Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

Platzspitzbaby - Franziska K. Müller


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nicht kritiklos akzeptierte, ihre Raserei nicht einfach in Kauf nahm, sich ihrem kompletten Zerfall mit allem, was er zu bieten hatte, entgegenstellte, sie kontrollierte, ihr nachspionierte und das offenbar Unmögliche – die Abstinenz – forderte.

      Dem Aufeinanderprallen meiner Eltern gingen nun unmenschliche Kraftanstrengungen voraus. Mutter bezog die dafür notwendige Energie aus den Drogen und der wahnsinnigen Gier nach dem nächsten Schuss. Mein Vater begann in dieser schrecklichen Zeit seine seelische und körperliche Gesundheit aufs Spiel zu setzen: Um mich zu retten, aber auch, weil er sich eine Niederlage nicht eingestehen konnte, vielleicht selbst eine Abhängigkeit entwickelte, zu einem Leiden, das ihn ganz und gar gefangen nahm. Im Rausch entwickelte Mutter unglaubliche Aggressionen, und die Handgreiflichkeiten arteten immer häufiger aus. Unter meinem Hochbett versteckt, hielt ich mir die Ohren zu, doch die Schreie der Eltern hallten tagelang in meinem Innern nach, als wäre meine Seele der Resonanzboden eines Instrumentes.

      Mehr als einmal gerieten gewalttätige Kämpfe außer Kontrolle: Durch die verzweifelten Hilferufe meines Vaters alarmiert, lief ich eines Nachts ins Elternzimmer und verständigte auf sein Geheiß die Polizei. Während die Tochter eines senegalesischen Profiboxers im Hintergrund weiter randalierte und meinen Vater mit einem gezielten Faustschlag zu Boden schlug, heulte ich die Adresse in den Telefonhörer. Als die Beamten endlich auftauchten, flaute der Streit bereits ab, doch das verwüstete Zimmer sprach Bände, und Vater lag übel zugerichtet auf dem Bett. Mutter lamentierte tränenreich, tischte den Polizisten unglaubliche Lügengeschichten auf und verlangte – ohne dass sie ein gekrümmtes Haar vorweisen konnte – die sofortige Inhaftierung des Gewalttäters. In Erinnerung an die eindeutige Geräuschkulisse während meines Anrufes, wurde sie dieses eine Mal in die Schranken gewiesen. Bei allen anderen Gelegenheiten gaben die Ordnungshüter dem gepeinigten Geschlechtsgenossen zu verstehen, er sei selbst schuld, wenn er eine solche Furie geheiratet habe. Vater wollte sich auf keinen Fall auf das Niveau seiner süchtigen Frau einlassen, dies auch im Wissen, dass eine einfache Ohrfeige sofort zu einer erfolgreichen Strafanzeige gegen ihn geführt hätte. Meine ganze Kindheit hindurch machte ich die Erfahrung, dass manche Behörden und Helfer einer Frau, die behauptet, es sei ihr Unrecht geschehen, blind Glauben schenken und im Mann ebenso kritiklos den Schuldigen sehen.

      In jener Nacht verschwand Mutter einmal mehr und kehrte erst Tage später zurück. Meine Erleichterung vermischte sich mit Entsetzen: Verdreckt, nach Urin stinkend, die Haare verfilzt, das Gesicht aufgedunsen, konnte sie sich kaum auf den Beinen halten, wankte ins Bett und schlief zehn Stunden am Stück. Die folgende Woche verbrachte sie Ruhe suchend – mit einem gebunkerten Drogenvorrat und einer Familienpackung Joghurt – im abgedunkelten Schlafzimmer. Unansprechbar. Sie nahm nichts mehr wahr, und wenn sie mich bei seltenen Gelegenheiten anschaute, glaubte ich in ihrem Blick eine größer werdende Abneigung wahrzunehmen. Ich wurde zu einem Übel, das bereits Dankbarkeit empfand, wenn es ignoriert wurde. Denn genauso unbegründet und maßlos, wie ihr Missfallen über mich hereinbrach, fielen ihre Liebesbezeugungen aus. Sie küsste mich ab, hielt mich mit eisernem Griff umschlungen, flüsterte Koseworte in mein Ohr. »Du bist mein Liebstes, und wenn du nicht mehr bei mir bist, gibt es für mich keinen Grund mehr, zu leben.«

      Vater versuchte zu retten, was zu retten war, eine Trennung kam für ihn nicht infrage. Er wusste, Mutter würde alles daransetzen, um mich in ihre alleinige Obhut zu bringen. Nachdem er sich eines Nachts – Mutter hatte den erneuten Gang in die Szene angekündigt – mit seinem Armee-Sturmgewehr im Badezimmer verschanzt und, einem Nervenzusammenbruch nah, damit gedroht hatte, er schieße sich eine Kugel in den Kopf, wenn sie gehe, realisierte ich zum ersten Mal bewusst, dass ein Leben ohne meinen Vater zu einer Gefahr für mich werden würde. Schluchzend und bettelnd saß ich vor der Tür, versprach ihm sogar den Plüschbären und war auch nicht zu beruhigen, als er unversehrt in den Korridor trat, mich in den Arm nahm, mich zu trösten versuchte.

      Mein Vater nahm nun seine Suchaktionen erneut auf, und eines Tages beschloss er, mich mitzunehmen. Über den mit dieser Entscheidung verbundenen Erziehungsversuch kann man sich vielleicht streiten. Andererseits trug der ungeheure Schock, den ich als Neunjährige erlitt, vielleicht dazu bei, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, die bei abhängigen Elternteilen aufwachsen, nie in die harten Drogen abgestürzt bin. Schweigend rasten wir die Autobahn entlang, vorbei an Wäldern, die sich schemenhaft im strömendem Regen abzeichneten, und beinahe unvermittelt tauchten wir in den Glanz der Großstadt ein. Vater kannte den Weg blind. Ich hörte das Rauschen des Flusses, als er mich, fest umschlungen in seinen Armen, zielstrebig zur Brücke trug. Wir blickten nach unten: Auf dem mir riesig scheinenden Brachland herrschte emsiges Treiben. Zerlumpte Gestalten bahnten sich murmelnd und schimpfend den Weg durch Müll und Dreck. Menschen, die in meiner Wahrnehmung wie Bettler aussahen, stachen sich Nadeln in die Arme, andere starrten mit leerem Gesicht in ein Feuer. Später fiel mein Blick unvermittelt auf einen Mann und eine Frau. Mein Vater zwang mich, genau hinzusehen: Seltsam verrenkt lagen die beiden im Dreck, und zu meinem Entsetzen liefen zwei Ratten zögerlich schnuppernd über die besinnungslosen oder toten Menschen, die niemanden zu interessieren schienen. Schwindel und Übelkeit ergriffen mich. Hatte ich mein eigenes Sterben verpasst und befand mich nun bereits im ewigen Fegefeuer, das den Menschen unsägliche Qualen auferlegt, wie ich es in der Sonntagsschule gelernt hatte? Die Antwort längst wissend, fragte ich: »Macht Mama das auch?« Vater nickte. Er weinte. Er sagte, ich dürfe niemals so enden und müsse mit ihm über alles sprechen, sollte ich jemals in Versuchung geraten. Ich versprach es. An diesem Tag fanden wir Mutter. Mein inständiges Flehen und Betteln bewog sie dazu, ins Auto zu steigen und mit uns nach Hause zurückzukehren.

       Nachher

      Nach dieser schrecklichen Nacht spannte sich der Himmel stahlblau über eine morgendliche Landschaft, die mir nie reinlicher erschien. Ich trat aus der Haustür, atmete tief ein und fühlte mich in Sicherheit. Inzwischen besuchte ich die dritte Klasse im Schulhaus, das auf der Anhöhe über dem Dorf thronte. Dem Unterricht folgte ich problemlos, allerdings fiel ich durch ein unruhiges Temperament auf und galt aufgrund der familiären Hintergründe als Außenseiterin. Ohne elterliche Unterstützung lernte ich früh, mich selbst zu schützen, und der Umstand, dass ich mehrheitlich auf mich allein gestellt durch den Alltag kutschierte, gefährdete mein Wohlergehen in der abgeschiedenen Idylle nicht.

      Das Landleben begeisterte mich mehr als alles und entschädigte mich für vieles: Ich liebte das alte Holzhaus mit den knarrenden Treppen, den schlecht isolierten, winzigen Fenstern und dem großen Kachelofen, der eingeheizt werden musste. Brachte man den Holzvorrat nicht rechtzeitig ein, blieb es im Winter bitterkalt, dafür wehte auch während der heißesten Sommertage eine kühle Brise durch die vielen Ritzen des Hauses. In der Stadt schränkten später Zäune und Verbotsschilder meinen starken Bewegungsdrang ein. Hier rannte ich einfach los, über Felder und Wiesen, stundenlang, bis ich außer Atem zusammenbrach, keuchend liegen blieb, den Himmel betrachtete und die vorbeiziehenden Wolken. Ruhe erfüllte meinen Körper, und ich dachte an nichts. Ich besaß einen Plüschbären, eine Angelrute, ein paar verbeulte Spielzeugautos und eine selbst gebastelte Puppenstube. Mangels Achtsamkeit wurde geduldet, dass sich die Katzen in unserem Haus unkontrolliert vermehrten. Auch ein Meerschweinchen, ein Hase und mein Hund trösteten mich darüber hinweg, dass es an gemeinsamen Aktivitäten mit den Eltern nun gänzlich mangelte.

      Ich entdeckte die Natur: Zum Hausteil gehörte ein Garten, der sich bei unserem Einzug gepflegt präsentiert hatte, mit geordneten Rabatten, zurechtgeschnittenen Sträuchern sowie einem Gemüsebeet, das Papa mit Pflastersteinen umrandet und zu meinem Terrain erklärt hatte. Im Haus empfand ich die fortschreitende Verwahrlosung als unpraktisch und trostlos, doch den Garten schmückte die Wildheit zusätzlich. Der alte Aprikosenbaum stand meist in kniehohem Gras. Im Schatten des Dickichts wuchsen aromatische Waldbeeren, winzige Veilchen, und die Kräuter wucherten dermaßen üppig, dass der Duft von wilder Pfefferminze den ganzen Garten parfümierte. Bereits als kleines Kind interessierte mich die Vergänglichkeit der Natur. Stundenlang saß ich vor einer verdorrenden Blüte, die, in sich gekehrt, das Ende des Herbsts ankündigte, und zwei Monate später war die Pflanze schneebedeckt. Im Frühjahr begleitete ich dieselbe Blume ins Leben zurück, und das scheinbar Traurige erhielt eine neue Bedeutung für mich: So wie es schien, kam das Dasein nicht ohne gegensätzliche Kräfte aus, und die Destruktion


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