Jugend in Berlin. Michael Kruse

Jugend in Berlin - Michael Kruse


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Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, welche Rolle die Medien für die Jugendlichen bei der Wahrnehmung der anderen Stadthälfte spielten, wie sie die Öffnung der Grenzen erlebten, wie sie den Vollzug der deutschen Einheit erfuhren und wie sie die Zukunft in einem geeinten Deutschland einschätzen. Diese Regionalstudie Labor Berlin betrachtet die Entwicklung der Hauptstadt seit dem Fall der Mauer, wie sie als erste Region in Europa zusammenwuchs. Berlin wird an der Schnittstelle von Ost und West als Vorreiter für einen globalisierten Wandel gesehen, der insbesondere von den Medien vorangetrieben wurde. Denn in den letzten 30 Jahren erfolgte eine weltweite Globalisierung und Digitalisierung, die für das Kommunikationsprojekt Deutsche Einheit einen einzigartigen Umbruch darstellte. Spannend wird es sein, zu beobachten, ob die digitale Moderne ein Zeitalter des Dialogs oder eine Epoche des Aufeinanderbrüllens wird. Die vorliegende Untersuchung beschreibt im Detail, welche Medien diesen rasanten, ungesteuerten Prozess nicht nur abbildeten, sondern auch beschleunigten – und dabei auch Realitäten veränderten. Den Abschluss bilden (medien-)pädagogische und politische Anregungen, die sich aus der Untersuchung ergeben und in die Praxis umgesetzt werden sollten.

       Jugend in Berlin – Opfer der Einheit?

      Spricht man heute über die Hauptstadt Berlin, so stehen wirtschaftliche und politische Aspekte der deutschen Einheit im Vordergrund. Die Regierung ist nach Berlin gezogen, unzählige Wirtschafts- und Lobbyverbände haben ihren Sitz in der Bundeshauptstadt gefunden, und Medien aus aller Welt berichten über das neue Leben in der Stadt. Selten jedoch kommen Jugendliche zu Wort. Deshalb sollen hier ihren Erfahrungen und Sichtweisen breitester Raum eingeräumt werden, verbunden mit der spannenden Frage, ob diese letzte Generation der Mauerkinder sich heute als Verlierer oder Gewinner der deutschen Einheit sieht.

       Berlin – 30 Jahre nach der deutschen Einheit

      Berlin, Zentrum der deutschen Ost-West-Auseinandersetzung, hat sich fast beiläufig zu einer wirklichen Metropole entwickelt, und wie jede Metropole der Welt ist sie multikulturell, voller Menschen, die die innerdeutsche Beziehungskiste mit ihren gegenseitigen Kränkungen eher wenig interessiert. Bodo Morshäuser erinnert sich an das alte Westberlin so: „Ich verglich die Weltstädte mit dieser ehemaligen Halbstadt und schien in ein Dorf, nach Bad Berlin wiederzukehren, der stillsten der großen Städte, verschont vom Durchgangsverkehr und ohne erwähnenswerte Dichte. Westberlin war nicht die Stadt, die mit Modernität, sondern mit Rückständigkeit, weniger mit Geschwindigkeit als mit Betulichkeit faszinierte. Die Stadt schrie nicht, sie flüsterte, zog dich nicht in sich hinein. Sie strahlte allein dadurch, dass es sie gab, wie es sie gab: geschlossen“ (Morshäuser 1992: 164).

      Heute boomt Berlin an allen Ecken und Enden. Der Potsdamer Platz, das Regierungsviertel, der Hauptbahnhof, aber auch zahlreiche neue Bürohochhäuser kündigen eine Hauptstadt an, die ihre neue Rolle als eine der wichtigsten Städte in Europa gefunden hat. Thomas Krüger, ehemaliger Jugendsenator von Berlin, drückt es so aus: „Die einst schlafende Schönheit Berlins bekommt ein junges, frisch aufgelegtes und neugieriges Gesicht“ (Krüger 1998: 22). Berlin hat seit seiner Teilung 1961 über die Maueröffnung 1989 bis 30 Jahre nach der deutschen Einheit einen dramatischen Wandel vollzogen. Nirgendwo erlebt man den epochalen Wandel so unmittelbar an der Schnittstelle von Ost und West wie am Potsdamer Platz. Auf wenigen Hektar Fläche dokumentieren Konsum und Lebensstil, wie sich die Welt verändert hat.

      Nach dem Mauerfall wucherte noch Unkraut über dem öden Areal. Ein paar Schutthaufen erinnerten an den Krieg, der Deutschland und die Welt teilte – ein Niemandsland zwischen Ost und West. Heute zieht es ca. 14 Millionen Tourist*innen pro Jahr nach Berlin. Die Besucher*innen spazieren durch die zugigen Straßen einer Retortenstadt und erleben die bunte Warenwelt der globalen Wirtschaft. Der Architekt Hans Kollhoff, einer der Erbauer des Potsdamer Platzes, weist in einem Interview darauf hin, dass Berlin auch als Las Vegas eine Rolle spielt: „Das Las-Vegas-Bild hat mit der Lage Berlins zu tun. Berlin liegt in der Wüste. Sie müssen eineinhalb Stunden mit dem Auto fahren, um die Lichter einer anderen Stadt zu sehen“ (Görke/Goldmann/Nowakowski in: Der Tagesspiegel vom 11.09.2006). Nicht nur in West und Ost gab es in den letzten 30 Jahren spannende und hochinteressante Veränderungen, sondern Berlin insgesamt übt unverändert eine große Faszination aus, insbesondere auf die jugendlichen Besucher*innen aus aller Welt.

       Jugend in der wiedervereinigten Hauptstadt – vergessen und an den Rand gedrängt?

      Erstmalig erlebte eine Kinder- und Jugendgeneration die auch für sie völlig unerwartete Wiedervereinigung zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Dabei bestimmten Erwachsene, nach welchen Vorstellungen sich die Stadt weiterentwickeln werde. Einzige sichtbare Zäsur im institutionalisierten politischen System für das vereinte Deutschland war der Regierungsumzug nach Berlin. Heute agiert die Politik in einem völlig neuen Umfeld und doch ist sie der Hauptstadt und ihren Bürger*innen nicht nähergekommen. Der Berliner Schriftsteller und Komponist Hans G. Helms drückt es so aus: „Zu übersehen ist freilich auch nicht, was für Kapital und Obrigkeit durchaus von Relevanz ist: Gentrification meint stets politisch-soziale Pazifizierung. Die Yuppie-Heuschrecken werden die Hausbesetzer und Autonomen, die Hooligans und Skinheads restlos vertilgen oder wenigstens verdrängen“ (Helms 1992: 11). Eine sehr pessimistische Einschätzung, die zumindest derzeit nicht geteilt werden kann, obwohl sich mit dem Projekt Mediaspree in Friedrichshain-Kreuzberg große Veränderungen in dieser Hinsicht andeuten. Denn die Gefahr, die dabei besteht, dass Jugendliche und ihre Interessen in der Hauptstadt unterzugehen drohen, ist nicht zu unterschätzen.

      Und deshalb kommen in dieser Untersuchung Berliner Jugendliche selbst zu Wort: Wie sie den Fall der Mauer erlebt haben, was sie am Tag der deutschen Einheit empfanden, und wie sie ihre Perspektive 30 Jahre nach dem Mauerfall sehen. Dabei sollen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede, wie sie die Jugendlichen selbst beschreiben, herausgearbeitet werden. Denn Ost- und Westbeziehungen waren nicht immer ganz einfach. Einigen hing das Thema zum Halse heraus, viele sind dagegen der Meinung, dass die deutsche Einheit inzwischen auch mental vollzogen ist. Deshalb will die vorliegende Studie einen Beitrag dazu leisten, nicht nur eine Bestandsaufnahme aus Sicht der Jugendlichen in Berlin vorzulegen, sondern auch zur Diskussion über Perspektiven Jugendlicher in der Hauptstadt anzuregen.

       Neukölln und Treptow

      Bei der Auswahl der Bezirke stehen zwei Berliner Bezirke im Mittelpunkt, die für die Entwicklung der Stadt typisch sind und geografisch nebeneinanderliegen: die Bezirke Neukölln und Treptow. Neukölln (290.300 Einwohner*innen im Jahr 1987; 2018 waren es 329.767 Menschen aus 160 Nationen), im Norden durch Altbauhäuser um die Jahrhundertwende geprägt, ferner das Rollbergviertel, eine Siedlung mit etwa 2.000 Wohnungen in Betonburgen, die nach der Kahlschlagsanierung in den 1970er Jahren entstanden ist, in der Mitte ein großes Industriegebiet und im Süden dorfähnliche Strukturen (Britz, Buckow und Rudow) und die gewaltige Hochhaussiedlung der Gropiusstadt mit Berlins größtem Einkaufscenter, bot sich als eines der beiden Untersuchungsgebiete an. Negativ in die Schlagzeilen durch einen Bericht des Spiegel gebracht, ist hier das Image trotz starker Yuppisierung („Kreuzkölln“) besonders fragwürdig. Verwahrlosung, Gewalt und sogar Hunger würden den Alltag im bevölkerungsreichsten Berliner Bezirk prägen, das Rathaus sei „das größte Sozialamt Deutschlands“, so Peter Wensierski in Der Spiegel 43/1997. Mittlerweile ist es angesagt, in den Norden Neuköllns zu ziehen, was zu einer massiven Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung führt. Im Süden, wo es weniger Probleme gab, ist die Lage stabil geblieben. Die Arbeitslosenquote in Neukölln liegt bei 12,1 %. Erschreckend ist der Anstieg der Kinderarmut: Sie ist von 10 % im Jahr 2001 auf 55,9 % im Jahr 2018 gestiegen. Neukölln wird als erster deutscher Slum ausgemacht. Aber es gibt auch sehr idyllische Ecken: „Ja, also ich wohne in Berlin, das ist ein Einfamilienhaus. Es ist im Blumenviertel, also etwas im Grünen, etwas ruhig, es ist ein recht großes Haus, wo wir also zu viert inklusive Hund leben, mit


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