Krimis & Erotische Erzählungen. Walter Serner
»Guten Tag. Wie geht es? Ich ging gerade unten vorbei, als mir einfiel, daß Sie hier wohnen. Sie wundern sich wohl, daß ich mittags zu nachtschlafender Zeit herumgeistere? Tja, es ist sonderbar: wenn man schon einmal vor dem Einschlafen sich vornehmen muß, zeitig aufzustehen, kann man überhaupt nur ein paar Stunden schlafen. Ich war schon um zehn Uhr im Café. Phantastisch! Hören Sie, heiter: um vier Uhr werde ich bei Herrn Moriz Cohen sein, Handschuh-Engrossisten in Charlottenburg, Besitzer einer wunderschönen Tochter, die nicht Klavier spielt, obwohl sie es miserabel kann, und ansonsten leicht orientalisch träg ist und weich. Impression Harem, angenehm entfernt. Und wenn man sich retiriert und dabei die erforderliche Vorsicht außer acht läßt, kann man in der Küche ein Dingerchen seinem Zweck zuführen, also glatt süß … O, Sie sind sehr blaß. Vielleicht krank? Nicht? Sehr angenehm. Man macht ja doch stets unglückliche Figur vor fremdem Leid. Sie müssen wissen: parate Sätze hebe ich über alles; man genießt sich da viel mehr. Apropos: ich erinnere mich, daß Sie auch in der Nacht, als wir uns kennen lernten, sehr schweigsam waren. Hm, Schweigen. Ist Gold. Gewiß. Aber die alten Sprichwörter haben leider den Vorteil, daß ihre Wahrheit über den Leisten nicht hinausgeht. Ich meine, sie fangen vom Schuster aufwärts an, falsch zu sein. Alles ist relativ. Auch das Schweigen. Zwar: es wirkt im Anfang, speziell bei sachgemäßer Inszenierung, enorm, im Superlativ sogar heillos respekterzeugend; aber es ist zeitlich und individuell scharf begrenzt. Wird diese Linie überschritten, so wird bestenfalls der Abbruch menschlicher Beziehungen bewirkt, schlimmstenfalls aber ist es ein geistiges Armutszeugnis mit Auszeichnung. Zugegeben: die unumgehbare Entsetzlichkeit des Schondagewesenen. Ach, auch Goethe war kaum bei jeder Verrichtung geistvoll, und da die Scherzfrage, wer der Kaiser von Europa sei, prompt mit ›die Phrase‹ zu beantworten ist, muß eklatant sein, daß unsereiner die Verpflichtung hat, erfrischend zu wirken. Es strengt doch wahrhaftig nicht an. Apropos: wie gefällt Ihnen Frau Kroll? Klasse! Hochzucht! Nun? Entre nous: was von ihr im Café kolportiert wird, ist zweifellos erlogen. Ein Frauenzimmer, das chronisch pumpt, läßt sich nicht bezahlen. Gewiß, sie hurt. Das ist mehr als ein billiges Recht des Weibes. Das ist seine schwerst ethische Verpflichtung. Es ist aber gänzlich ausgeschlossen, daß dieses Weib wahllos ist. Sie fliegt, wie alle erstklassigen Weiber, auf den geistig hochwertigen Mann, sollte er auch mißgestaltet sein. Was freilich eine contradictio in adjecto ist. Kein einziger von diesen eitlen, körperlich lachhaften Kaffeehaushasen hat sie besessen. Man braucht doch bloß hinsehen, wie sie das Weib adorieren. Diese Trottel! Diese kubierten Idioten! Sie ahnen nicht, daß solch ein Weib ein totsicheres Gefühl für seine eigene Minderwertigkeit hat: je vorbehaltloser ein Mann es bewundert, desto eher ist es geneigt, ihn für minderwertig zu halten. Und das Rezept, das, richtig dosiert, sogar einen Affen ins Bett der Gräfin Rasurgi (die Sie sicherlich wenigstens par distance kennen) lanzieren könnte, ist doch gar nicht kompliziert: man vertreibe ihr die Langweile, das große Erbübel, an dem jedes Weib in allen Nuancen laboriert. Kenner erreichen hier in einer halben Stunde mit dem blühendsten Biographiekohl mehr als Oberlehrer mit jahrelanger Mondbenützung. Apropos: wie halten Sie es dein? Ne jute Jegend Balin, wat? Schon erfaßt, wie mich dünkt. Geben Sie acht, mein Geschätzter, die Lues soll immer noch nicht herzig sein. Oder machen Sie in allerletzten Equilibristiken? … Mm, es ist drei Uhr. Schon diniert? Nicht? Keine Münzen? Ach, glauben Sie, ich ließe mich durch einen Geburtstag im Hause Moriz Cohens abhalten, Spreeanglern zuzusehen, wenn ich mir nicht wieder mal so was wie eine Mahlzeit in den Bauch schlichten müßte? … Rauchen Sie? Langerprobtes Mittel gegen unbefriedigte Magensäfte! Nicht? Also ein ganz wild Gestufter. Oder kultivieren Sie mit Fleiß Hunger? Gewiß, enormes Stimulans, das nur den immanenten Nachteil hat, schließlich das Herz zutote zu kitzeln. Apropos, der Sozialismus ist für uns gar keine Hoffnung. Gleichheit? Stiefel! Solange die Geistesaristokratie an dem täglichen Problem kraut, wie ein Kaffee zu erschieben ist, bleibt es noch immer besser, wenn die Feudalen herrschen oder die Industriejobber, als wenn die Straßenkehrer mit mir intim tun. Übrigens, Sie gehen doch mit zu Herrn Cohen. Man frißt und weiter nichts. Es ist mir auch persönlich angenehmer. Man ist dann doch nicht so Insel. Kennen Sie jüdische Familien? O, Sie werden Tolles erleben! Diese Familie ist für jeden Unfall exemplarisch! Tatsache: man sollte es nicht für möglich halten: dafür, daß ein Mann sein Leben lang eine einzige Frau hat, die vielleicht bei schlechter Behandlung zehn, bei guter fünf Jahre jung bleibt, wird er zum schuftenden Sklaven. Warum kauft der Edle sich nicht wöchentlich ein kleines Fräulein? Ganz nebenbei: wenn es keine Geschlechtskrankheiten gäbe, wäre der coitus sicherlich ein allgemein beliebtes Gesellschaftsspiel. Schließlich: das Ergebnis der Ehe muß ja eine Pfütze sein. Man bedenke: ich kannte eine Dame, die mich mit ihrem Gatten betrog, als ein Anarchist sie besaß. Lieblich! Tja, da lob ich mir die Mohnenstamm! Alle Hochachtung vor diesem Betrieb! Und echt! Wenn die besoffen ist, ist sie immer im Zweifel, wo ihre Beine aufhören, und läßt Nachforschungen anstellen. Kürzlich hat man sie wegen beischlafähnlicher Bewegungen beim Tanzen eingesperrt. Welche Ehrung! Aber doch schaudervoll! Ach, hier in Deutschland gibt es, genau betrachtet, noch gar keine Erwachsenen. Selbstverständlich meine ich Preußen. Alles Drill, Uniformierung, Erziehung! Pfui Teufel! Ich bin neugierig, wann dieses vielleicht innerlich zu blonde Volk einsehen wird, daß die wahre Erziehung die Abwesenheit jeder Erziehung ist, daß ein unverprügeltes Gehirn mehr Chancen hat als ein Regierungsrat und daß ein besoffener Kutscher und die tanzende Mohnenstamm weniger Ärgernis erregen als der sie arretierende Schutzmann … Tja, ich langweile Sie wohl? Macht nichts … Holla, Sie sehen aus dem Fenster! Was gibts? Tja, da reitet was, das man sich ansehen darf. Die Baronin von Leidgeben. O, Sie sind ja regulär hingerissen, wie mich dünkt. Hm, kaufen Sie sich einen gutsitzenden Anzug letzten Schnitts und einwandfreie Unterwäsche, dann ist auch das dort auf dem Pferderücken nicht zu hoch für Sie. Freilich bleibt es dabei immer noch fraglich, ob Sie auch imstande sind, aus dem Handgelenk zu grüßen und ›Gnädige Frau‹ so auszusprechen, daß sie Ihnen die Heimatsberechtigung dazu glaubt. Tja, nicht so einfach. O, da oben gibt’s Exemplare! Schwerstes Tipp-Topp! Allerschwerstes! Aber im Grunde ist der Unterschied lediglich ein Phantasieakt. Man transponiere zum Beispiel Frau Kroll in Hundert-Mark-Meter-Grau und verbiete ihr, Schöps zu sagen, und die Illusion ist komplett. Eine kleine Ähnlichkeit ist übrigens vorhanden. Sollten Sie am Ende? Ich will es nicht fürchten. Frau Kroll soll ganz außerordentlich resolut sein und eine sehr lockere Hand haben wie alle besseren Weiber. Na, ich habe nichts dagegen. Aber seien Sie um des Himmels willen vorsichtig, wenn Sie überhaupt Gelegenheit erhalten sollten, es zu sein … Ja, was gibt’s denn? Ach, Sie wollen schon gehen? Gut, gehen wir … Ach so … Na ja … Übrigens, was glauben Sie denn eigentlich? Sie meinen wohl, ich lasse mich von Ihnen zum Besten halten? Sie irren, mein Verehrter! Sie sind vielleicht der Ansicht, ich wäre eifersüchtig auf Sie und hätte Sie nur aufgesucht, um Sie zu ärgern, um mich zu rächen, oder weiß der Kuckuck warum? Ich wiederhole Ihnen: Sie irren. Gründlich. Solche Sachen mache ich nur in besonderen Fällen und auch dann lediglich, wenn es sich um Beträge handelt. Wenn ich mir Sie hätte vornehmen wollen, hätte ich Ihnen vor einer halben Stunde schon eine Ohrfeige geben müssen und, mein sehr Verehrter, auch gegeben. Mein Gott, was man heutzutage alles erlebt! Ich will mir keinen guten Abgang zimmern, aber ich rate Ihnen angelegentlichst: lassen Sie sich behandeln! Adieu, mein Herr!«
Doch noch bevor er die Tür erreicht hatte, stieß der Andere, der ununterbrochen am Fenster gesessen war, sei es aus Hohn, sei es zu seinem Vergnügen, einen durchdringenden Fingerpfiff aus, der zur Folge hatte, daß jener halsüberkopf aus der Tür stürzte, die Treppe hinabraste, stolperte, zehn Stufen hinabkollerte und sich die Nase zerschlug, wodurch er so viel Charme und Zeit einbüßte, daß er Frau Kroll nicht nur überhaupt nicht mehr zu besitzen hoffen zu können vermochte, sondern sogar mit ansehen mußte, wie es dem Andern gelang.
Der Pfirsich
Roger hatte soeben die kühn sich suggerierte Scheu davor, seine Hand zu ergreifen, überwunden und beabsichtigte, sich wieder in Bewegung zu setzen, als er spürte, wie etwas Weiches seinen Arm berührte.
»Wohin denn?« Der lange Jacques stand steil neben ihm.
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