Jesus war kein Europäer. Kenneth E. Bailey
denn das (Kind) in mir bedrängt mich und will herauskommen.“27 Daraufhin lässt Josef Maria in einer Höhle zurück und eilt nach Bethlehem, um eine Hebamme zu suchen. Nachdem er auf dem Weg sonderbare Visionen empfangen hat, kehrt Josef mit der Hebamme (das Kind ist übrigens inzwischen geboren) zur Höhle zurück, die zuerst von einer dunklen Wolke und dann von einem hellen Licht umgeben ist. Eine Frau namens Salome taucht aus dem Nichts auf und die Hebamme erklärt ihr, eine Jungfrau habe ein Kind zur Welt gebracht, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Salome an diesem Wunder zweifelt, wird ihre Hand von Aussatz befallen. Eine Untersuchung bestätigt Marias Behauptung. Dann steht plötzlich ein Engel vor Salome und sagt ihr, sie solle das Kind berühren. Als diese der Aufforderung nachkommt, wird ihre kranke Hand geheilt …
Auf diese Weise spinnt der Roman seine Geschichte fort. Autoren, die beliebte Romane schreiben, haben meistens eine blühende Fantasie. Dass Jesus geboren wurde, noch bevor seine Eltern Bethlehem erreichen, bildete einen wichtigen Teil der Handlung. Die Vorstellung, dass Jesus in der Nacht geboren wurde, als Maria und Josef nach oder in die Nähe Bethlehems gelangten, begegnet uns in diesem Roman zum ersten Mal. Die meisten Christen sind, selbst wenn sie noch nie von diesem Roman gehört haben, dennoch von seinen Vorstellungen beeinflusst.28 Der Roman ist eine fantasievolle Ausschmückung des Evangelienberichts, unterscheidet sich jedoch von diesem.
Die Probleme in der traditionellen Interpretation von Lukas 2,1-7 kann man wie folgt zusammenfassen: Josef kehrte in seinen Heimatort zurück, wo er leicht eine Unterkunft gefunden hätte. Als Nachkomme König Davids hätten ihm fast alle Türen offen gestanden. Ferner hatte Maria Verwandte in der Nähe, die sie hätte aufsuchen können. Die Zeit hätte ausgereicht, eine angemessene Unterkunft zu organisieren. Warum hätte eine jüdische Stadt einer jungen jüdischen Mutter, die kurz vor der Niederkunft stand, nicht helfen sollen? – Wie sollen wir also im Licht dieser kulturellen Realitäten den Text verstehen? Diese Frage führt uns zu zwei weiteren: Wo stand die Futterkrippe? Was war die „Herberge“?
Verschiedene Beobachtungen verhelfen hier zu einer Antwort. Zunächst stellen wir fest, dass der Bericht im Lukasevangelium tatsächlich der Geografie und Geschichte des Heiligen Landes entspricht. Der Text berichtet, dass Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem „hinaufgingen“. Bethlehem ist auf einem Gebirgskamm erbaut und liegt wesentlich höher als Nazareth.29 Zweitens war die Bezeichnung „Stadt Davids“ wohl eher in der Gegend dort gebräuchlich, sodass Lukas für die nicht ortskundigen Leser den Zusatz „die Bethlehem heißt“ hinzufügt. Drittens informiert der Text den Leser darüber, dass Josef „aus dem Haus und Geschlecht Davids“ stammte. Im Nahen Osten ist „das Haus von XYZ“ gleichbedeutend mit „die Familie von XYZ“. Griechische Leser dieses Berichts hätten sich bei dieser Formulierung vielleicht ein Gebäude vorgestellt. Möglicherweise setzte Lukas den Begriff Geschlecht hinzu, um ganz sicherzugehen, dass seine Leser ihn verstanden. Er veränderte den offenbar schon ausgebildeten Text nicht, als er ihn erhielt (Lk 1,2). Doch besaß er die Freiheit, einige erläuternde Anmerkungen einzufügen. Viertens erwähnt Lukas, das Kind sei in Windeln gewickelt gewesen. Dieser alte Brauch wird schon in Hesekiel 16,4 erwähnt und wird von der ländlichen Bevölkerung Syriens und Palästinas immer noch praktiziert. Und schließlich bezeugt der Bericht eine davidische Christologie. Diese fünf Punkte unterstreichen, dass der Text schon sehr früh im Leben der Urgemeinde von einem messianischen Juden verfasst wurde.
Wenn ein Mensch aus der westlichen Welt das Wort [Futter]krippe hört, denkt er zunächst an Stall oder Scheune – jedenfalls an ein Gebäude, in dem auch Tiere gehalten werden können. Im Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12,16-21) werden im griechischen Grundtext „Lagerhäuser“ erwähnt, aber keine Scheune im üblichen Sinn. Sehr reiche Menschen hatten natürlich abgetrennte Räumlichkeiten für die Tiere.30 Doch in einfachen Dorfhäusern in Palästina gab es oft nur zwei Räume. Einer davon war ausschließlich für Gäste bestimmt. Dieser Raum konnte an das Hauses angebaut oder eine „Prophetenkammer“ auf dem Dach sein, wie in der Geschichte von Elia (1Kö 17,19). Der Hauptraum war ein „Familienzimmer“, in dem die sich die gesamte Familie aufhielt. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen und gewohnt. Die Seite, auf der man den Raum betrat, lag entweder um einiges tiefer als der Rest des Bodens oder war mit schweren Holzbalken abgeteilt. Jeden Abend wurden die Kuh der Familie, der Esel und ein paar Schafe in diesen abgetrennten Bereich getrieben, und jeden Morgen wurden die Tiere wieder hinausgeführt und im Hof angebunden. Dann wurde der Tierverschlag für den Tag gesäubert. Solche einfachen Häuser gab es von der Zeit des Königs David an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe sie sowohl in Obergaliläa als auch in Bethlehem gesehen. Abbildung 1.1 zeigt ein solches Haus schematisch von der Seite.
Abbildung 1.1: Typisches Dorfhaus in Palästina, Seitenansicht
Manchmal ist auf dem Flachdach ein Raum für Gäste erbaut, oder dieser liegt als Anbau neben dem Haus. Die Tür im Erdgeschoss dient als Eingang für Menschen und Tiere. Der Bauer will die Tiere jede Nacht im Haus haben, weil sie im Winter eine Wärmequelle bieten und so außerdem vor Dieben sicher sind. Abbildung 1.2 zeigt das gleiche Haus von oben.
Abbildung 1.2: Typisches Dorfhaus in Palästina, Grundriss
Die länglichen Kreise stellen die Futterkrippen dar, die in den niedriger gelegenen Teil des Wohnraumes gegraben sind. Das „Wohnzimmer“ der Familie ist in Richtung des Tierverschlags leicht abschüssig, was das Fegen und Waschen erleichtert. Schmutz und Wasser bewegen sich natürlicherweise „bergab“ zum Stellplatz für die Tiere hin und können zur Tür hinausgefegt werden. Wenn die Kuh der Familie nachts Hunger bekommt, kann sie aufstehen und aus den Futterkrippen fressen. Für die Schafe kann es hölzerne Futterraufen geben, die man auf den Boden des niedriger gelegenen Raumes stellt.
Diese traditionelle Hausbauweise passt ganz natürlich zum Bericht der Geburt Jesu. Doch auch in den Berichten des Alten Testaments treten solche Häuser indirekt in Erscheinung. In 1. Samuel 28 war Saul zu Gast im Haus der Totenbeschwörerin von Endor, und es wird berichtet, dass der König sich weigerte zu essen. Da nahm die Frau ein gemästetes Kalb, das sie „im Haus“ (V. 24) hatte, schlachtete es und bereitete eine Mahlzeit für den König und seine Diener. Sie holte das Kalb nicht von der Wiese oder aus dem Stall, sondern aus dem Inneren des Hauses.
Die Geschichte von Jeftah in Richter 11,29-40 setzt die gleiche Art Einraumhaus voraus. Auf seinem Weg in den Krieg legte Jeftah einen Eid ab, das Erste zu opfern, das ihm bei seiner Rückkehr aus dem Haus entgegenlaufe, sollte Gott ihm den Sieg schenken. Jeftah gewann die Schlacht, doch als er nach Hause zurückkehrte, war es – tragischerweise und zu seinem großen Entsetzen – seine Tochter, die ihm als Erste aus dem Haus entgegenkam. Höchstwahrscheinlich kehrte er in den frühen Morgenstunden zurück und erwartete zweifellos, ihm komme eines der Tiere aus dem Haus entgegengesprungen, wo es die ganze Nacht über mit allen anderen eingepfercht gewesen war. Der Bibeltext erzählt uns nicht von einem brutalen Schlächter, sondern der Leser muss annehmen, dass Jeftah nie der Gedanke kam, er würde zuallererst auf ein Familienmitglied treffen. Nur unter dieser Voraussetzung ergibt die Geschichte überhaupt einen Sinn. Wäre das Haus nur von Menschen bewohnt gewesen, hätte Jeftah niemals einen solchen Eid geleistet – denn wen hätte er ermorden wollen oder warum? Die Geschichte wird zur Tragödie, weil Jeftahs ein Tier erwartet hatte.
Die gleichen einfachen Häuser treten im Neuen Testament in Erscheinung. In Matthäus 5,15 sagt Jesus: „Man zündet auch nicht eine Lampe an und setzt sie unter den Scheffel, sondern auf das Lampengestell, und sie leuchtet allen, die im Hause sind.“ Natürlich geht Jesus hier von einem typischen Dorfhaus mit einem Raum aus. Wenn eine einfache Lampe allen im Haus Licht spendet, kann dieses Haus nur einen Raum haben.
Ein weiteres Beispiel für die gleiche unausgesprochene Annahme findet sich in Lukas 13,10-17, als Jesus eine Frau am Sabbat heilte, die „zusammengekrümmt und völlig unfähig [war], sich aufzurichten“. Jesus rief sie und sprach sie an: „Frau, du bist gelöst [wörtlich: losgebunden] von deiner Schwäche.“ Der Synagogenvorsteher war wütend, weil Jesus am Sabbat „gearbeitet“ hatte. Jesus antwortete: