Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution. Laurie Penny

Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution - Laurie Penny


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York, wo der Anblick hungriger, hohläugiger, rituell fastender Frauen zur Gewohnheit geworden ist.

      Ich betrachte das Spiegelbild des Mädchens im Fenster des Cafés. Ich habe nichts mit ihr gemein, außer, dass ich zufällig dieselbe Person bin. Oder besser gesagt waren wir dieselbe Person, vor einer Ewigkeit, damals, als ich mit Magersucht in die Klinik kam. Es ist drei Jahre her, seit ich wieder vollständig genesen bin, doch hin und wieder, immer um diese Jahreszeit, schleichen sich die alten bizarren Gewohnheiten wieder ein: Essen wird zum Feind, jeder Spiegel zum Verräter. Ich weiß nicht genau, was mit der mageren unglücklichen Siebzehnjährigen, die ich einst war, geschehen ist. Ich glaube fast, ich habe sie aufgegessen in den langen Monaten, in denen ich gelernt habe, dass es in Ordnung ist, wenn ich Raum einnehme. Aber in den Straßen der größeren Städte sehe ich jeden Tag Menschen wie sie, Geistermenschen, die ins Leere starren, mit spindeldürren Gliedern, angetrieben von manischer Energie, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die sie nicht ankommen, Frauen aller Altersstufen, und mindestens 15 Prozent sind Männer.

      Essstörungen gelten nach wie vor als typische Erkrankungen hübscher junger weißer Frauen, und das erklärt wohl, warum nach den vielen Jahren, in denen »ein Bewusstsein dafür geschaffen« wurde, jede Menge Glamour und eine rätselhafte Aura diese tödlichste aller psychischen Krankheiten umgeben, aber herzlich wenig Erkenntnisse dazu vorliegen. Auch nach Tausenden dramatischer Zeitschriftenartikel, die praktischerweise mit Fotos halbnackter traurig dreinblickender Models illustriert werden können, nimmt die Zahl der Erkrankungen noch zu, und wir sind der Lösung eines der großen Rätsel des modernen Lebens keinen Schritt näher gekommen: Warum hungern sich eigentlich so viele der klügsten und besten jungen Menschen langsam zu Tode?

      Ein besserer Schuldiger als »die Zeitschriften« fällt uns dazu nicht ein. Das sagt mehr darüber aus, welche Gedanken die Gesellschaft im Kopf weiblicher Teenager vermutet, als über die Ursache einer Epidemie, die jedes Jahr Tausende junger Menschen umbringt und unzählige weitere dazu bringt, in einem Leben dahinzuvegetieren, in dem die schönsten Träume auf die Größe eines Tellers geschrumpft sind.

      Über Essstörungen sollte man vor allem eines wissen: Hungern, Sich vollfressen, Abführen und Erbrechen sind nicht die Ursachen des Elends. Es sind die Symptome. Die Krankheiten stecken voller Widersprüche. Der Hunger nach Nahrung, nach Ruhe, nach Spaß, nach Sex, nach Freiheit wird unterdrückt, obwohl sich die Kranke bis zur Schwelle des Todes danach verzehrt.19 All diese Krankheitsbilder prägt ein kompliziertes Wechselspiel aus Aggression und Konformität. Essstörungen treten auf, wenn sich jugendliche Rebellion kannibalisiert.

      Und sie lassen sich leichter verbergen als die meisten anderen psychischen Krankheiten, zumal in einer visuellen Kultur, in der wir uns an den Anblick extrem unterernährter junger Menschen gewöhnt haben. Erkrankungen, die nicht unbedingt zu extremem Gewichtsverlust führen, wie die Bulimie und das Binge Eating, das sich durch Essattacken auszeichnet, lassen sich relativ leicht geheim halten – zumindest eine Zeit lang. All diese Krankheiten fordern von Gehirn und Körper kurz- und langfristig einen schrecklichen Tribut, da die Betroffenen mit allen nur möglichen gefährlichen und grotesken Methoden ihr Gewicht zu regulieren versuchen, vom Aderlass über Drogenmissbrauch und übermäßigen Sport bis hin zum Erbrechen, das mit der Zeit die Wangen anschwellen und durch die Magensäure die Zähne verfaulen lässt. Das ist nicht hübsch. Es ist das garstige Geheimnis hinter einem Gutteil der modernen Schönheitskultur, und das größte Geheimnis lautet: Es ist überhaupt nicht geheim.

      Nichts davon ist geheim. Viele junge Menschen tun ihrem Körper rituell Gewalt an. Essstörungen, chronisches Ritzen und andere, weniger sichtbare Formen der Selbstverletzung wurden in den letzten zehn Jahren in einer explosionsartig ansteigenden Zahl diagnostiziert, besonders bei Mädchen, jungen Queers und allen, die unter besonderem Druck stehen, sich anzupassen.

      Es gilt, die Fassade zu wahren, auch wenn sich dahinter ein wutschnaubendes Wrack verbirgt. Wir wissen, dass »gutes« Aussehen für eine Frau Opfer, Schwäche, harte Arbeit, Krankheit, ja den Tod bedeuten kann. Die Schönheitsund Konformitätsrituale sind anstrengend, und wenn eine Frau zufällig von Natur aus aussieht wie ein Laufstegmodel, wird ihr vorgeworfen, sie habe gemogelt. Die dünne, elende Frau, die für die Kontrolle über ihren Körper Gesundheit, Glück und Geld opfert, hat mehr soziales Kapital als die dicke Frau, die Wichtigeres im Kopf hat.

      Von allen weiblichen Sünden ist Hunger die unverzeihlichste; Hunger egal wonach, nach Essen, Sex, Macht, Bildung, ja Liebe. Wenn uns nach etwas verlangt, haben wir dieses Verlangen zu verbergen, zu bändigen, uns zu beherrschen. Wir haben Objekte des Verlangens zu sein, nicht verlangende Subjekte. Wir brauchen kein Essen: Wir sind Essen, dressierbares Fleisch, Lämmer, die sich nach Bratensoße anstellen. Wir konsumieren nur das, was man uns sagt, vom Lippenstift bis zur Lebensversicherung, und auch nur das, was uns konsumierbar macht, auf dass wir besser zerkaut und verschluckt werden können von der Maschine, die unsere Arbeit, unser Geld, unsere Sexualität in mundgerechten Happen verschlingen will.

      Auch Männer erleben natürlich die Überwachung ihres Körpers, und für Übergewicht hagelt es echte Strafen. Allerdings sind diese Strafen meist nicht so existenziell; von sehr wenigen Berufen einmal abgesehen, können Männer davon ausgehen, dass sie zuerst als Seele und dann als Körper beurteilt werden. Die Körperlichkeit gilt bei Männern nicht als alles, was sie einzubringen haben. Selten muss sich ein übergewichtiger oder ungepflegter Mann anhören, dass er bestimmt einen einsamen Tod sterben wird. Ungeachtet der Bemühungen der Kosmetikindustrie, die Männer vom Gegenteil zu überzeugen, brauchen sie für »Schönheit« nach wie vor kaum mehr als eine Rasur, etwas Haargel und ein sauberes T-Shirt. Für Frauen dagegen bedeutet »Schönheit«, dass sie, um sich überhaupt in vertretbaren Rahmen zu bewegen, schon Leid und Geld investieren müssen. Unser Körper ist das Wichtigste an uns, und wenn wir ihn sich selbst überlassen, verrät er uns, wird dick und unkontrollierbar.

      In Italien gibt es die Tradition des sciopero bianco, des weißen Streiks. Auf Deutsch würde man »Dienst nach Vorschrift« sagen: Angestellte, die nicht streiken dürfen, wehren sich gegen ihren Chef, indem sie buchstabengetreu nur noch ihren Arbeitsvertrag erfüllen. Krankenschwestern gehen ab 17.01 Uhr nicht mehr ans Telefon. Bahntechniker führen so strenge Sicherheitskontrollen durch, dass die Züge stundenlang Verspätung haben. Bei Essstörungen und anderen Formen der gefährlichen Selbstverletzung wird der weiße Streik auf die Spitze getrieben: Frauen, Angestellte in prekären Arbeitsverhältnissen, junge Leute, die, völlig erschöpft vom modernen Leben, in akute Not geraten und für soziale Normkonformität einen hohen Preis zu zahlen hätten, setzen sich zur Wehr, indem sie nur noch tun, was sie tun müssen, und zwar aufs Extremste. Arbeite hart, iss weniger, konsumiere wie wahnsinnig; sei dünn und perfekt und nett, sei fügsam und folgsam, verlange dir alles ab, bis du zusammenbrichst. Es ist kein Zufall, dass Essstörungen häufig mit zwanghafter Überarbeitung und Perfektionismus in der Schule, am Arbeitsplatz oder zu Hause einhergehen. Wir haben alle Regeln befolgt, scheinen die Betroffenen zu sagen – und nun seht, wozu ihr uns getrieben habt.

      In der Schule und im Beruf sind Mädchen leichter zu steuern als Jungs. Sie sind eher bereit, für Prüfungen auswendig zu lernen, Anordnungen zu befolgen, Pflichten zu erfüllen,20 und als Belohnung werden sie oder Mädchen wie sie auf der Titelseite der örtlichen Zeitung abgebildet, wie sie im knappen Top, mit guten Noten und knackigem Hintern in die Luft springen, in der Hand das Diplom, mit dem sie den begehrten Marketing-Job an Land ziehen werden.

      Mädchen rebellieren seltener als Jungen. Zu viel steht für sie auf dem Spiel. Wir wissen, dass man uns nicht nachgibt, wenn wir zornig werden, man hat uns beigebracht, unsere Wut nach innen zu richten, eher uns weh zu tun als anderen. Wir folgen dem Stereotyp, nach dem rebellische junge Männer andere verletzen, durchgedrehte junge Frauen dagegen sich selbst, zwanghaft, gefährlich. Essstörungen und Selbstverletzung, Fressattacken, Erbrechen, Hungern, Ritzen und Brennen – das alles wird zu einer wortlosen Sprache der weiblichen Not. Wenn ihr es in eurer Jugend nicht auch gemacht habt, kennt ihr sicher jemanden. Wir erfahren dieses Trauma am eigenen Leib. Es ist körperlich. Es tut verdammt weh.

       Work it, Baby

      Der »Neue Feminismus«, wie er sich nannte – das


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