Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil


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Bemerkung als Lästerung des Vaterlands oder als Gotteslästerung aufzufassen sei. Er wurde damals in dem vornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie erzogen, das die edelsten Stützen des Staates lieferte, und sein Vater, erbost über die Beschämung, die ihm sein weit vom Stamme gefallener Apfel bereitete, schickte Ulrich in die Fremde fort, in ein kleines belgisches Erziehungsinstitut, das in einer unbekannten Stadt lag und, mit kluger kaufmännischer Betriebsamkeit verwaltet, bei billigen Preisen einen großen Umsatz an entgleisten Schülern hatte. Dort lernte Ulrich, seine Mißachtung der Ideale anderer international zu erweitern.

      Seither waren sechzehn oder siebzehn Jahre vergangen, wie die Wolken am Himmel treiben. Ulrich bereute sie weder, noch war er auf sie stolz, er sah ihnen in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr einfach erstaunt nach. Er war inzwischen da und dort gewesen, manchmal auch kurze Zeit in der Heimat, und hatte überall Wertvolles und Nutzloses getrieben. Es ist schon angedeutet worden, daß er Mathematiker war, und mehr braucht davon noch nicht gesagt zu werden, denn in jedem Beruf, wenn man ihn nicht für Geld, sondern um der Liebe willen ausübt, kommt ein Augenblick, wo die ansteigenden Jahre ins Nichts zu führen scheinen. Nachdem dieser Augenblick längere Zeit angedauert hatte, erinnerte sich Ulrich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fälligkeit zuschreibe, das Sinnen wurzelständig und bodenecht zu machen, und er ließ sich in ihr mit dem Gefühl eines Wanderers nieder, der sich für die Ewigkeit auf eine Bank setzt, obgleich er ahnt, daß er sofort wieder aufstehen wird.

      Als er dabei sein Haus bestellte, wie es die Bibel nennt, machte er eine Erfahrung, auf die er eigentlich nur gewartet hatte. Er hatte sich in die angenehme Lage versetzt, sein verwahrlostes kleines Besitztum nach Belieben vom Ei an neu herrichten zu müssen. Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen? Der moderne Mensch wird in der Klinik geboren und stirbt in der Klinik: also soll er auch wie in einer Klinik wohnen! – Diese Forderung hatte soeben ein führender Baukünstler aufgestellt, und ein anderer Reformer der Inneneinrichtung verlangte verschiebbare Wände der Wohnungen, mit der Begründung, daß der Mensch dem Menschen zusammenlebend vertrauen lernen müsse und nicht sich separatistisch abschließen dürfe. Es hatte damals gerade eine neue Zeit begonnen (denn das tut sie in jedem Augenblick), und eine neue Zeit braucht einen neuen Stil. Zu Ulrichs Glück besaß das Schloßhäuschen, so wie er es vorfand, bereits drei Stile übereinander, so daß man wirklich nicht alles damit vornehmen konnte, was verlangt wurde; dennoch fühlte er sich von der Verantwortung, sich ein Haus einrichten zu dürfen, gewaltig aufgerüttelt, und die Drohung »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist«, die er wiederholt in Kunstzeitschriften gelesen hatte, schwebte über seinem Haupt. Nach eingehender Beschäftigung mit diesen Zeitschriften kam er zu der Entscheidung, daß er den Ausbau seiner Persönlichkeit doch lieber selbst in die Hand nehmen wolle, und begann seine zukünftigen Möbel eigenhändig zu entwerfen. Aber wenn er sich soeben eine wuchtige Eindrucksform ausgedacht hatte, fiel ihm ein, daß man an ihre Stelle doch ebensogut eine technisch-schmalkräftige Zweckform setzen könnte, und wenn er eine von Kraft ausgezehrte Eisenbetonform entwarf, erinnerte er sich an die märzhaft mageren Formen eines dreizehnjährigen Mädchens und begann zu träumen, statt sich zu entschließen.

      Es war das – in einer Angelegenheit, die ihm im Ernst nicht besonders nahe ging – die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist und deren merkwürdige Arithmetik ausmacht, die vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben. Schließlich dachte er sich überhaupt nur noch unausführbare Zimmer aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele, und seine Einfälle wurden immer inhaltsloser. Da war er endlich auf dem Punkt, zu dem es ihn hinzog. Sein Vater würde es ungefähr so ausgedrückt haben: Wen man tun ließe, was er wolle, der könnte sich bald vor Verwirrung den Kopf einrennen. Oder auch so: Wer sich erfüllen kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er wünschen soll. Ulrich wiederholte sich das mit großem Genuß. Diese Altvordernweisheit kam ihm als ein außerordentlich neuer Gedanke vor. Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in seiner Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand; – es ist in der Tat kaum abzusehen, was dieser Gedanke bedeutet! Nun, der Mann ohne Eigenschaften, der in seine Heimat zurückgekehrt war, tat auch den zweiten Schritt, um sich von außen, durch die Lebensumstände bilden zu lassen, er überließ an diesem Punkt seiner Überlegungen die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten, in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden. Er selbst frischte nur die alten Linien auf, die von früher da waren, die dunklen Hirschgeweihe unter den weißen Wölbungen der kleinen Halle oder die steife Decke des Salons, und tat im übrigen alles hinzu, was ihm zweckhaft und bequem vorkam.

      Als alles fertig war, durfte er den Kopf schütteln und sich fragen: dies ist also das Leben, das meines werden soll? – Es war ein entzückendes kleines Palais, was er da besaß; fast mußte man es so nennen, denn es war ganz so, wie man sich seinesgleichen denkt, eine geschmackvolle Residenz für einen Residenten, wie ihn sich Möbel-, Teppich- und Installationsfirmen vorgestellt hatten, die auf ihrem Gebiete führen. Es fehlte nur, daß dieses reizende Uhrwerk nicht aufgezogen war; denn dann wären Equipagen mit hohen Würdenträgern und vornehmen Damen die Auffahrt emporgerollt, Lakaien wären von den Trittbrettern gesprungen und hätten Ulrich mißtrauisch gefragt: »Guter Mann, wo ist Euer Herr?«

      Er war vom Mond zurückgekehrt und hatte sich sofort wieder wie am Mond eingerichtet.

      6

      Leona oder eine perspektivische Verschiebung

      Wenn man sein Haus bestellt hat, soll man auch ein Weib freien. Ulrichs Freundin in jenen Tagen hieß Leontine und war Liedersängerin in einem kleinen Varieté; sie war groß, schlank und voll, aufreizend leblos, und er nannte sie Leona.

      Sie war ihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts und durch die gefühlvollen Lieder, die sie an Stelle von unzüchtigen sang. Alle diese altmodischen kleinen Gesänge hatten Liebe, Leid, Treue, Verlassenheit, Waldesrauschen und Forellenblinken zum Inhalt. Leona stand groß und bis in die Knochen verlassen auf der kleinen Bühne und sang sie mit der Stimme einer Hausfrau geduldig ins Publikum, und wenn dazwischen doch kleine sittliche Gewagtheiten unterliefen, so wirkten sie um so gespenstischer, als dieses Mädchen die tragischen wie die neckischen Gefühle des Herzens mit den gleichen mühsam buchstabierten Gebärden unterstützte. Ulrich fühlte sich sofort an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter erinnert, und während er sich in das Gesicht dieser Frau hineindachte, bemerkte er darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen; aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben und zu Glück und Schönheit gemacht, während alle anderen Gesichter sich dann diesem anzugleichen suchen; und selbst häßlichen gelingt das ungefähr, mit Hilfe von Frisur und Mode, und nur jenen zu seltsamen Erfolgen geborenen Gesichtern gelingt es niemals, in denen sich das königliche und vertriebene Schönheitsideal einer früheren Zeit ohne Zugeständnisse ausspricht. Solche Gesichter wandern wie Leichen früherer Gelüste in der großen Wesenlosigkeit des Liebesbetriebs, und den Männern, die in die weite Langweile von Leontinens Gesang gafften und nicht wußten, was ihnen geschah, bewegten ganz andre Gefühle die Nasenflügel als vor den kleinen frechen Chanteusen mit den Tangofrisuren. Da beschloß Ulrich, sie Leona zu nennen, und ihr Besitz erschien ihm begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.

      Nachdem aber ihre Bekanntschaft begonnen hatte, entwickelte Leona noch eine unzeitgemäße Eigenschaft, sie war in ungeheurem Maße gefräßig, und das ist ein Laster, dessen große Ausbildung längst aus der Mode gekommen ist. Es war seinem Entstehen nach die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes Kind nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; nun besaß es die Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen


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