ZEN und die großen Fragen der Philosophie. Heinrich Lethe
sich langsam in meinem Körper ausbreitet mit dem Versprechen von Wachheit und Erfrischung. All dies gehört zum Kaffee als Phänomen und offenbart sich durch die Erfahrung. Wenn ich nur rein „subjektive“ Elemente darin sehen würde, die ich besser außer Acht lassen sollte, um „objektiv“ über meinen Kaffee zu sprechen, müsste ich feststellen, dass von meiner Tasse Kaffee als Phänomen – dass mir durch meine Erfahrung als Kaffeetrinker vor Augen tritt – nicht mehr viel übrig bleibt.“ (Das Cafe der Existenzialisten/Bakewell/31).
Damit ich nun eine Tasse Kaffee phänomenologisch exakt beschreiben kann, muss ich von allen meinen Vorannahmen, Meinungen und Wissensinhalten, aber auch von meinen Gedanken und Gefühlen in Bezug auf Kaffee absehen, damit die „Sache selbst“ zum Vorschein kommen kann. Diese Verfahren der vorübergehenden Einklammerung aller Meinungen und Vorannahmen bezeichnete Husserl auch als „epochè“ („Enthaltung“, „Innehalten“) - eine bereits von den antiken Skeptikern verwendete Methode, um von unseren vorgefassten Meinungen und Urteilen Abstand zu nehmen. Erst durch diese inhaltliche Reduktion komme ich in den Genuss des reinen sinnlichen Geschmackserlebnisses6. Übrig bleibt dann der intensive und unmittelbare Geschmack des Kaffees: das Phänomen „an sich“, wie die Phänomenologen sagen würden – so zumindest der Grundgedanke.
Die prinzipielle Frage, die sich in diesem Zusammenhang aber stellt, ist folgende: Inwieweit kann ich in mich „hineinschauen“ und dabei mir selbst und den Dingen auf den Grund schauen? Der introspektive Versuch, sein eigenes inneres Erleben zu betrachten und gleichzeitig „von sich selbst“ (also von den eigenen Neigungen, Erwartungen und Gefühlen) völlig abzusehen, stellt sich in der Praxis als äußerst schwierig dar. Er dürfte normalerweise eher zu Verwirrung und Ratlosigkeit führen und das Bewusstsein nur umso mehr mit Gedanken, inneren Dialogen und Bildern füllen. Dieser Sachverhalt lässt sich auch durch ein einfaches Wahrnehmungsexperiment, wie z. B. der Beobachtung des Tickens einer Uhr, leicht überprüfen: Wenn ich dem Ticken einer Uhr zuhöre und dabei versuche von mir selbst abzusehen, wird es mir in der Regel nicht ohne weiteres gelingen, dass ich nur noch das Ticken wahrnehme, dass ich mich dabei völlig selbst vergesse. Meine Konzentration auf diesen Vorgang wird wohl immer wieder durch andere Wahrnehmungen und Gedanken gestört oder unterbrochen werden. Wenn dies der Fall ist, dann muss ich zugeben, dass ich nicht vollständig im Akt des „reinen“ Hörens bin und nicht ganz „Hören“ werden konnte. In der Regel nehmen wir auch gar nicht einfach nur das wahr, was ist, sondern wir nehmen die Dinge durch die „getönte Brille“ unserer gewohnten Denk- und Empfindungsweisen wahr. Wie später noch genauer aufgezeigt wird, kommt dabei dem begrifflichen Denken eine zentrale Bedeutung zu.
Kapitel 2.2 - Der Schritt über die klassische Phänomenologie hinaus: die phänomenologische Praxis der Einheit und Ganzheit
Die klassische Methode der Phänomenologie, wie sie von Edmund Husserl beschrieben und selbst praktiziert wurde, beabsichtigt jede Beteiligung des Ich auszuschalten, um so zu den Phänomenen an sich zu gelangen. Sie kommt dabei aber nicht über einen rein denkerischen Versuch hinaus und will mittels der Methode der Innenschau das eigene Denken hinter sich lassen. In den Grundzügen erinnert das sehr stark an den wohl vergeblichen Versuch, „sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen“. Bei der weiterführenden Betrachtung wird daher der methodische Schritt über die klassische Phänomenologie bzw. über das rein philosophische Denken hinaus erforderlich werden.
Der Grundgedanke der phänomenologischen Methode, der introspektive Blick auf die eigenen Wahrnehmungen und die Notwendigkeit einer Reinigung (Befreiung) von unseren üblichen Denk- und Sichtweisen (der Beteiligung des Ich), kommt jedoch dem Anliegen im Zen schon sehr entgegen. Auch im Zen sollen diejenigen Sichtweisen wegfallen, die täuschende bzw. verzerrende Vorstellungen über uns selbst und über die Dinge beinhalten. Dadurch soll eine tiefer liegende, grundlegendere und ständig präsente Realitätsebene zum Vorschein kommen. Die weitere Vorgehensweise bei der Durchführung dieses Projekts unterscheidet sich daher auch grundlegend.
Im Gegensatz zur klassischen Phänomenologie wurde im Zen jedoch eine Methode oder Übungsweise und damit eine Form der phänomenologischen Praxis entwickelt, um das Selbst wirklich hinter sich zu lassen. Da dies mittels unserer bewussten Absicht (also willentlich) nicht möglich ist7, geht es im Zen darum, mittels anhaltender Aufmerksamkeit auf ein Übungsobjekt (Atem/Koan) das herkömmliche Ich bzw. Selbst zu „vergessen“. Nur wenn das herkömmliche Selbst vergessen wird, ist ein unverstellter Blick auf die Dinge und das eigene Selbst möglich und die wahre Natur der Phänomene kommt zum Vorschein. Darin wird gleichzeitig, worauf ich später noch zurückkomme, die Perspektive der Einheit und Ganzheit realisiert. Oder mit den bekannten Worten des Zen-Meisters Dogen (1200/1253):
„Den Buddha-Weg zu studieren bedeutet, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, sich selbst wahrnehmen – in allen Dingen.“ (Dogen Zenji/Shobogenzo)
Zu der klassischen phänomenologischen Methode kommt im Zen also noch ein praktischer Aspekt hinzu. Im Nachvollzug einer Übungsanweisung8 liegt gewissermaßen der Wahrheitsausweis dieser Methode („tue dies, dann wirst du zu jenem Ergebnis kommen…“). Ziel dieses meditativen Übungsverfahrens ist die Erfahrung der Einheit und Ganzheit (Nichtdualität). Dabei können wir die wesenhafte Zusammengehörigkeit bzw. Nicht-Getrenntheit zwischen Ich und Welt erfahren. Diese nicht-dualistische Erfahrung kann jedoch mit Worten oder Begriffen nicht angemessen mitgeteilt werden, sondern erfordert die unmittelbare Erfahrung der Sache selbst. Die Qualität dieses Zustands muss direkt selbst erfahren werden.
Dieser Sachverhalt, dass niemand einem anderen, eine Erfahrung, die er selbst nie gemacht hat, mitteilen kann, ist uns auch bei alltäglichen Phänomenen durchaus bekannt: Wer noch nie eine tropische Frucht, wie z. B. eine Maracuja probiert hat, weiß nicht, wie diese schmeckt. Daran können auch viele weitere Informationen nichts ändern. Man kann zwar einen Vergleich ziehen, zu einer anderen bekannten Frucht oder man kann versuchen, die Geschmacksrichtung mittels Worten zu beschreiben. Je nach Reifegrad der Frucht hat ihr Fruchtfleisch und die darin enthaltenen schwarzen Kerne einen süß-säuerlichen-fruchtigen Geschmack, der vielleicht entfernt an eine Mischung aus einer Himbeere und einer Ananas erinnert. Der einzig jedoch wirklich erfolgversprechende Weg, den Geschmack einer Maracuja zu erfahren, besteht jedoch darin, selbst eine Maracuja zu verkosten. Habe ich sie probiert, dann weiß ich, wie eine Maracuja schmeckt. Zu dieser Erkenntnis komme ich jedoch nur, indem ich etwas Bestimmtes tue (also eine Maracuja zu probieren). Ich gebe zu, dass sich diese Erkenntnis auf den ersten Blick etwas banal anhört. Es ist aber auch nicht immer so einfach, wie im vorliegenden Fall.
Um den Kontext der Überlegungen etwas zu erweitern und zu vertiefen, möchte ich noch darauf hinweisen, dass jede empirische Wissenschaft nicht auf der reinen Beschreibung der Wirklichkeit, sondern in der Regel auf festgelegten Anweisungen beruht, etwas Bestimmtes zu tun und dadurch bestimmte Unterscheidungen zu treffen. Die jeweiligen Erkenntnisse, Überzeugungen und empirischen Wahrheiten ergeben sich erst dann, wenn die festgelegten Handlungsanweisungen nachvollzogen wurden. Somit besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der jeweiligen Zugangsweise und dem Erkanntem – ein Zusammenhang zwischen dem Beobachter und dem Beobachtetem.
„Der englische Logiker G. Spencer-Brown weist darauf hin, daß jede Experimentalwissenschaft auf der Befolgung solcher Anweisungen beruht: Schaue in ein Mikroskop und du wirst dieses oder jenes erkennen! Doch auch Logik und Mathematik basieren auf dem Prinzip des Kochrezepts: Tue dieses und du wirst dieses und jenes Ergebnis erhalten. Wenn du drei und drei zusammenzählst, dann erhältst du sechs. Schlag ein Ei in die Pfanne und du erhältst (nach einigen Momenten des Wartens) ein Spiegelei. … Um zu einer bestimmten Beschreibung der Welt zu gelangen, müssen sie etwas Bestimmtes tun. Und da man sich nicht nicht verhalten kann (auch das sprichwörtliche süße Nichtstun ist ein Verhalten), wird man auf jeden Fall irgendeinen Geschmack daran finden. Wird etwas nicht getan – beißt man nicht in die Papaya -, dann gelangt man auch nicht zu der damit verbundenen Erkenntnis – dann weiß man nicht, wie sie schmeckt. So ist auch die Tatsache, daß mancher manches nicht erkennt, häufig nur als das mühsam erreichte Ergebnis strebenden Bemühens