Nietzsche - Die rückwirkende Kraft. Rudolf Nedzit

Nietzsche - Die rückwirkende Kraft - Rudolf Nedzit


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kommen, seine Zeit wird kommen. Er weiß es, er braucht es nicht zu beschwören, er weiß es einfach, und darum schreibt er um sein Leben, er lebt sein Schreiben, er denkt seine Existenz über den Punkt hinaus, bis zu welchem er ihm selbst folgen können wird. Er macht sich so breit, dass neben ihm nichts anderes mehr Platz finden kann. Er investiert nicht mehr und nicht weniger als – sich. Mag er seiner Zeit voraus sein; die darauf folgende wird ihn schon einholen, überholen, wiederholen.

      Was die Philosophie angeht: Gäbe es für diese eine allgemeinverbindliche Definition, bräuchten wir sie nicht, die Philosophie. Denn sie wäre dann einem Korsett vergleichbar, in welches sich alle Denker zu zwängen hätten und manchem von diesen würde dabei die Luft ausgehen, gerade die Höhenluft, der er bedürfte, um von höheren Sphären herab, seine Analyse des umtriebigen, letztendlich doch immer bodenständig bleibend müssenden Lebens und Denkens des Menschen betreiben zu können, bei aller Metaphysik, der man sich zu verschreiben genötigt fühlen mag. Denn da man selber Mensch ist, kann man nur wie ein Mensch denken, und da man darüber hinaus noch ein einzigartiger ist, nämlich man selbst, was kein anderer sein kann, so ergibt es sich aus sich heraus, dass man keinem theoretischen Endpunkt verpflichtet sein darf, will man über das Ende hinaus denken. Würde das Ende erreichbar sein, so muss es irgendwann erreicht werden. Dann aber käme die Philosophie an ihr eigenes Ende – und gerade das ist es, was sie nicht will. So will sie also auch keinen Namen, der ihr Herkunft, Bestimmung und Vollendung anhaften würde. Sie will namenlos bleiben, im Interesse ihrer selbst. Der Begriff Philosophie ist also lediglich ein Etikett, welches auf etwas Unbestimmtes aufgeklebt wird, um sich dieses Unbestimmte gedanklich überhaupt erschließbar machen zu können. – Mit der aus diesem eigenwilligen Selbstverständnis der Philosophie heraus resultierenden Selbstbeurteilung haben dann auch alle so genannten Philosophen zu kämpfen, die, wenn sie denn Wert darauf legen sollten, dass ihre Gedanken die Zeit überdauern, sich eben auf die Zeit einlassen müssen, und zwar im großen, strengen Maßstab, nämlich gerechnet in Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden. Früher dürfen sie kein Urteil erwarten und wurde es dann irgendwann gefällt, ist damit noch nicht garantiert, dass keine Revision mehr erfolgen wird. So geht es auch Nietzsche, so wird es auch ihm gehen müssen. Und doch nimmt er eine Sonderstellung ein: er führte in die altehrwürdige Wissenschaft des Denkens ein Konglomerat bisher unbekannten Ausmaßes ein: tiefsten Geist, rücksichtslose Frivolität, vollendeten Sprachgebrauch. Unsere Erkenntnis ist noch auf dem Wege. Die Sprache kennt noch nicht alle Wörter. Man könnte, nach Nietzsches Leben, Tod und Wirkung, sich der Meinung hingeben, dass sie auch keine neuen mehr finden kann.

      Die von Nietzsche betriebene Expansion der Sprache war kein Selbstzweck, wenn sie auch das perfekte Instrument für die Vermittlung seiner Ideen und Gedanken war. Sie war kein Selbstzweck, da sie nicht um ihretwillen betrieben wurde, sondern im Interesse einer weitestreichenden Erschließung des Gedankenraumes. Wo nichts mehr formuliert werden kann, hört das Denken auf. Das Denken soll aber nicht dort aufhören, wo es bereits gewesen ist, sondern es muss weiteren Boden gutmachen. Wie aber soll das noch gelingen können, wenn der Vorrat an verwendbaren Beschreibungen bereits verbraucht ist? – Indem man davon ausgeht, davon überzeugt ist, dass der Vorrat noch nicht erschöpft ist, noch nicht! Denn Nietzsche hat so vieles zu sagen, dass es ihm, dem Meister der Sprache, unerträglich wäre, wenn es gerade an der Sprache läge, dass nichts mehr gesagt werden könnte. Es gilt also ein neues Spiel zu eröffnen: das unerschöpfliche, leichte und befreiende Spiel mit der Sprache. Viel zu lange schon wurde das Gewicht der Philosophie ermittelt aufgrund der Schwerfälligkeit ihres Ausdrucks. Je unverständlicher für den Laien, den Nicht-Weisen, desto schwerer, folglich gewichtiger. Damit muss Schluss sein. Es ist an der Zeit, dass das Medium der Sprache in seiner höchsten Potenz angewandt wird. Keine Abstriche mehr, keine Abwägungen egal welcher Art, kein Hinschauen auf was auch immer – sondern pures Hinhören. Gedanken müssen Botschaften sein, sie müssen gehört werden. Wer verlangt, dass sie von Anfang an verstanden werden müssten? Aber sie müssen doch von Anfang an gehört werden! Der Vorrat der Sprache besteht nicht aus der ihr verfügbaren Anzahl von Wörtern, sondern liegt in ihren Variationsmöglichkeiten, die, hat man das Zeug zu einem Dichter, mehr, ist man ein Dichter, so überwältigend sind, dass man diese erst unter seine Gewalt bringen muss, um sich ihrer vollsten Wirkmächtigkeit bedienen zu können. Dies wiederum aber, sogar unter Dichtern, ist nur den wenigsten gegeben, muss auch gegeben sein, denn zu beeinflussen, geschweige denn zu erzwingen, ist es nicht. Es ist eine Gabe. Eine, der man sich bewusst sein muss und sie dann entsprechend einzusetzen hat: im Falle Nietzsches als Zündschnur zu dem Dynamit seines Denkens. Mit Hilfe seiner Sprache, die nominell zwar auch diejenige seiner Mitmenschen ist, aber wie aus einer anderen Sphäre zu kommen scheint, führt er seine Gedankenexplosionen herbei, welche die Fundamente der alten Philosophie zutiefst erschüttern werden. Es ist zunächst einmal das Faszinosum seiner perfekten Sprachbeherrschung und des unglaublichen Formulierreichtums, was jeden Leser anrührt, und durch welches sich diesem quasi schlagartig das Hirn des Schreibenden offenbart und ihn in dessen Welt hineinzieht. Was hinzukommt, hinzukommen muss, gerade und unverzichtbar für Nietzsche selbst, ist die Heiligsprechung des artistischen Sprachgebrauchs durch die große Tiefe des darin zum Ausdruck gebrachten Gedankens.

      So wie die Sprache, die Sprachhandhabung kein Selbstzweck sein darf, so darf auch das Denken sich nicht in sich selbst verlieren, sich im Kreise von Selbstbezügen drehen und winden. Es muss vielmehr diesen Kreis sprengen, aus sich heraustreten und den beflügelnden Duft einer Transzendenz schnuppern; nicht im Sinne eines Jenseits, sondern eines reflektierten Diesseits, welches ungeahnte Höhenflüge erlaubt, wenn man keine Angst vorm Fliegen hat. Da Gott tot ist, bereits seit geraumer Zeit sogar, sollte man die eigene Lebens- und Denkkraft nicht mehr weiterhin damit verschwenden, einem Leichnam zu huldigen, sondern alles daran setzen, das Zepter der Lebensführung, -gestaltung und -steigerung fest in die Hand zu nehmen. Um das erreichen zu können, muss man kein Übermensch sein, es genügt vollkommen, einer werden zu wollen. Dieses Wollen aber muss mit Macht geschehen. Sollte die eigene, die erste Natur davor zurückscheuen, so muss an einer zweiten gearbeitet werden, beständig, kompromisslos, Ziel führend. Das Ziel liegt in der Spitze, nicht in der Breite. Der beschwerliche Aufstieg dorthin muss uns nicht vorneweg entmutigen; alles Gleiche kehrt ewig wieder, immer wieder werden sich neue Chancen auftun – dieser Augenblick aber gehört uns: so nutzen wir ihn denn!

      Mit der Sprache wird also über das Denken gesprochen, erst mit dem Geist aber das Denken erhaben gemacht. Nietzsche, der sich seines Geistes frühzeitig dergestalt bewusst ist, dass er damit rechnet, einmal Centauren zu gebären, weiß nur zu gut, wo er anzusetzen hat, um etwas zu bewegen: bei sich, diesem Schwungrad seiner Existenz. Ununterbrochen drehend speichert es Energie und gleicht Antriebe aus, bis hin zu

      Warum ich ein Schicksal bin

      Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen –

      Wie leicht haben wir es doch heutzutage, dem allen beizupflichten, in mehr oder minder starker Ausprägung, je nach persönlicher Präferenz, die eben darum zwar bei dem einen oder anderen bis hin zur Abneigung gehen mag, was aber wiederum ein Zeichen der Ausprägung ist, im Hinblick auf den Umgang mit diesem großen Philosophen, der er nun mal ganz einfach ist; wir brauchen ja nur Nietzsches Nachwirkungen, eben bis auf den heutigen Tag, zur Kenntnis zu nehmen. Doch wie mag es in Nietzsche ausgesehen haben zum Zeitpunkt der Niederschrift der Sätze? Er weitgehend unbekannt, seine Bücher kaum gelesen. Und wenn schon gelesen, auch verstanden? Kein leichtes Los. Und es gehört Größe, keine geschminkte, sondern wahre dazu, ein solches Los, zumal es das eigene ist, nicht nur zu kennen, sondern vor allem: kennen zu wollen – und nicht selbst davor zu erschrecken, im Gegenteil: es über den Tod hinaus zu ersehnen.

      ... an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.

      Wahrlich, ein Ausspruch, ein Anspruch höchsten Grades! Doch nicht höher, als es für Nietzsche selbst vertretbar war: denn alles darunter wäre Selbstbetrug gewesen, Feigheit, Angst vor dem Ungeheuren. Die Entscheidung, die er zu treffen hatte, und die er dann auch traf, lange zuvor schon getroffen hatte, war die, sein Menschsein als Einsatz im Spiel des Lebens zu investieren, nicht im Hinblick auf Rendite, sondern als Wette, als nichts oder alles, als Experiment, als Fragestellung, ob die Spielregeln, nach welchen bisher immer


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