Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

Platzspitzbaby - Franziska K. Müller


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der nächsten Sekunde wieder zu vergessen. Und doch muss ich damit rechnen, dass sie diese Geschichte in einem lichten Moment liest oder von ihr vernimmt. Sie wird das Geschilderte in jedem Fall als Angriff erleben. Auf meine späte Frage – »Wieso hast du dich für die Drogen und nicht für mich entschieden?« – erhielt ich keine Antwort, und wenn ich sie an die schrecklichen Details meiner Kindheit erinnerte, bezichtigte sie mich der Lüge. Sie wird sich auch heute keinen einzigen Gedanken zum Unglück machen, das sie mir, meinem Vater und anderen Menschen auferlegt hat, so wie sie stets bestritten hat, etwas falsch gemacht zu haben. In einem Leben, das auch für sie schlecht startete und nicht einfach war. Entlasten missliche Umstände eine Existenz, die vollumfänglich auf Kosten anderer verläuft? Nein. Weil Menschen freie Entscheidungen treffen und somit die Verantwortung für ihre Handlungen tragen.

      Meine Mutter und ihre Schwester gehörten zu den ersten Mischlingskindern der Schweiz: Ihre Eltern lernten sich Ende der Fünfzigerjahre in Paris kennen. Es muss eine stürmische Liebesgeschichte gewesen sein, eine für die damalige Zeit unmögliche Liaison, wie sich allerdings erst nach der Rückkehr in die Schweiz herausstellen sollte. Im 19. Arrondissement von Paris existierte bereits eine große afrikanische Gemeinschaft. Gemischtethnische Ehen und daraus hervorgehende Kinder waren im Schmelztiegel von Belleville nicht gerade an der Tagesordnung; in einem Quartier jedoch, in dem sich Immigranten aus aller Welt, vor allem aus den ehemaligen französischen Kolonien, niedergelassen hatten, stand man dem Profiboxer aus dem Senegal und seiner schneeweißen Schweizer Ehefrau keineswegs feindselig gegenüber. Eine erste Tochter wurde in Frankreich geboren. Die zweite Tochter – meine Mutter Sandrine – erblickte 1961 in der Schweiz das Licht der Welt. Ihre Wurzeln konnten die beiden Schwestern nie verleugnen: Die Mädchen hatten eine dunkle Hautfarbe, und ihre kantigen Gesichtszüge mit den markanten Wangenknochen ließen in späteren Jahren ihre westafrikanische Abstammung gut erkennen.

      Opas Hautfarbe, so schwarz wie Ebenholz, erwies sich als Hinderungsgrund, um sich in der Schweiz zu integrieren. Heute ist es unvorstellbar: Der Zutritt in manche Restaurants blieb Großvater verwehrt, und seine ihn begleitende Ehefrau, meine Großmutter, wurde auf offener Straße angespuckt und als Hure bezeichnet. Babou arbeitete als Pneuwechsler, und obwohl er sich anfänglich um Integration bemühte, weckte die gesellschaftliche Zurückweisung nicht seinen Kampfgeist, sondern sie schuf ihm gute Gründe, um so zu sein, wie er eben ist: afrikanisch. Ich erinnere mich daran, dass er wegen wiederholt unerlaubten Fischens verwarnt worden war. Dies kümmerte ihn wenig, und das offizielle Vorgehen, über den Amtsweg ein Patent zu erlangen, erschien ihm widersinnig. Er fuhr fort, das Abendessen für die Familie gelegentlich auf diesem Weg zu beschaffen. Seine Rechtfertigung lautete: »Wenn man im Senegal genug intelligent ist, um einen Fisch an Land zu ziehen, darf man ihn auch essen.« Die europäische Denkweise und die hiesigen Kodexe blieben ihm ein Buch mit sieben Siegeln.

      Je stärker sich der Ehemann auf seine afrikanischen Eigenheiten berief, umso vehementer negierte seine Frau alles, was mit dieser Identität in Verbindung stand. Die Ehe der Großeltern wurde aus diesen und anderen Gründen instabil, worauf man die jüngere Tochter als Vierjährige in einem Kinderheim unterbrachte. Meine Mutter berichtete von zahlreichen gewalttätigen Übergriffen, die sie in diesem Umfeld erleiden musste. Sie stand ihnen machtlos gegenüber, da Rückhalt und Trost auch in den zunehmend zerrütteten Familienverhältnissen, in die sie an manchen Wochenenden zurückkehrte, nicht mehr zu finden waren. Meine Großmutter musste die Familie bald aus eigener Kraft durchbringen. Als tatkräftige und dominante Frau schaffte sie dies mit einer erfolgreichen Hundezucht. Gleichzeitig verfiel sie dem Alkohol, wurde medikamentenabhängig, und bei den seltenen Besuchen der jüngeren Tochter zu Hause verprügelte sie diese wegen Nichtigkeiten. Mit der willkürlichen Machtausübung jener, die einen noch Schwächeren auswählen und ihn grundlos misshandeln, wurde meine Mutter nicht nur im Heim, sondern auch daheim konfrontiert.

      Weder kulturell noch religiös wurde den Kindern der Bezug zu jenem Kontinent erlaubt, aus dem beide so offensichtlich für jedermann stammten. Das afrikanische Temperament von Sandrine – ungestüm und herzlich – wurde im Heim, aber auch von ihrer Mutter negiert, die damit verbundenen Eigenschaften als negativ qualifiziert. Man muss kein Psychologe sein, um in dieser Kombination etwas Ungutes zu erahnen: eine vergebliche Suche nach Zugehörigkeit, ein nicht erfülltes Bedürfnis nach Anerkennung, das jedem minderen Selbstwertgefühl zugrunde liegt. Es gibt ein Schulbild aus jener Zeit: Dreißig weiße Kinder lächeln in die Kamera, und mittendrin sitzt die schwarze Sandrine mit wildem Haarschopf und verstocktem Blick aus schwarz glänzenden Kirschaugen. Bereits in der Überzeugung, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, jenen der Mutter nicht, jenen des Umfeldes nicht, fiel sie ab dem Primarschulalter als trotzig und unangepasst auf. Sie antwortete auf die Boshaftigkeit der Welt, indem sie sich selbst schlecht zu verhalten begann. Gleichzeitig eignete sich meine Mutter bereits als Kind eine fatale Haltung an, die sie nie mehr loswurde: Als Opfer schuf sie sich die moralische Legitimation, um sich selbst und anderen Schaden zuzufügen.

      Sechzehnjährig, fand sie eine Lehrstelle als Coiffeuse, lebte auf sich allein gestellt in einer winzigen Wohnung. Nach Monaten, in denen sie Haare shampooniert und tausend Frotteetücher zusammengefaltet, Staub gewischt und Lockenwickler auf Perücken gedreht hatte, durfte sie einer Kundin das Färbemittel auftragen. Während eines diffizilen Vorgangs, der eine genaue Beobachtung verlangt hätte, schlief Sandrine ein, worauf die giftige Substanz Frau Bögli in die Augen rann, man heilfroh sein musste, dass sie keinen bleibenden Schaden davontrug. Um der Empörung Nachdruck zu verleihen, wurde der Lehrtochter fristlos gekündigt. Diese musste bereits zu diesem Zeitpunkt mit Drogen experimentiert haben, denn keine Sechzehnjährige schläft am helllichten Tag stehend ein, außer sie leidet am chronischen Müdigkeitssyndrom.

      Das Leben meiner Mutter geriet – genauso wie dasjenige Tausender anderer Jugendlichen Ende der Siebzigerjahre – aus den Fugen. Harte Drogen überschwemmten auch die Schweiz. Das Land wurde mit einer Problematik konfrontiert, die man zuerst nicht erkannte und später nicht wahrhaben wollte. Es war auch die Absturzzeit von »Christiane F.«, die ihren Alltag als minderjährige Heroinsüchtige und Prostituierte im später millionenfach verkauften Bestseller »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« schilderte. Das hübsche und kluge Mädchen geriet zur Symbolfigur für die Verbreitung des Drogenmissbrauchs, figurierte aber auch als Antiheldin einer Generation, die mit dem Konsum von Heroin nicht nur Elend und Tod, sondern auch eine Subkultur verband, die sich über die Mode, die Musik, die Sprache definierte. Der Heroin-Chic als glamouröses Gut und die Junkies als gleichberechtigte Gemeinschaft, in der es Zusammenhalt und Liebe gibt? Das halte ich für ein unrealistisches Bild. In Berlin wie in Zürich funktionierte die Szene durchaus hierarchisch. Unterschieden wurde zwischen den Coolen und den Uncoolen: zwischen jenen, die den Absprung noch rechtzeitig schafften, aus eigener Vernunft oder weil sie Hilfe beanspruchten, und den anderen, die von Anfang an in die schwerste Abhängigkeit steuerten.

      Meine Mutter gehörte der zweiten Gattung an. Bereits als Jugendliche verkehrte sie im Kreis jener Unglücklichen, die später zu Tausenden auf dem Platzspitz und dem Letten endeten. Sie fühlte sich zu jenen hingezogen, die schwach und verloren waren, liebesbedürftig und Geborgenheit suchend, so wie sie selbst. Die im Kokain eine Krücke für ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein fanden und im Heroin eine Möglichkeit, all ihre Gefühle zu tilgen. Was aus den Berliner Junkies wurde, die vor dreißig Jahren noch der Glanz der Jugendlichkeit und der Schönheit umgab, was Verwahrlosung, Krankheit und Tod aus ihnen machten, erfuhr man nicht mehr. Dass die Elenden Nachwuchs zeugten, Kinder, die sich jahrelang in ihrer Obhut befanden, während ihr Leben auf der Gasse außer Rand und Band geriet, schien niemanden zu interessieren. Christiane F. blieb in den Schlagzeilen, und ihr Sohn stand aufgrund der Prominenz seiner Mutter unter erhöhter Beobachtung. Er wurde ihr weggenommen. Ein Glück, das viele andere Kinder nicht hatten.

      Das Schicksal war Sandrine nicht wohlgesinnt, und bereits in ihren Teenagerjahren kumulierten sich die Ereignisse, die auf eine Existenz hinsteuerten, in der anderes bereits wichtiger war als die eigene Unversehrtheit. Eine Geschichte erzählte sie mir später unzählige Male, wenn sie auf einem Herointrip in den negativen Erinnerungen und im Selbstmitleid hängen blieb. Als Jugendliche reiste sie per Autostopp nach Paris, geriet in die Fänge einer Menschenhändlerbande, die junge Mädchen mit Drogen vollpumpte, ihnen Pässe und Geld abnahm, um sie später an verschiedene Bordelle in ganz Frankreich zu verkaufen. Nach längerer Gefangenschaft – Mutter


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