Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
Wie sie alle mit mir trauerten. Wer am allerverzweifeltsten war, am herzbrechendsten, das ahnst du nicht, Harro: Charlotte... Sie hat nichts gegessen die Tage, sie liegt nur auf ihrem Gesicht und weint. Sie warf sich heute vor mir auf den Boden. Reden konnte sie nicht vor Schluchzen.«
»Es wundert mich doch nicht, Vater, daß sie um die Rose trauert. Irgendwie muß die Rose doch endlich ihr Herz gewonnen haben. Ich sah sie noch zuletzt zusammen... Wir müssen für sie tun, was wir können, Vater, die Rose sah mich über ihren armen, jammervollen Kopf hinweg so gebietend an, wir müssen ihr da auch den Willen tun, Vater.« Harro lächelte ein wenig. »Sie ist eine Tyrannin, die Rose, und wir fahren doch am besten, wenn wir uns nicht so sehr gegen sie sträuben.«
Wie wohl dem Vater die Worte tun, wie wohl. Und er erhebt sich und setzt sich neben Harro auf den alten Diwan... »Harro, laß mich dir danken. Laß mich dir noch einmal danken. Sieh, wie das Seelchen lächelt. Das Lächeln hast du sie gelehrt. Es geht auf dich, der du vor ihr saßest und sie maltest... Es lag noch auf ihrem Antlitz, als sie auf dem Lindenstamm lag unter den gelben Blättern. Ihre Linde, als wollte die sie einhüllen... Sie glaubte ja an die Seele ihrer Linde... Harro, wenn die alte Linde im Frühjahr nicht wieder grünt, so wird es mich nicht wundern... Und dann hab ich dir noch etwas zu sagen, Harro. Die Rose hat ein Testament gemacht. In der größten Heimlichkeit. Alfred und der Herr Rat haben ihr dabei geholfen.«
Harro lächelte wieder ein wenig. Er kann sich das Testament der Rose denken... »Und hat alles mir vermacht, Vater.«
»Nicht alles, eine ziemlich große Summe hat sie ausgenommen. Sie muß sich eine schreckliche Mühe mit Rechnen gegeben haben: du weißt, sie konnte ja so schlecht rechnen. Dann hat sie gewünscht, – Hans Friedrich sagte mir das – du solltest den Winter nach Rom gehen, und er solle dich begleiten. Er hätte schon eine Wohnung für dich durch einen Freund mieten müssen.«
Harro fuhr auf. »Ich will nicht fort. Ich kann nicht. Ich muß hier bleiben, da in den alten Mauern, die Thorsteiner lieben doch ihre Heimat so sehr, ich muß... und dann... Sei nicht so tyrannisch, Rose.«
»Lieber Harro, höre sie einmal an. Ich kann dich verstehen, ich kann dich sehr gut verstehen. Ich glaube, es hängt mit ihrem Testament zusammen. Sie wünscht, du mögest ihr ein Grabmal bauen. Sie gibt Anweisungen, wie sie es sich denkt... Sie spricht von pentelischem Marmor. Ich habe keine Ahnung, was das wohl sein kann.«
Harro starrt vor sich hin, seine Augen weiten sich, auf seinen eingefallenen Wangen brennen zwei rote Flecken... dann spricht er hastig... »Aber ja, Vater, sie kann ja nicht da unten bleiben... unmöglich kann sie das. Sie muß den Wald rauschen hören. Vater, du gibst mir den Part von Lindenborn dazu; deine Hirsche, können die nicht wo anders sein ... o dann, wir machen es ... daß sie nicht stören. Die alten herrlichen Eichen und Tannen, die Allee von hundertjährigen Linden, die darauf zuführt... Die Wasserfläche, wir graben sie aus, wir leiten Quellen herein... Nun mögen die Hirsche da außen wandeln. Wir pflanzen Rosen um die Insel. Die weiße offene Halle spiegelt sich in dem Wasser. Ach, sie wollte ja nicht in dem Goldhaus wohnen, das ich für sie gebaut habe... Nun muß ich ihr doch wieder eine Stätte bereiten.«
Er reißt ein Blatt aus seinem alten Skizzenbuche, das immer in seiner Lodenjacke steckt. »Sieh, Vater, so...« er kritzelt mit dem Bleistift eilige Striche... »Sieh die Halle. Ich werde mich daran halten müssen. Ich muß wieder anfangen, ganz von vorne... Eine Riesenarbeit, Vater. Ich muß doch das meiste mit meinen eigenen Händen machen. Jetzt mögen sie ja rauh und eisern werden, ich habe über kein Goldhaar und keine rosenzarte Haut mehr zu streichen. Ich gehe morgen nach Rom. Das Kind laß ich dir, Vater. Ich kann dir nicht alles nehmen. Wenn du es vermagst und ich mich eingerichtet habe, so schickst du es mir vielleicht... In der offenen Halle das Bildwerk. Aus pentelischem Marmor. Wenn die Rose auch ein paar Rechenfehler gemacht hat, ich mache es wie ihr guter Herr Kantor und sorge schon, daß es stimmt. Das Bildwerk... Vater. Es benimmt mir schier den Atem... Ich will mich an das Allergrößte wagen. Ich nehme die Form, die die Alten, die mehr von frommen Dingen wußten als ich, geliebt haben. Sie müssen ja gewußt haben, wie tröstlich es ist. Und ich wage mich an das Allerhöchste. Woher ich die Kühnheit nehme, weih ich nicht... doch ich weiß es vielleicht... Jesus am Kreuz!... Er schaut herab auf den Mann und das Weib: Du sollst deine Rose wiedersehen, ich vergesse sie nicht... Wie sie auf dem Lindenstamm lag unter den goldenen Blättern. Das geheimnisvolle Lächeln, die selige Rose... Auch von ihr ist alles Zufällige abgestreift. Sie war ja schon wie zarter Marmor. Ich trage sie in meinen Armen. Zu ihm sehe ich auf. Nur wenn ich zu ihm aufsehe, kann ich das Opfer bringen. Meine Rose, meine geliebte Rose.« Er legte seinen Kopf auf die Schulter des Vaters und schluchzte laut auf... »O meine Rose... Mein blauer Himmel...«
Dann hob er den Kopf: »Vater,« sagte er fast kindlich. »Ich mache gar nicht den wilden Thorsteiner, den Harro, wie er sich hier so ungeduldig gebärdet. Ich nehme den über und über vergoldeten Harro, wie ihn die Rose in ihrer Seele trug. Den Gedanken Gottes in mir. Sonst wäre er ja nicht wert, die Rose zu tragen. Ich suche nach dem Bild... Du darfst mich nicht loben, Vater, daß ich gut gegen sie gewesen bin... aber mochte ich sein wie ich wollte, die Rose malte weiter an ihrem Bild.«
»Harro, mein Sohn,« schluchzte der Fürst. »Wie dank ich Gott dafür, daß ich dich noch habe. Ich komme auch nach Rom mit dem Kind ... Ich störe dich nicht... Wie hab' ich mich gefürchtet vor deinem wilden Schmerz. Und nun all die Tage, heute in der Kirche, Harro. Ich sah dich an, du hast uns hinübergetragen ... Wie hast du's gekonnt?«
Er hob sein Haupt, und seine herrlichen Augen hingen an dem Bilde des Seelchens. »Vater,« flüsterte er, »die Rose hatte Geheimnisse. Hörtest du nicht, wie ihr Lehrer sagte... Vielleicht war sie noch schöner, als wir wissen. Ihr Vermächtnis... Es war ihr letztes Wort... Ich verstand es nur nicht... ihr ganzes Leben ist darunter gegangen, unter dem Schleier der Gisela.«
Ende
Der kleine Lord
(Frances Hodgson Burnett)
Erstes Kapitel. Eine große Ueberraschung
Zweites Kapitel. Cedriks Freunde
Drittes Kapitel. Abschied von der Heimat
Sechstes Kapitel. Der Graf und sein Erbe
Siebentes Kapitel. In der Kirche
Neuntes Kapitel. Schwere Sorgen
Zehntes Kapitel. Amerika in Aengsten
Elftes Kapitel. Die Nebenbuhler
Zwölftes Kapitel. Der Retter in der Not
Dreizehntes Kapitel. Unliebsame Ueberraschungen
Vierzehntes Kapitel. Der achte Geburtstag