Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
sich die Scene von der Höhe an.
Ein ungewöhnlich großes Weib aus der Wüste mit goldgelber Haut und scharlachroten Lippen riß ihr Tuch vom Gesicht, faßte Käte am Handgelenk und machte Miene, sie unter lautem, heftigem Geschrei in einer unverständlichen Sprache mit Gewalt wegzuzerren. Angst und Verzweiflung sprachen indes so verständlich aus ihren Augen, daß Käte widerstandslos folgte. Die Menge teilte sich, und sie gewahrte nun seitwärts von den Stufen ein auf den Knieen liegendes Kamel und auf seinem Rücken einen zum Skelett abgemagerten Mann, der vor sich hinsprach und zwecklos an dem mit Nägeln beschlagenen Sattel zerrte und riß. Die Frau richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und warf sich dann ohne ein Wort zu Boden, Kätes Knie leidenschaftlich umklammernd. Mit zuckenden Lippen beugte sich Käte nieder, um die Unglückliche aufzurichten, der Doktor aber rief ihr über die Köpfe der Umstehenden weg mit vergnügter Stimme zu: »Hat nichts zu sagen! Hat unheilbaren Wahnsinn, ihr Mann. Bringt ihn immer her!«
»Ja und geschieht denn nichts für ihn?« rief Käte, sich empört umwendend.
»Was kann denn geschehen? Will ihn ja nicht dalassen zur Behandlung, sonst würde ich ihm Zugpflaster setzen!«
»Zugpflaster!« wiederholte Käte entsetzt, indem sie die beiden Hände der Frau ergriff und sie fest in den ihrigen hielt. »Sagen Sie ihr, daß der Mann hier bleiben muß,« befahl sie dem nähergetretenen Doktor.
Er übertrug den Bescheid in die Mundart der Leute. Das Weib atmete tief auf und starrte mit hochgezogenen Brauen in Kätes Gesicht wohl eine halbe Minute lang. Dann führte sie Kätes Hand an die Stirn des Mannes, verhüllte ihr Gesicht und setzte sich in den Staub der Landstraße.
Ganz benommen von solchen Aeußerungen der fremden Volksseele sah Käte die Frau an, dann wallte das Mitleid, das keinen Unterschied der Rassen kennt, heiß in ihr auf und sie beugte sich über die hockende Gestalt und küßte die Stirn der Verzweifelten.
»Man trage den Mann hinauf,« befahl sie mit einer sprechenden Gebärde, und der Kranke wurde sofort aufgehoben, die Stufen hinauf und in das Spital getragen, wobei das Weib hinterdreinschlich wie ein treuer Hund. Einmal wandte sie sich um und sagte ein paar Worte zu den andern, die darüber teils zu weinen, teils zu lachen anfingen.
»Sie sagt,« übersetzte der Doktor mit Schmunzeln, »wer Ihnen ein Haar krümme, den wolle sie totschlagen, und Ihrem Sohn wolle sie die Brust reichen!«
Käte trat zu Frau Estes, die jetzt weiterritt, um höher oben in der Stadt eine Besorgung zu machen, dann folgte sie dem Doktor die Stufen hinauf.
»Sie wollen also unser Spital besichtigen?« fragte er. »Lassen mich erst vorstellen. Ich bin Lalla Dhunpat Raj, approbierter Arzt, studiert im Duff College. Erster Eingeborener meiner Provinz, der Examen gemacht hat. Vor zwanzig Jahren war es.«
Käte sah ihn verwundert an.
»Und wo waren Sie seither?« fragte sie.
»Eine Zeit in meines Vaters Haus, dann Gehilfe in Apotheke in Britisch-Indien, dann haben Hoheit mir gnädigst Stellung verliehen, die jetzt habe.«
Käte zog die Augbrauen in die Höhe: das war also ihr Kollege und sein Lebenslauf! Schweigend traten sie nebeneinander in das Gebäude: Käte hielt ihr Reitkleid auf, um dem massenhaft angesammelten Schmutz des Fußbodens zu entgehen.
In dem mit Unrat erfüllten Mittelhof des Gebäudes standen sechs elende, von Stricken und Bindfäden zusammengehaltene Pritschen von zweifelhafter Sauberkeit und in jeder davon lag ein Mann in weißem Hemd stöhnend, sich herumwerfend und schwatzend. Von der andern Seite kam eine Frau, die eine ranzig riechende süße Speise brachte und vergeblich versuchte, einen von den Männern zum Genuß dieser leckern Schüssel zu bewegen. Im blendenden Sonnenlicht, das durch die kreisrunde Oeffnung der unbedachten Kuppel fiel, stand ein junger, beinah ganz nackter Mann, der die Hände am Hinterkopf verschränkt hielt und unmittelbar in die Sonne starrte. Jetzt stimmte er einen Gesang an, brach aber gleich wieder ab und lief von Bett zu Bett, jedem Kranken für Käte unverständliche Worte zurufend. Dann stellte er sich wieder auf seinen Posten in den Sonnenkreis und fuhr in seinem Gesang fort.
»Auch unheilbar Wahnsinn,« erklärte der Doktor seiner Begleiterin. »Viele Zugpflaster gesetzt, stark geschröpft, will gar nicht mehr fort von hier. Ist ganz harmlos, außer wenn sein Opium nicht bekommt!«
»Sie werden doch Ihren Kranken nicht gestatten, Opium zu essen?« rief Käte.
»Natürlich gestatten ich! Würden sonst sterben, wie die Fliegen. Alle Leute in Radschputana Opiumesser von klein auf.«
»Und Sie selbst?« fragte Käte entsetzt.
»Früher nicht gethan, nicht eh’ ich hier kam, aber jetzt…« Er zog eine vom langen Gebrauch abgeschliffene Zinndose aus der Tasche und entnahm ihr Kätes Schätzung nach eine ganze handvoll Opiumpillen. Die Verzweiflung umbrandete sie förmlich und schlug über ihr zusammen.
»Zeigen Sie mir die Frauenabteilung,« sagte sie mutlos.
»O, Frauen sind oben, unten, ringsum,« erwiderte der Doktor aufs Geratewohl.
»Und die Wöchnerinnen?« fragte sie.
»Wo es eben Platz gibt.«
»Wer besorgt die Entbindungen und wartet sie?«
»Mögen mich nicht leiden; kommt sehr geschickte Frau, Hebamme, von auswärts; kommt hierher.«
»Ist sie geschult, richtig ausgebildet?«
»Hat großen Ruf in ihrem Dorf, halten viel von ihr,« versetzte der Doktor. »Ist jetzt hier, wenn sehen wollen.«
»Wo ist sie?« fragte Käte.
Dhunpat Raj, der allmählich in eine etwas unbehagliche Stimmung geraten war, beeilte sich, seinen Gast eine enge, dunkle Treppe hinaufzuführen bis zu einer Thüre, aus der ihnen der Weheruf erwachenden Lebens entgegen drang. Käte riß die Thüre mit Ungestüm auf. Es war dies die richtige Abteilung für Wöchnerinnen, und die Wärterin bestreute eben die aus Thon und Kuhmist geformten Bilder zweier Gottheiten mit Ringelblumenknospen. Alle Fenster waren fest geschlossen, jede Mauerritze, durch die ein Luftzug hätte eindringen können, zugestopft, in einer Zimmerecke loderte das »Geburtsfeuer«, dessen Qualm und Rauch der eintretenden Käte entgegenschlug.
Was zwischen ihr und der in ihrem Dorf so hochgeschätzten klugen Frau vorfiel, hat niemand je erfahren. Die neue »Doktordame« blieb über eine halbe Stunde in dem Zimmer, die kluge Frau aber verließ es lange vor ihr, und zwar leise vor sich hinkichernd und mit zerzausten Haaren.
Nach der Bekanntschaft mit diesem Raum war Käte auf alles gefaßt, sogar auf die Beschaffenheit der Arzneimittel in der Apotheke, wo der Mörser niemals gereinigt und alle Arzneien anders gemacht wurden, als je ein Arzt sie aufschreiben würde; meist nahm man die doppelte Dosis. Mut-und hoffnungslos ließ sie sich von einem ungesäuberten, ungelüfteten, moderigen, dunkeln Zimmer zum andern führen. Die Kranken durften ihre Freunde zu jeder Zeit und in jeder Anzahl empfangen und alle Speisen und Getränke zu sich nehmen, die mißverstandene Güte ihnen anbot. Trat der Tod ein, so standen die Trauernden um die wackelige Bettstelle her und erhoben ein Klagegeheul, dann trug man den splitternackten Leichnam unter Jubelrufen der Geisteskranken zwischen allen Kranken über den Hof und in die Stadt hinein – was für Ansteckungsstoffe man ihr zutrug, das focht niemand an.
Auch während der Krankheit wurde an Absonderung ansteckender Fälle nicht gedacht. An den Augen operierte Kinder spielten leichtherzig mit ihren Besuchen zwischen den Betten der Diphtheritiskranken. Nur in einem Punkt war dieser Doktor stark, in diesem aber auch sehr; er behandelte nämlich mit großem Erfolg das offenbar sehr häufige Uebel, das er als »Lendenbiß« ins Tagebuch eintrug. Die Holzhauer und Hausierhändler, die genötigt waren, einsame Straßen des Staats Gokral Sitarun zu wandeln, wurden nicht selten von Tigern angefallen, und in diesen Fällen griff der Doktor, der ganzen englischen Pharmakopöe den Abschied gebend, auf uralte »lokale« Volksmittel zurück, die gerade in dieser Gegend in Ansehen standen, und wirkte damit Wunder. Nichtsdestoweniger war es nötig, ihm begreiflich zu machen, daß hinfort nur ein Wille im Staatsspital galt, und daß Fräulein