Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри


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gelernt hatte, daß Erleboro nicht mit Unrecht für das ärmste und am meisten vernachlässigte Dorf des ganzen Landesteiles galt. Vieles sah sie mit eignen Augen, vieles erfuhr sie durch Mr. Mordaunt, der ihr gern sein Herz ausschüttete und ihres Anteils froh ward. Die Intendanten, die alles zu verwalten hatten, suchten nur jeglichen Konflikt mit dem Grafen zu vermeiden, und so wurde von Tag zu Tage alles schlimmer, Grafenhof war aber in der That ein Fieberherd, und der Zustand der Häuser sprach laut genug von der Gleichgültigkeit des Gutsherrn gegen seine Leute. Als Mrs. Errol den Ort zum erstenmal betrat, erfaßte sie ein Schauder, und als sie die bleichen, verwahrlosten, zwischen Laster und Schmutz aufwachsenden Kinder sah und ihres Jungen gedachte, der nun in fürstlicher Pracht seine goldne Kindheit verlebte, stieg ein kühner Gedanke in diesem weisen kleinen Mutterherzen auf.

      »Der Graf gewährt meinem Kinde jede Bitte,« hatte sie zu Mr. Mordaunt gesagt. »Er befriedigt jeden kleinsten Wunsch. Weshalb soll diese Güte oder Schwäche nicht auch andern zu gute kommen?«

      Sie kannte das reine, warme Kinderherz durch und durch, und so erzählte sie ihm von dem entsetzlichen Stande der Dinge im Grafenhof, sicher, daß er mit dem Großvater davon sprechen werde, und hoffend, daß dies gute Früchte tragen möchte.

      Und dem war so. Was auf den alten Herrn den stärksten, unwiderstehlichsten Einfluß übte, war seines Enkels felsenfestes, unerschütterliches Vertrauen in seine Großmut und Güte. Er konnte es nicht übers Herz bringen, den Jungen darüber aufzuklären, daß Selbstsucht und Eigenwillen die Grundzüge seines Handelns und Lebens gewesen waren. Als ein Wohlthäter der Menschheit und als Inbegriff aller ritterlichen Tugenden angesehen zu werden, war etwas entschieden Neues, und der Gedanke, diesen liebevollen braunen Augen gegenüber auszusprechen: »Es ist mir ganz einerlei, ob das Gesindel zu Grunde geht oder nicht«, schien ihm vollkommen unausführbar. Schon hatte er den kleinen Blondkopf so lieb gewonnen, daß er sich, um dessen Illusionen zu schonen, lieber auf einer guten That ertappen ließ, wobei er sich freilich selbst sehr lächerlich vorkam. Newick wurde zur Audienz befohlen und nach längerer Beratung der Beschluß gefaßt, daß die elenden Bretterbuden eingerissen und an ihrer Stelle menschliche Wohnungen errichtet werden sollten.

      »Lord Fauntleroy dringt darauf,« bemerkte er trocken, »er sieht darin eine Verbesserung des Besitztums. Sie können es die Leute wissen lassen, daß der Gedanke von ihm ausgeht.«

      Natürlich verbreitete sich die Kunde von dieser geplanten Verbesserung mit Windeseile. Erst begegnete dieselbe mannigfachem Unglauben, als aber eine Schar fremder Arbeiter eintraf und die baufälligen Hütten einzureißen begann, ward es den Leuten klar, daß dieser kleine Lord wieder Großes für sie gewirkt hatte, und sein Lob wurde in allen Tonarten gesungen und die kühnsten Prophezeiungen für seine Zukunft ausgesprochen. Von dem allem ahnte er nichts. Er lebte sein glückliches Kinderdasein, rannte jauchzend im Park umher, hegte die Kaninchen in ihrem Bau, lag im Grase unter den großen Bäumen oder auf dem Teppiche vor dem Kamine und las wundervolle Geschichtenbücher, deren Inhalt er dann erst dem Grafen und später seiner Mutter wiedererzählte; auch lange Briefe an Dick und Mr. Hobbs wurden abgesandt und von drüben beantwortet.

      Als der Neubau der kleinen Häuser begonnen hatte, ritt er häufig mit dem Großvater nach Grafenhof hinüber und nahm lebhaften Anteil an der Arbeit. Er stieg dann womöglich ab und machte die Bekanntschaft der Arbeiter, wobei er über allerlei Handwerksgeheimnisse Aufschluß erhielt und ihnen von Amerika erzählte. Wenn die Herrschaft dann den Bauplatz verlassen hatte, war der kleine Lord mit seinen harmlosen, hier und da komischen Redensarten noch lange das Gesprächsthema. »Das ist ein Rarer,« hieß es, »und gescheit ist er und so gemein mit unsereinem.« Natürlich wurde alles, was Fauntleroy gesprochen hatte, weiter erzählt, und so kam jeder in Besitz einer ganzen Sammlung von Anekdoten über den kleinen Lord, und nach und nach wußte man weit und breit, daß der »wilde Graf« zu guter Letzt noch etwas gefunden hatte, was seinem harten, verbitterten Herzen lieb war.

      Wie lieb, das wußte freilich niemand, denn er äußerte sich gegen keinen Menschen über seine Empfindung für Cedrik, und wenn er je von ihm sprach, geschah es mit einem halb ironischen Lächeln. Fauntleroy aber fühlte es wohl, daß er dem Großvater lieb war und daß dieser ihn gern um sich hatte, ob's nun in seinem behaglichen Bibliothekzimmer war, wenn er im Lehnstuhle saß, oder bei Tische oder draußen beim Reiten und Fahren und dem Abendspaziergange auf der Terrasse.

      »Weißt du noch,« begann Cedrik, der mit einem Buche vor dem Kamine lag, einmal plötzlich, »weißt du noch, was ich am ersten Abende hier zu dir gesagt habe? Daß man in dem großen Hause gut zu einander passen müsse? Nun wir zwei passen zu einander, bessre Freunde kann's doch wohl nicht geben.«

      »Jawohl, wir vertragen uns leidlich,« erwiderte der Graf. »Komm 'mal her.«

      Fauntleroy krabbelte in die Höhe und kam.

      »Gibt es noch irgend etwas, was dir fehlt, was du gern haben möchtest?«

      Die großen braunen Augen hefteten sich plötzlich nachdenklich und ernsthaft auf den Großvater.

      »Nur eins,« erwiderte er bestimmt.

      »Und das ist?«

      Fauntleroy sammelte sich einen Augenblick, er hatte nicht umsonst so viel über die Sache nachgedacht.

      »Herzlieb,« sagte er dann halblaut.

      Der Graf zuckte ein wenig mit den Augenbrauen.

      »Du siehst sie ja fast jeden Tag,« sagte er, »genügt das nicht?«

      »Früher sah ich sie den ganzen Tag,« versetzte das Kind, »und wenn ich zu Bett gegangen bin, hat sie mich geküßt, und morgens war sie bei mir, wenn ich aufgewacht bin, und wenn wir uns etwas sagen wollten, konnten wir's gleich thun und brauchten nicht zu warten.«

      »Vergißt du denn deine Mutter nie?« fragte der alte Mann, ihm tief in die Augen blickend.

      »Nein, nie! Und sie vergißt mich auch nicht. Ich würde dich auch nie vergessen, wenn ich nicht bei dir wäre, und würde immer an dich denken.«

      »Wahrhaftig, du wärst's im stande?« sagte der Graf nach einer Pause.

      Die Eifersucht, die ihn befiel, wenn der Knabe von seiner Mutter sprach, steigerte sich mit der Liebe zu demselben.

      Bald aber kamen ernstere Sorgen, die ihn diese kleine Bitterkeit vergessen ließen, ja, die ihn vergessen ließen, daß er seines Sohnes Frau so gehaßt hatte. Kurz bevor der Neubau in Grafenhof beendigt war, wurde in Dorincourt ein großes Diner gegeben – es war lange her, daß sich etwas derartiges im Schlosse ereignet hatte. Einige Tage vorher schon trafen Sir Harry Lorridaile und Lady Lorridaile, des Grafen einzige Schwester, ein und auch dies war ein höchst befremdliches Ereignis, infolgedessen Mrs. Dibbles Ladenglocke wieder harte Arbeit bekam, denn das war ja allgemein bekannt, daß Lady Lorridaile seit ihrer Hochzeit vor fünfunddreißig Jahren das Schloß nicht mehr betreten hatte. Sie war jetzt eine alte hübsche Dame mit weißen Locken und Grübchen in den runden Wangen und einem Herzen wie Gold; sie hatte aber des Bruders Leben und Treiben so wenig gebilligt, als irgend jemand, und da sie nicht schüchterner Natur war und gerade heraus zu reden pflegte, hatte sie ihm dies keineswegs verheimlicht, und das Ergebnis solcher Offenheit war gewesen, daß sie einander aus dem Wege gingen.

      Gehört hatte sie mehr von ihm, als ihr lieb war, in dieser Zeit der Trennung; man hatte ihr erzählt, wie er seine Frau vernachlässigte und wie gleichgültig er gegen seine Kinder war; auch von den zwei älteren, schwächlichen, verkommenen, unbegabten Söhnen hatte sie mehr als genug erfahren. Gesehen hatte sie keinen von beiden im Leben, aber eines schönen Tages hatte sich in Lorridaile Park ein hübscher, schlanker junger Mensch von etwa achtzehn Jahren eingefunden und hatte sich ihr als ihr Neffe Cedrik Errol vorgestellt, der, da ihn sein Weg in diese Gegend geführt habe, nicht versäumen wolle, die Tante Constantia zu besuchen, von der ihm seine längst verstorbene Mutter viel erzählt. Der guten Dame war dabei das Herz aufgegangen, und sie hatte den Neffen eine ganze Woche festgehalten und verhätschelt und über die Maßen bewundert und hatte ihn schließlich abreisen sehen in der bestimmten Hoffnung, den frohgemuten, warmherzigen, munteren Gesellen oft und viel wieder bei sich zu sehen. Das war aber nicht geschehen, denn er fand bei seiner Heimkehr den Vater in sehr ungnädiger


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