Nietzsche - Die rückwirkende Kraft. Rudolf Nedzit

Nietzsche - Die rückwirkende Kraft - Rudolf Nedzit


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       Nietzsche

      Die rückwirkende Kraft

      Essay von Rudolf Nedzit

      Theodor Boder Verlag

       Impressum

      ebook, Mai 2020

      Copyright © 2020 by Theodor Boder Verlag,

      CH-4322 Mumpf

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlaggestaltung: Sarah Schemske,

      buecherschmiede.net

      Verwendetes Grafikmaterial: Nietzsche um 1875,

      Fotografie von Friedrich Hartmann, via wikipedia.org

      (gemeinfrei)

      Lektorat: Theodor Boder

      ISBN 978-3-905802-94-8

      www.boderverlag.ch

      Der Unabhängige,

      der Versucher,

      das gewollte Rätsel

       Vorbemerkung als Nachwort

      Diese Abhandlung ist eigenartig, wohlverstanden: sie ist von eigener Art.

      Und warum auch nicht? Besser gesagt: Wie könnte sie es denn nicht sein, da doch Nietzsche auch ein eigenartiger Mensch war, wohlverstanden: ein Mensch von eigener Art.

      Der sich aus der Schar der Philosophen, seien sie nun tot oder lebendig, heraushebt, wie … ja, wie soll man es beschreiben, versuchen auszudrücken ... wie ein Schimmel unter Rappen. Oder: wie ein Rappe unter Schimmeln?

      Es ist schon viel verstanden, verschließt man sich nicht dieser eigentümlichen Einleitung, dieser Vorbemerkung, die als Nachwort daherkommt. Sie eröffnet einen inneren Diskurs – und sie ist eine Einladung.

       Wer Philosophie und somit A sagt ...

      der muss auch Nietzsche und somit B sagen. Philosoph, Dichter, Philologe, Psychologe und (um es nicht zu vergessen) Musiker. Eine einzigartige Kombination, gepaart mit einem einzigartigen Genius. Diesem Menschen konnte also gar nichts anderes übrig bleiben, als die alte, herkömmliche Philosophie in Grund und Boden zu stampfen, den bisherigen so genannten Philosophen gründlich den Kopf zu waschen, eine neue Sprache und ein neues Denken in dieses von Jahrtausende altem Staub bedeckte Metier einzubringen, eine Feuerwalze über das gesamte Brachland des noch Notwendigen zu jagen. Mit seinem Erscheinen auf der Bildfläche der menschlichen Projektionen wurde eine neue Fackel angezündet, an der sich immer noch und auf unabsehbare Zeit viele die Finger verbrennen: ein Brand, der nicht zu löschen ist.

      Der Mensch Friedrich Nietzsche, dieser große Befreier, hat, so müssen wir einerseits vermuten, andererseits ist es gewiss, die Rezeption seines urgewaltigen Werkes nicht erlebt. Aus zwei Gründen. Der erste: in seinen letzten elf Jahren war er zwar Träger seines Geistes, nicht mehr aber dessen Herr. So entwickelte sich, angeregt und entfacht durch das öffentliche, schön-grausige Spiel mit dem Wahnsinnsgedanken, schon kurze Zeit nach seinem Zusammenbruch beginnend, ein umgekehrter Populismus in der Beschäftigung mit seinen Werken, erreichen konnte ihn dieser gleichwohl nicht mehr, abgeschnitten von der einen Welt, verwoben in eine, seine andere, wie er war, für seine Umwelt nur noch körperlich präsent. Der zweite: ein solches Gedankenuniversum, wie von ihm geschaffen, benötigt für seine vollständige Verarbeitung viele Jahre, mehr Jahre als gewöhnlich der ersten Empfängergeneration zur Verfügung stehen, die ihrerseits wiederum, zumal in solch extrem seltenen Fällen geistiger Höchstleistungen, auf Nacharbeit und Weiterentwicklung durch ihr nachfolgende Generationen angewiesen ist. So betrachtet und allgemein gesagt ist ein Rezeptionserlebnis für den Autor selbst unmöglich, bei grandiosen Schriften speziell und auf den Punkt gebracht sogar nicht wünschenswert, nicht erlaubt, weil im strengen Sinne Werk verkürzend.

      Spielt ein nicht gegebenes Rezeptionserlebnis aber überhaupt eine Rolle, und wenn ja, welche? Doch schon in der Fragestellung an sich, liegt bereits deren Antwort. Natürlich spielt es eine Rolle. Es liegt in der Natur der Sache. Nämlich: dass man keinen Rücksichtnahmen unterliegt, keinen Zwängen ausgesetzt ist, wie die auch immer geartet sein mögen, dass man sich nur auf eines zu konzentrieren hat, auf eines, was einem ohnehin am meisten am Herzen liegt, mögen andere davon halten, was auch immer: die Manifestation seiner Gedanken, Gefühle, Ideen, Feststellungen, Vermutungen – und Empfehlungen, Ratschläge, Aufforderungen, Anordnungen! Gut ist es dann, keine Resonanz zu erfahren, keine Verunsicherung erleiden zu müssen, weder Spott noch Lob ausgesetzt zu sein, denn was sollte mit diesen auch anzufangen sein, diesen unnützen, zu nichts Produktivem verwendbaren Ablenkversuchen. Besser ist es, bei sich zu bleiben, seinen Weg zu kennen und auszuleuchten, unbeirrt, in sich ruhend. Am besten aber: von nichts wissen, was einen stören könnte. Es ist eine Aufgabe zu bewältigen, sie ist schwer genug, kein anderer soll sich in deren Ausführung einmischen. Man bleibt allein, man muss es sein. Nietzsche blieb es bis zum Schluss. Dem Schicksal, seinem, unserem ist dafür zu danken.

      Und welches Schicksal wurde ihm auferlegt! Es ließ ihn in Eis und Hochgebirge leben, er war stark genug, es freiwillig zu tun; es zeigte ihm Wahrheiten, die zuvor kaum ein anderer zu Gesicht bekommen hatte, er ertrug sie, wagte sich an sie heran; es machte ihn unverwechselbar, er wusste, dass er der und der war. Sein Schicksal sprach zu ihm: Ecce homo. Und zu uns Heutigen sagt es: Ihr seid sein Übermorgen. Es sagt es zu allen, doch nicht alle können oder wollen es hören. Wie sollte das auch möglich sein? An nichts scheiden sich die Geister mehr als an einem Freigeist. Wer mit sechs Jahren seine ersten Kompositionsversuche macht, wer mit zwölf seine erste philosophische Abhandlung schreibt, mit vierzehn seine erste Autobiographie, mit vierundzwanzig Professor wird – der ist etwas ganz Besonderes. Vorneweg schon mal. Doch selbst damit ist es noch nicht getan, noch nichts endgültig bewirkt. Man hat es auszubauen, will man tatsächlich eine spätere Wirkung erzielen, innen wie außen, und man muss es den Rest seines Lebens tun, wenn man es denn durchhält, als Einsamer, denn sonst ist es nicht zu bewältigen. Und mit Gewalt hat es auch wirklich zu tun, innerer und äußerer. Es ist nicht weniger als die Gewalt des Lebens, der man sich auszusetzen hat, sie erleiden, ertragen, zeitweilig überwinden muss, sie vielleicht sogar dauerhaft zu mindern hofft. Wem oder was aber könnte man eine solche Riesenarbeit mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg aufbürden, wenn nicht einem freien Geist?

      Greifen wir vor und halten bereits an dieser Stelle fest, dass Nietzsche sich nicht damit begnügte, ein Einsamer zu sein, sondern sich zu einem Einzelnen weiterentwickelte, hinaufstieg, mit derartiger Wucht in den Tempel des Denkens stürmte, dass die abendländische Philosophie eine weitere moderne Zäsur erfuhr: nicht mehr ausschließlich die in vor- und nachkantisch, sondern darüber hinaus auch die in abnietzscheanisch.

      Ein Vorgriff in zweierlei Hinsicht: Nietzsche betreffend, die Philosophie betreffend.

      Was Nietzsche angeht: Er wusste, dass eine weite Zukunft vor ihm liegt. Er wusste es mit solcher Intensität, wie diese einem Menschen möglich ist, der von der Zukunft nichts wissen kann. Also doch nur eine Ahnung? Aber was heißt hier schon nur? Sie genügt allemal, wenn man sich seines Selbstwertes bewusst ist – und es bleibt. Denn Durchhaltevermögen gehört schon dazu, will man eine Tür aufstoßen, an der bisher lediglich gekratzt, an die in der Vergangenheit nur zaghaft und ängstlich geklopft wurde. Und der Wille, ein über die ganze, bewusste Lebensspanne währender Wille, diese imaginäre Tür einzutreten, sollte einem nicht geöffnet werden, gehört auch dazu. Ein schweres Los, dem falsche Rücksichtnahme auf Zeitgeist, Gott und die Welt als Ratgeber nicht zur Seite stehen darf, soll es sich erfüllen. Da gilt es anzuschreiben gegen alles und jeden, da müssen Schlussstriche gezogen werden, wo sie hingehören, da ist zu sagen, was nicht verschwiegen werden darf, da muss mit dem Hammer zertrümmert werden, was mit guten Worten und halbherzigen Taten nicht zu beseitigen ist. Und was tut es zur Sache, dass man nicht gehört, nicht gesehen wird? Dass die eigenen Schriften und Notizen ins Unermessliche wachsen und immer tiefer ins Ungeheure hinein und kein anderer sich darum zu scheren scheint, nicht in den Abgrund zu blicken wagt, der sich doch förmlich der Erkenntnis aufdrängt? Noch ist die Menschheit


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