Das Meer und das Leben. Gerald Schneider

Das Meer und das Leben - Gerald Schneider


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in die See war mit einer martialischen Geräuschkulisse verbunden, denn der hohle Schiffskörper wirkte wie ein Resonanzboden. Da unsere Spinde zum Bug ausgerichtet waren, hatte ich das Gefühl, gleich würden die Türen auffliegen und das Wasser mit wildem Schwall in die Kammer stürzen. Jedenfalls hörte es sich so an, wenn die See auf den Rumpf einprügelte, wobei sich der Effekt noch dadurch verstärkte, dass die vier Spindtüren bei jeder Welle gleichzeitig wie im Chor hin- und her klapperten.

      Meine drei Kollegen hatten sich ebenfalls in die Kojen verholt. Einer lag mit offenen Augen und an die Decke gerichteten Blick da, einem ist es tatsächlich gelungen, einzuschlafen und der Dritte lag zusammengekrümmt auf der Seite und dachte vielleicht an bessere Tage. Akute Seekrankheit wurde aber bei niemandem beobachtet.

      Erst als ich lag, spürte ich am eigenen Leibe die körperliche Belastung, der wir in dem starken Seegang ausgesetzt waren. Immer wenn „Alkor“ in das Wellental fiel, hob sich der Körper ein wenig und befand sich nahezu im freien Fall, wurde ganz leicht und gelegentlich kitzelte es im Bauch so lustig. Wenn anschließend das Schiff in die See stieß, wurde ich wiederum mit brutaler Gewalt auf die Matratze gepresst, mein Körper deformierte sich, wurde schwer. Als wenn zusätzliche Gewichte auf mir lägen. Das Blut stieg mir zu Kopf, wobei ich sehr unangenehm den Druckanstieg in den Halsschlagadern wahrnahm. Dann wurde ich wieder leicht und der Zyklus wiederholte sich. Mein Körper wechselte – bildlich übertrieben – zwischen einer hochovalen und einer breitovalen Form. So ging es Stunden für Stunde, ohne Pause.

      Diese rhythmischen Deformationen, vor allem das fast atemraubende Zusammengepresst-Werden, sind mir als besonders ekliges Gefühl sehr klar in Erinnerung geblieben und ich benötige meine Tagebücher nicht, um mich ihrer in der Ostsee und bei verschiedenen ähnlichen Situationen im großen Ozean lebhaft und mit Abscheu zu erinnern. Seefahrt tut not – aber warum müssen gerade wir dabei sein?

      Wie hoch waren nun unsere Wellen? Diejenigen, die mich danach gefragt haben, waren in der Regel mit den „Na so drei bis dreieinhalb, maximal vier Meter“ häufig nicht zufrieden und machten ein leicht enttäuschtes Gesicht. Wahrscheinlich kannten sie die Beschreibungen der Beaufort-Skala, bei der für die Windstärken 9 bzw. 10 von „hohen Wellenbergen“ und von „sehr hohen Wellenbergen“ die Rede ist. Das widersprach sich dann mit meinen Angaben. Aber, die Diskrepanz beruht auf einem Missverständnis.

      Die Beaufort-Skala – zurückgehend auf den 1774 in Irland geborenen Admiral seine Majestät Sir Francis Beaufort – gibt Beschreibungen der See für einen so genannten „ausgereiften“ Seegang. Der Seegang oder die Höhe von Wellen ist nicht allein von der Windstärke abhängig, sondern auch von der Dauer und der Wegstrecke, auf die der Wind Zugriff hat. Im Prinzip weiß das jeder, denn niemand erwartet ernsthaft während eines sommerlichen Gewittersturmes von zwei Stunden Dauer eine wirklich entscheidende Veränderung der Wellenhöhen am Strand. Genauso erwartet niemand während eines herbstlichen Orkans in der norddeutschen Tiefebene, dass der Dorfteich als 15-Meter-Welle neben das Teichbett springt.

      Also, ein ausgereifter Seegang, mit maximalen Wellenhöhen ist abhängig von der Windgeschwindigkeit, der Dauer und der effektiven Zugriffslänge des Windes. Ein ausgereifter Seegang der Windstärke 9 erzeugt mittlere Wellenhöhen von 11 m und Maximalwellen von über 20 Meter. Dies aber nur, wenn es zuvor mindestens 52 Stunden gestürmt hat und der Wind eine Wirklänge von fast 1000 Seemeilen hatte. Eine Windstärke 11 benötigt für einen ausgereiften Seegang über 100 Stunden und 2500 Seemeilen!

      Ich habe mich nie dazu hinreißen lassen, Wellenhöhen zu schätzen. Das ist aus verschiedenen optischen Effekten nur mit sehr viel Erfahrung möglich. Zunächst ist das Meer ein Raum ohne Dimensionen, denn Schätzungen sind nur mit Vergleichen möglich. Die Höhe eines Baumes schätzen wir an Land im Vergleich zu uns bekannten Gegenständen, wie z. B. an der Höhe von Häusern, von Autos oder Menschen. Diese sind unsere inneren Messlatten, mit denen wir an Land sehr gut zurechtkommen.

      Auf dem Meer gibt es die aber nicht. Viele Leser werden schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass sie an einem Strand stehen und ein Schiff über dem Horizont auftauchen sehen. Es wird größer und größer und dann ist es voll sichtbar, ein enormer „Kasten“. Nähert sich aber nun das Schiff dem Land und fährt in den Hafen ein, reduziert sich die scheinbare Größe auf ein normales Maß, denn nun können wir unser inneres Metermaß anwenden. Am Horizont der freien See ist das nicht der Fall, der Horizont ist scheinbar „unendlich“ weit weg und deswegen wird das Schiff höher wahrgenommen als es ist.

      Aber noch aus einem zweiten Grund sind Wellenschätzungen kritisch: Die Wellenhöhe ist die Differenz zwischen dem höchsten Punkt der Welle und dem tiefsten des Tales. Beide Punkte liegen aber nicht senkrecht übereinander, sondern um viele Meter versetzt. Wir neigen daher dazu, die Länge der Flanke einer Welle in die Höhenschätzung miteinzubeziehen. Bei vier Meter hohen Wellen beträgt die Länge der Wellenflanke etwa 10 m. Diese Länge verwenden wir unwillkürlich auch zur Höhenschätzung. Wenn wir also aus der Ferne einen Wellenberg auf uns zurollen sehen, schauen wir auf die Flanke und schätzen daraus die Höhe. Fast immer deutlich zu hoch.

      Ich halte mich daher lieber an Tabellen, die die Ozeanographen entwickelt haben und schätze die Wellenhöhen anhand der vorliegenden Bedingungen. In dem hier beschriebenen Fall lag also Windstärke 9 – 10 vor, die aber bisher nur rund 20 Stunden gewirkt hatte. Die Zugriffslänge entsprach etwa dem Abstand zwischen der Schleswig-Holsteinischen Ostküste und Bornholm. Das sind rund 180 – 200 Seemeilen. Die kurze Wirkzeit und die ebenfalls relativ kurze Wirklänge erlauben aber nur die Ausbildung eines ausgereiften Seeganges entsprechend der Windstärke 6. Das sind dann Wellen bis maximal vier Meter und um drei Meter im Mittel. Das mag die Romanleser enttäuschen, aber so etwas in einem 30-Meter-Kutter tatsächlich abzureiten ist eine andere Geschichte, denn unser Schiffchen erreichte Steigwinkel in Längsachse von bis zu 30° und Neigungswinkel (Krängung) in zumindest einem Fall von über 30°. Das ist „ordentlich“ Bewegung.

      Noch etwas ergibt sich aus dem Gesagten. Da der Wind eine bestimmte minimale Zugriffslänge für einen ausgereiften Seegang benötigt, gibt es in der Ostsee auch bei schwerstem Orkan nur einen Seegang entsprechend Windstärke 7. Für mehr ist die Ostsee zu klein. Aber Vorsicht, eine „ausgereifte sieben“ hat Wellen bis 9 Meter, das sind drei Stockwerke!

      Kehren wir aber nun wieder auf unser durchgeschütteltes Schiffchen zurück. Während der Aufruhr draußen unbeeindruckt weiterging, bin ich ein wenig in den Schlaf gesackt. Aber nicht tief, denn die Bewegungen und die Geräusche drangen immer noch zu mir durch. Plötzlich war da noch einer im Spiel: Mein Magen. Der wollte doch tatsächlich etwas zu essen! Also wälzte ich mich aus der Koje, begab mich nach oben und tat ihm den kleinen Gefallen.

      Festgekeilt schmierte ich mir mit Schwierigkeiten ein paar Brote, setzte mich an Deck und stellte fest, dass da noch andere waren. Vereint saßen wir zusammen und schauten in den hereinbrechenden Abend. Bornholm war nun tatsächlich hinter dem Horizont verschwunden, die Sonne stand schon sehr niedrig und von Osten legte sich langsam die Dunkelheit über die aufgewühlten Wassermassen. Die tief stehende Sonne verlieh den vorbeiziehenden Gischtkaskaden den gleichen goldenen Schein, den auch die Gischtkronen der Wellen jetzt trugen. Die Seen selbst wirkten dagegen bereits fast schwarz, wodurch ein wunderschönes Farbenspiel in Verein mit dem tiefen, dunklen, die Nacht ankündigenden Blau des Himmels entstand. Dann verlosch die Sonne und sofort ging die eben noch schöne Szenerie in ein mattes, aber tristes Grau über.

      Jeglicher Zauber war wie mit einem Schlag verschwunden. Im Westen glühte der Himmel aber noch in kräftigen gelben Tönen und ich eilte schnell auf das Brückendeck. Wir fuhren diesem Himmel und den schwarz wie Scherenschnitten erscheinenden Wellen entgegen. Diese Kontraste und optischen Effekte entschädigen zumindest mich jedes Mal für das Ungemach, bei Sturm so durchgeschüttelt zu werden.

      Ich war gerade wieder zurück, da passierte es: Es gab einen heftigen Schlag und eine mannshohe Wassermauer brach vom Bug kommend über das Schanzkleid herein, tobte sich auf dem Achterdeck aus und „taufte“ meine Kollegen ziemlich heftig. Teils lachend, teils fluchend und grummelnd verließen sie ordentlich nass den Ort des Geschehens. Ich blieb dagegen vollkommen trocken, denn ich saß auf der schon genannten Holzbank – und die war hinter einem zum Brückendeck steil hochgezogenen Teil des Schanzkleides, einem toten Winkel für


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