Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
»Kim.«
»Oder Kimball?«
»Vielleicht. Wollt Ihr mich nun fortlassen?«
»Wie sonst?«
»Sie nennen mich Kim Rishti Ke. Das heißt: Kim von den Rishti.«
»Was ist das – Rishti?«
»I – Rishti – das war das Regiment – meines Vaters Regiment –
»Irisch, oh, ich verstehe.«
»Ja–a! Das sagte mir mein Vater. Mein Vater, er hat gelebt.«
»Hat gelebt wo?«
»Hat gelebt. Ist nun tot – fort – weg.«
»Oh! Du bist kurz angebunden mit Deiner Antwort!« Bennett unterbrach ihn. »Möglich, daß ich dem Knaben Unrecht tat. Er ist ein Weißer, sicher, so augenscheinlich verwildert er auch ist. Ich muß ihn arg zertreten haben. Ich meine, – – ein Schluck Wein.«
»Geben Sie ihm ein Glas Sherry und lassen Sie ihn sich auf das Feldbett strecken. Nun, Kim,« fuhr Vater Victor fort, »niemand wird Dir etwas zu leide tun. Trink das aus und teile uns alles über Dich selbst mit. Aber die Wahrheit, wenn Du nichts dawider hast.«
Kim hustete ein wenig, als er das Glas niederstellte und überlegte. Hier galt es vorsichtig und erfinderisch sein. Kleine Jungen, die in einem Feldlager umher streifen, werden sonst, nach einer Züchtigung, hinaus geworfen. Er aber halte keine Schläge bekommen. Das Amulett wirkte offenbar zu seinen Gunsten, und es schien, daß das Horoskop von Umballa und die wenigen Worte, deren er sich aus seines Vaters Faseleien erinnerte, wunderbar dazu stimmten. Weshalb sonst hätte der dicke Pater sich so ereifert und der dünne ihm das Glas heißen gelben Weines gegeben?
»Mein Vater, er starb in Lahore-Stadt, als ich noch sehr klein war. Die Frau, sie hatte eine Kabarri-Bude, nahe dem Platz, wo die Mietwagen stehen.« Kim begann mit einem Wagnis, nicht ganz sicher, wie weit die Wahrheit ihm dienen könnte.
»Deine Mutter?«
»Nein« – mit einer Geberde des Abscheus – »Die ging weg, als ich geboren wurde. Mein Vater, er erhielt diese Papiere vom Jadoo-Gher (Zauberhaus) – wie nennt Ihr das? »Freimaurerloge –« (Bennett nickte) »denn er war in gutem Ansehen – wie nennt Ihr das?« (Bennett nickte wieder.) »Mein Vater sagte mir das. Er sagte auch und auch der Brahmane, der die Zeichnung im Staube zu Umballa machte, vor zwei Tagen, er sagte, daß ich einen Roten Stier auf grünem Felde finden würde und daß der Stier mir helfen würde.«
»Ein phänomenaler kleiner Lügner,« murmelte Bennett.
»Mächte der Dunkelheit drunten, welch ein Land!« murmelte Vater Victor. »Weiter, Kim.«
»Ich habe nicht gestohlen. Und dazu – jetzt bin ich der Schüler eines sehr heiligen Mannes. Er sitzt da draußen. Wir sahen zwei Männer mit Fahnen kommen, die machten den Platz bereit. Das ist immer so in einem Traum oder in bezug auf eine – eine – Prophezeiung. Da wußte ich, daß es wahr werden würde. Ich sah den Roten Stier auf dem grünen Feld, und mein Vater, er sagte: ›Neunhundert erstklassige große Pukka-Teufel und der Oberst zu Pferde werden für Dich sorgen, wenn Du den Roten Stier findest!‹ Wie ich den Roten Stier sah – ich wußte nicht, was ich machen sollte; ich ging fort und kam zurück, als es dunkel war. Ich wollte den Stier wieder sehen, und ich sah den Stier wieder und sah – wie die Sahibs zu ihm beteten. Ich denke, der Stier wird mir helfen. Der heilige Mann sagte das auch. Er sitzt draußen. Werdet Ihr ihm wehe tun, wenn ich ihm jetzt eine Nachricht schicke? Er ist sehr heilig. Er kann alles bezeugen, was ich sagte und er weiß, ich bin kein Dieb.«
»Offiziere, die einen Stier anbeten! Was in aller Welt soll man daraus machen?« rief Bennett. »Schüler eines heiligen Mannes! Ist der Junge verrückt?«
»Er ist O’Haras Junge, ganz sicher. O’Haras Sohn, verbündet mit allen Mächten der Finsternis. Er macht’s wie sein Vater, wenn er betrunken war. Wir täten gut, den heiligen Mann herzubitten. Er mag etwas wissen.«
»Er weiß nichts,« sagte Kim. »Ich will ihn Euch zeigen, wenn Ihr mit mir kommt. Er ist mein Meister. Dann können wir fortgehen.«
»Mächte der Dunkelheit!« war alles, was Vater Victor sagen konnte, als Bennett, die Hand fest auf Kims Schulter, mit diesem hinaus schritt.
Sie fanden den Lama, wo er sich niedergelegt hatte.
»Meine Suche ist beendet,« rief Kim in der Landessprache ihm zu. »Ich fand den Stier, aber Gott weiß, was nun folgen wird. Sie werden Dir nichts tun. Komm zu des fetten Priesters Zelt mit diesem dünnen Mann und sieh, wie es endet. Es ist alles neu und sie verstehen nicht Hindi. Sie sind nur ungestriegelte Esel.«
»Dann ist es nicht gut, ihrer Unwissenheit zu spotten,« erwiderte der Lama. »Es ist mir lieb, daß Du froh bist, Chela.«
Arglos und würdevoll schritt er in das kleine Zelt, begrüßte die Kirchen als Mann der Kirche und setzte sich neben der offenen Kohlenpfanne nieder. Das Lampenlicht, von der gelben Auskleidung des Zeltes zurückgeworfen, ließ sein Antlitz goldrot erscheinen.
Bennett blickte auf ihn mit der dreifach kalten Teilnahmlosigkeit jenes Bekenntnisses, das neun Zehntel der Welt als »Heiden« in einen Topf wirft.
»Und wie ist das Ende Deiner Suche?« wandte der Lama sich an Kim. »Welche Gabe brachte Dir der Rote Stier?«
»Er sagt: ›Was wirst Du tun?‹« Kim übernahm aus eigener Ermächtigung die Rolle des Dolmetsch. Bennett starrte Vater Victor voll Unbehagen an.
»Ich sehe nicht ein, was dieser Fakir mit dem Knaben zu tun hat,« begann er, »der entweder sein Narr oder sein Verbündeter sein mag. Wir können nicht zugeben, daß ein Knabe von englischer Abkunft – angenommen, er sei der Sohn eines Freimaurers – so sollte er je eher je besser in das Freimaurer-Waisenhaus kommen.«
»Ah! So denken Sie als Sekretär der militärischen Loge,« sagte Vater Victor, »aber wir könnten, meine ich, dem alten Manne erst mitteilen, was wir zu tun beabsichtigen. Er steht nicht aus wie ein Bösewicht.«
»Nach meiner Erfahrung ist das orientalische Gemüt nie zu ergründen. Jetzt, Kimball, verlange ich, daß Du diesem Manne Wort für Wort wiederholst, was ich sage.«
Kim faßte den Inhalt der nächstfolgenden Sätze zusammen und begann:
»Heiliger, der magere Narr, der wie ein Kamel aussieht, sagt, ich wäre der Sohn eines Sahib.«
»Aber wie denn das?«
»Oh, es ist wahr. Ich wußte es seit meiner Geburt. Er aber konnte es nur durch mein Amulett herausfinden und indem er alle die Papiere las. Er denkt, wer einmal ein Sahib ist, bleibt ein Sahib. Die beiden beraten nun, ob ich bei diesem Regiment bleiben oder in eine Madrissah (Schule) geschickt werden soll. Dies Letzte hat mir schon früher gedroht, aber ich wußte es stets zu vermeiden. Der fette Narr denkt so, und der wie ein Kamel aussieht, so. Aber das hat nichts zu bedeuten. Ich mag eine Nacht, vielleicht noch eine, hier festgehalten werden, das ist mir schon früher passiert – dann laufe ich davon und kehre zu Dir zurück.«
»Aber sage ihnen doch, daß Du mein Chela bist. Sage ihnen, daß Du mir gesendet wurdest, als ich verwirrt und hinfällig war. Sage ihnen von unserer Suche und sie werden Dich sicher gehen lassen.«
»Ich habe ihnen schon alles gesagt. Sie lachen und drohen mit der Polizei.«
»Was redet Ihr da?« frug Bennett.
»Oha! Er sagt nur, wenn Ihr mich nicht gehen laßt, so hindert Ihr ihn in seinen besonderen und dringenden Angelegenheilen – seinem dringenden und besonderen Vorhaben» – diese Redensart war eine Reminiszenz aus einer Rede eines eurasischen Schreibers im Kanal-Departement – aber sie rief nur ein Lächeln hervor, das ihn erbitterte. »Und wenn Ihr wüßtet, was sein Vorhaben ist, würdet Ihr es nicht so abscheulich eilig haben, Euch hinein zu mischen.«
»Was ist es denn?« fragte Vater Victor nicht ohne Mitgefühl, indem er