den Ausflug unternehmen. Und als er sie im Schlummer wähnte, griff er nach seinem Bein. Und als er es schließlich auf dem Schranke sah, wo er es auf einem Bein nie erreichen konnte, kam eine gefährliche Lebensverzweiflung über ihn. Er griff sich einen Riemen und kroch auf den Händen hinaus. Erst nach einer Weile schlich die Frau ihm nach. Und sie fand ihn erhängt am untersten Ast des Ahorns. Sie schnitt ihn ab, erweckte ihn und gab ihm sein Bein wieder. Die Scham, die damals über ihn gekommen war, machte ihn zum geraden, vernünftigen Manne, dem Tante Maria dann die Verwaltung der Poststelle verschaffte . . .
Jula nahm einige Sendungen für die »Pflanzung Wassermühle« entgegen und stand dann ein Weilchen neben der Brücke und sah hinaus auf die Steinstraße. Sie war neugierig auf diesen Vetter Jutt, von dem die Tante immer nur sehr sparsam gesprochen hatte. Ihr Köpfchen malte ihn sich in allen möglichen Vorstellungen und Eigenschaften aus. Und schließlich bekam ihr Wunschbild festere Umrisse; zugleich aber überzog sie eine unangenehme Furcht, dieser Vetter könne ganz anders und unausstehlich aussehen.
Wenn sie an ihr Wunschbild dachte, ersehnte sie heftig die Ankunft des jungen Mannes, der ihr Hilfe für die Pflanzung sein sollte. Doch so sie daran dachte, daß wohl nur sehr selten auf der Erde etwas so aussieht, wie man es sich vorstellt, flüchtete sie in den äußersten Winkel des Hauses oder lief hinab zur Kapelle, wo sie ein Gebet verrichtete. Und auch jetzt sprang sie in das Wäglein und fuhr in scharfem Trab über das holperige Pflaster davon, als säße ihr der greuliche Vetter Jutt schon im Rücken. Aber an der Friedhofspforte hielt sie doch an, sah noch einmal vorsichtig rückwärts und ging dann zu der Tante Grab. Ganz leise, leise für sich und nur für die Verstorbenen ringsher, die sie ohnedies im Geiste hörten, sang sie der Tante Lieblingslied:
»Liebe, die du mich zum Bilde
deiner Gottheit hast gemacht;
Liebe, die du mich so milde
nach dem Fall hast wiederbracht:
Liebe, dir ergeb ich mich,
dein zu bleiben ewiglich.«
Aber da – jetzt – es war erschütternd – eben wie sie den zweiten Vers beginnen wollte – in dem nämlichen Augenblicke – begann in der Kirche die Orgel zu erklingen, und leise, wie mit nur einer Hand gespielt, ertönte dasselbe Lied, das Jula eben für sich und die Heimgegangene gesungen hatte. Freilich, der Herr Kantor hielt da Unterricht ab, wie sie an ein paar verspäteten Schülern feststellte. Aber doch glaubte das Mädchen, daß Tante Maria dieses Zusammentreffen zustande gebracht hatte.
Und Jula sang weiter, leichteren Gemüts, indessen sich ihre Augen mit Tränen der Seligkeit füllten:
»Liebe, die mich hat gebunden
an ihr Joch mit Leib und Sinn;
Liebe, die mich überwunden
und mein Herze hat dahin;
Liebe, die mich ewig liebet,
die für meine Seele bitt't;
Liebe, die das Lösgeld gibet
und mich kräftiglich vertritt;
Liebe, die mich wird erwecken
aus dem Grab der Sterblichkeit;
Liebe, die mich wird umstecken
mit dem Laub der Herrlichkeit:
Liebe, dir ergeb ich mich,
dein zu bleiben ewiglich.«
Befreit und stark verließ Jula das Grabfeld. Erquickt vom Trank der ewigen Liebe, bekleidet mit dem Panzer des Glaubens und gedeckt vom Schilde der Wahrheit. Und so lenkte sie das Rößlein heimwärts.
Aber ihr fiel es ein, heute nicht den üblichen Weg durch das Dorf zu fahren, sondern den anderen weiteren Weg, den zur Zeit der Aust nur die Heuwagen benutzen. Er war weniger staubig und besser instand gehalten, wenn er auch an der Stelle, wo er den Fluß schnitt, keine Brücke hatte, so daß hier die Fuhrwerke, da die Ufer hochgelegen waren, einen sanften Hohlweg hinab, ein ganzes Stück das flache Strombett entlang und dann wieder einen kurzen Hohlweg hinauffahren mußten. Die Pferde blieben immer ein Weilchen in dem reißenden Wasser stehen, kühlten Beine und Nüstern und zogen dann wieder munterer an.
Jula lächelte verschmitzt, als sie vor sich auf dem Wege einen Wanderer sah, der vermutlich ahnungslos der Furt entgegeneilte. Sie fuhr ganz langsam, um zu sehen, wie der Fremde die feuchte Bescherung auffassen werde. Der aber schien zum Erstaunen, Kopfschütteln, Umherirren und Auswegsuchen nicht geschaffen zu sein, sondern stellte mit einem halben Blick die Tatsache fest, warf sein Bündel vom Rücken, setzte sich nieder und ging sofort daran sich des Schuhwerks zu entledigen. Jula fuhr gerade vorbei, ganz dicht. Doch der Mann hob nicht einmal den Kopf. Vielleicht war er taub. Man mußte ihn wohl anrufen.
»Steigen Sie doch lieber in den Wagen,« sagte sie ziemlich laut.
Jetzt hob der junge Mann, denn ein solcher war es, allerdings sehr verwundert das Gesicht.
»Aber natürlich!« rief er, warf seine Habe in den Kasten und stieg zum Sitz hinauf.
»Guten Tag!« grüßte er still.
»Vor zehn Jahren, wenn man durch das ganze Land ging, brauchte man seine Füße wenig. Immer traf man einen Bauern, der einzusteigen nötigte. Doch seit Jahren ist mir das nicht mehr passiert. Deshalb sehe ich ein Fuhrwerk niemals an, wenn es vorbeifährt. Den Landleuten ist ihre eigene Unfreundlichkeit peinlich. Und ich enthebe sie dann lieber der Peinlichkeit, an der ich – hm! na! – ja eigentlich schuld bin.«
Der Wanderer schwieg ein Weilchen.
»Das muß ein furchtbar alter Weg sein,« sagte er dann. »Da – unter dem Geröll der Kiesel ist – spaßig! – das Wasser gepflastert!« Er lachte leis.
»Das wußte ich noch nicht,« entfuhr es Jula. Und sie bückte sich hinaus und fand tatsächlich an der einen Stelle, die der rasche Fluß freigelegt, ein Pflaster von schweren Quadern.
»Das ist immer so,« gab der Fremde zur Antwort. »Die Eingeborenen wissen nichts von den Lebenswerten ihrer Landschaft oder wissen es doch nicht zu schätzen. Sie haben für den Reiz ihrer Felder und Häuser einen Blick wie die Kuh für den grünen Klee.«
Donnerwetter,