Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar Wallace
Bettler war ein Mann von mittlerer Größe und hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge. Sein Kopf war durch einen großen Verband entstellt, der auch das eine Auge bedeckte. Seine Füße waren unförmige Klumpen, mit vielen Bandagen umwickelt. In seinen schmutzigen Händen hielt er einen Stock.
»Señor«, wimmerte er, »ein paar Céntimos können mich von den schrecklichen Hungerqualen befreien. Sie werden diese Nacht keinen Schlaf finden, wenn Sie an den armen, kranken Greis denken, der sich hungrig auf seinem Lager wälzt.«
»Geh in Frieden«, sagte der vornehme Herr geduldig.
»O Erhabener«, seufzte der Bettler wieder, »bei dem Knäblein, das auf dem Schoß der Mutter ruhte« – bei diesen Worten bekreuzigte er sich –, »bei allen Heiligen und dem wundertätigen Blut der Märtyrer, ich flehe Sie an, lassen Sie mich nicht am Wege verhungern, wenn ein paar Céntimos, die Ihnen nicht soviel bedeuten wie der Rand unter dem Fingernagel, mir den Magen mit Essen füllen könnten.«
Der Herr an dem Marmortisch ließ sich nicht erschüttern; ruhig trank er seinen Kaffee aus.
»Geh mit Gott«, sagte er nur.
Aber der Alte zögerte immer noch. Hilflos sah er die Straße auf und ab, dann blickte er in den dunklen, kühlen Raum des Cafés. Am anderen Ende saß ein Kellner nachlässig an einem Tisch und las den ›Heroldo‹.
Der Bettler beugte sich vor und streckte langsam die Hand aus, um einige Kuchenkrümel vom nächsten Tisch aufzulesen.
»Kennst du Doktor Essley?« fragte er plötzlich in perfektem Englisch.
Der andere schaute nachdenklich auf.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Warum?« entgegnete er in der gleichen Sprache.
»Du solltest seine Bekanntschaft machen, er ist interessant.«
Weiter sagte der Bettler nichts; er drehte sich um und schlurfte langsam davon.
Der vornehme Herr beobachtete neugierig, wie er sich dem nächsten Café zuwandte. Dann klatschte er laut in die Hände. Der Kellner, der inzwischen über seiner Zeitung eingenickt war, fuhr in die Höhe und nahm die Zahlung und das übliche Trinkgeld entgegen.
Obgleich sich der Himmel wolkenlos zeigte und die Sonne schien, war es in den blaugrauen Schatten der Straße noch empfindlich kalt in diesen ersten Vorfrühlingstagen.
Der Herr erhob sich vom Tisch, ergriff einen Zipfel seines faltigen Mantels und warf ihn sich leicht über die Schulter. Dann ging er langsam hinter dem Bettler her.
Sein Weg führte ihn durch winklige Straßen, die so eng waren, daß die Wagennaben tiefe Rinnen in die Mauern der Häuser gegraben hatten, wenn sich zwei Fuhrwerke begegnet waren.
In der Calle Paraíso holte er den alten Mann ein; er ging an ihm vorüber und bog in eine der Gassen ein, die zu der San-Fernando-Kirche führten. Gemächlich ging er dort hinunter; dann wandte er sich der Carrera del Puente zu und gelangte bald in den Schatten der Kathedrale, die ursprünglich als Moschee errichtet worden war.
Unentschlossen blieb er vor den offenen Toren zu den Höfen stehen; er schien im Zweifel zu sein, wohin er sich wenden sollte. Schließlich drehte er sich um und ging zur Calahorrabrücke hinunter, die den Fluß mit ihren sechzehn Bogen schnurgerade überspannte. Sie stammte noch aus der Zeit der Mauren und war von diesen erbaut. Als er die Mitte der Brücke erreicht hatte, lehnte er sich über das Geländer und schaute lässig auf die angeschwollenen gelben Fluten des Guadalquivir hinab.
Heimlich aber beobachtete er, wie der Bettler auf ihn zuhumpelte. Es dauerte sehr lange, denn der Alte kam nur langsam von der Stelle. Endlich stand er an seiner Seite und hielt ihm die Hand entgegen. Seine Haltung war die eines gewöhnlichen Bettlers, aber seine Sprache die eines gebildeten Engländers.
»Manfred«, sagte er ernst, »du mußt diesen Essley sehen. Ich bitte dich aus einem ganz bestimmten Grund darum.«
»Wer ist denn das?« Der Bettler lächelte.
»Ich muß mich zum größten Teil auf mein Gedächtnis verlassen. Die Bibliothek in meiner armseligen Wohnung ist etwas beschränkt. Aber ich habe die dunkle Erinnerung, daß er Arzt in einer Vorstadt Londons ist. Scheint ein kluger Kopf zu sein.«
»Und was macht er hier?«
Gonsalez, der sich hinter der Maske dieses unscheinbaren Bettlers verbarg, lächelte wieder.
»Hier in Cordova lebt ein Doktor Cajalos. In die vornehme Umgebung des Paseo del Gran Capitán, wo du deine luxuriöse Wohnung hast, dringt natürlich kein Gerücht aus der Unterwelt von Cordova. Hier«, – er zeigte auf die baufälligen Dächer und die schmutzigen, schiefen Häuser am anderen Ende der Brücke – »im Campo de la Verdad, wo die Leute mit zehn Peseten die Woche zufrieden leben können, kennt man den Doktor Cajalos. Er wird in allen Häusern und Familien verehrt – ein bewunderungswürdiger Mensch, der mit seiner Kunst Wunder vollbringt. Er macht die Blinden sehend, entlarvt durch seine Macht die Schuldigen, bereitet unfehlbare Liebestränke, bespricht Warzen und Geschwüre.«
»Selbst in der Gegend des Paseo del Gran Capitán wird er geachtet.« Manfred zwinkerte mit den Augen. »Ich habe ihn selbst aufgesucht und um Rat gefragt.«
Der Bettler war ein wenig erstaunt.
»Du bist tüchtiger, als ich dachte«, sagte er bewundernd. »Wann warst du bei ihm?«
Manfred lachte leise.
»Vor einigen Wochen stand in einer bestimmten Nacht ein Bettler vor der Haustür des Arztes auf der Straße und wartete geduldig auf das Wiedererscheinen eines geheimnisvollen Besuchers, der sich bis zur Nasenspitze in seinen Mantel eingehüllt hatte.«
»Ja, ich kann mich besinnen.« Gonsalez nickte. »Es war ein Fremder aus Ronda, und ich war neugierig. Hast du beobachtet, daß ich ihm folgte?«
»Ich sah dich von der Seite«, entgegnete Manfred ernst.
»Warst denn du der Fremde?« fragte Gonsalez, aufs höchste überrascht.
»Ja. Ich verließ damals Cordova, um nach Cordova zurückzukommen.«
Gonsalez schwieg einen Augenblick.
»Ich gebe mich geschlagen«, sagte er dann. »Du kennst also Doktor Cajalos. Begreifst du nun, warum ein gewöhnlicher englischer Arzt nach Cordova kommt? Essley ist auf dem schnellsten Wege und ohne Aufenthalt mit dem Algeciras-Expreß gereist. Morgen früh bei Tagesanbruch wird er Cordova auf dieselbe eilige Weise wieder verlassen. Er ist hierhergekommen, um Doktor Cajalos zu konsultieren.«
»Poiccart ist hier; er interessiert sich auch für diesen Essley – und zwar so sehr, daß er sich, den Reiseführer in der Hand, friedlich von Fremdenführern umherführen läßt, die ihm ja doch nur ungenaue Auskunft geben können.«
Manfred strich seinen kleinen Bart, und seine klugen Augen hatten wieder denselben ernsten, nachdenklichen Ausdruck wie vorher, als er Gonsalez von seinem Platz im ›Café del Gran Capitán‹ aus nachgesehen hatte.
»Ohne Poiccart würde das Leben langweilig sein«, sagte er.
»Ja, da hast du recht – o Señor, mein ganzes Leben soll Ihrem Lobe geweiht sein, und meine Gebete für Sie sollen wie Weihrauchwolken zum Throne des Allmächtigen emporsteigen.«
Er verfiel plötzlich wieder in seinen jammernden Tonfall, denn ein Polizist der Guardia Municipal näherte sich ihnen und warf einen mißtrauischen Blick auf den Bettler, der mit ausgestreckter Hand erwartungsvoll dastand.
Manfred schüttelte den Kopf, als der Polizist herankam.
»Geh in Frieden.«
»Du Hund«, rief der Polizist und packte den Bettler mit rauher Hand an der Schulter, »du Sohn eines Diebes, mach, daß du fortkommst, damit deine übelriechende Gegenwart nicht die Nase dieses hohen Herrn beleidigt!«
Er stemmte die Arme in die Seite und sah dem davonhinkenden Krüppel nach,