Die Verzeitlichung der Potenzialität. Jan-Philipp Schramm

Die Verzeitlichung der Potenzialität - Jan-Philipp Schramm


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später beschäftigt, kann nur eine Frage sein, die wir von Beginn an in uns tragen. Wir können unsere Frage nicht beantworten, indem wir versuchen, die Antwort in uns selbst zu suchen. Aber wir können uns selbst fragen, woher unsere Frage rührt. Was treibt den Menschen an, und was bringt uns dazu, solche Fragen zu stellen?

      Man sagt, dass es Ereignisse auf der Welt gibt, die in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft eingehen und das Gefühl einer ganzen Generation prägen. Diese Art von Ereignissen können mit der Zeit zu einer gemeinsamen Erzählung werden, die über Generationen hinweg konserviert und wie ein Vermächtnis übertragen wird. Aber diese Art der Prägung, die wir durch andere Menschen erfahren können, hat nichts mit der existenziellen Frage an sich zu tun. Bei den gemeinsamen Erzählungen und Erfahrungen, die zu einem Teil unserer Kultur geworden sind, handelt es sich bereits um etwas, das von unserer Ausgangsfrage abgeleitet wurde. Sie sind, ähnlich der Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Ansätze, etwas, das auf dem Fundament dieser Existenzfrage aufbaut, ohne sie dabei durchdringen zu können.

      Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen und die Eindrücke, die wir über die Welt gewinnen können, sind stets individueller Natur. Unsere Lebensgeschichten ermöglichen uns einen einmaligen Blick auf die Welt und deswegen sind auch die Überlegungen, die wir zur Beantwortung der Frage anstellen, was den Menschen eigentlich antreibt, äußerst individueller Natur.

      Auf diese Weise wird jedoch die Frage, was den Menschen antreibt, im Grunde genommen zu einer in höchstem Maße intimen Frage, denn die Antworten, die wir in uns tragen, offenbaren allen anderen zugleich unsere Art des Denkens und einen Teil der Erfahrungen, die wir gemacht haben. Die Beantwortung dieser Frage stellt uns in gewisser Hinsicht vor die Herausforderung, die Gefühle, die unsere eigene Lebensgeschichte im Besonderen geprägt und uns zu unserer persönlichen Sicht auf die Dinge verholfen haben, aussprechen zu müssen. Je mehr Zeit wir haben, über die Artikulation unserer Antwort nachzudenken, desto besser sind wir darin, diese Intimität zu kaschieren.

      Wir wollen Geschichten erzählen, die wir für wahr halten, während wir uns zugleich große Mühe geben, die Kontrolle darüber zu behalten, welchen Eindruck wir bei unseren Zuhörern hinterlassen. Wir sind nicht bereit, unsere Intimität aufzugeben und uns vor den Augen der anderen einer Nacktheit preiszugeben, die unsere Wahrheit nicht mehr verhüllen kann. Wir können die grundlegende Überzeugung, uns selbst erkennen zu können, als wäre unser Sein etwas Verborgenes, dass sich allein dem ungetrübten Blick seiner selbst offenbart und vor den Blicken der anderen geschützt werden muss, nicht dauerhaft ausblenden. Deswegen wäre es falsch, unseren Erklärungsansatz der menschlichen Existenz an einer subjektiven Vorstellung der menschlichen Bedeutung auszurichten. Die menschliche Bedeutung muss sich vielmehr aus den Erkenntnissen über die menschliche Existenz entwickeln und diese Erkenntnisse können wir nicht zutage fördern, wenn wir uns selbst befragen.

      Als ich angefangen habe, mich das erste Mal mit unserer Ausgangsfrage auseinanderzusetzen, war ich weit davon entfernt, mich mit ihren inhaltlichen Hintergründen zu beschäftigen. Die Frage, die wir gewählt haben, ist so grundlegend, dass alles andere auf Ihr aufbaut. Die breite und tiefe der Themen, die sich hierbei anbieten, reichen aus, um sich ein Leben lang mit ihnen zu beschäftigen. Es war daher notwendig, einen Überblick über die nahe liegendsten Themen zu erlangen und diesen eine gemeinsame Grundlage zu geben, durch die sie dann einer Beantwortung zugänglich werden. Diese Grundlage stellt den Kern meiner Arbeit dar. Sie zu entwickeln, war ein schwieriges Unterfangen, da es mir erst nach mehreren Anläufen gelungen ist, einen Anfangspunkt zu finden, den ich schließlich fortentwickeln konnte. Die Kapitel sind der Reihe nach so entstanden, wie ich mich im Rahmen meiner Ausarbeitung thematisch mit Ihnen befasst habe. Ich hoffe, dass der Zugang, den ich gewählt habe, für jeden einsehbar ist und sich mit den weiteren Fragen, die wir aufwerfen werden, und den Antworten, die wir auf diese zu geben versuchen, jeder auseinandersetzen kann. Darüber hinaus soll jeder die Möglichkeit erhalten, sich mit der von uns im Folgenden herausgebildeten Grundlage, alle übrigen Themen, die auf unserer Ausgangsfrage aufbauen, und die wir nicht oder nur teilweise behandeln werden, in einer eigenständigen Untersuchung zu erschließen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Theorien nicht unumstößlich und Grundlagen, die vorgeben, die Welt zu erklären, nicht allumfassend sind. Auch wir werden nur einen oder mehrere von einer Vielzahl möglicher Blickwinkel einnehmen können. Der Ansatz, den wir uns erarbeiten werden, soll auf dem Weg zur Entwicklung einer allgemein anerkannten Theorie der menschlichen Existenz und ihrer Bedeutung eine Hilfestellung sein.

      Gleichwohl darf sich auch eine allgemein anerkannte Theorie, sofern es sie jemals außerhalb eines zeitlichen Kontextes ihres Entwurfs geben sollte, weder als unangreifbar noch als ideologische Ordnung verstehen.

      Auf die Frage, was den Menschen antreibt, kann man antworten, dass der Ausgangspunkt jeder menschlichen Einflussnahme auf die Umwelt das Resultat überwiegend gleichartiger Bedürfnisse ist. Das Motiv unserer Handlungen lässt sich in einer Zweckmäßigkeit ausdrücken, die in der Erfüllung unserer Bedürfnisse liegt.

      Diese Kausalität bietet sich für uns als Einstieg an. Wir müssen uns vorstellen, dass wir jeden Tag einer Vielzahl unterschiedlicher Menschen begegnen, denen wir mehr oder weniger zwangsläufig dabei zusehen, wie sie ihren täglichen Besorgungen nachgehen, während wir dabei sind, genau dasselbe zu machen. Diese oberflächliche Beobachtung soll uns zum einen die Kausalität unserer Einflussnahme veranschaulichen und uns andererseits zu einer ersten Ableitung unserer Ausgangsfrage führen.

      Der Ursprung unserer Ausgangsfrage ist philosophischer Natur, aber der Einstieg, den wir zu ihrer Beantwortung gewählt haben, ist erst mal technischer Natur. Wie haben wir uns die Antriebe des Menschen in einem Prozess vorzustellen? Die Kausalität, die wir hierfür gewählt haben, drückt diesen Prozess zunächst in einer Zweckmäßigkeit aus. Dieser Ausdruck der Zweckmäßigkeit ist jedoch darauf beschränkt, eine technische Erklärung für die Erscheinungsform einer Antriebskraft zu liefern.

      Das Verständnis unserer Ausgangsfrage geht bei Weitem über diesen rein technischen Erklärungsversuch hinaus. Uns beschäftigen die Art und Weise unseres Handelns sowie die Frage, wodurch diese bestimmte Art und Weise zu handeln angetrieben und hervorgebracht wird.

      In einer Zeit, in der die Welt um uns herum vollkommen verrückt geworden zu sein scheint, erhält die Frage nach der Art und Weise unseres Handelns eine ungeahnte Aktualität, wenn nicht sogar Dringlichkeit. Wenn wir auf die Ereignisse der letzten Jahre blicken, bleibt der Eindruck, dass wir den Kompass für das, was als richtig und falsch gilt, verloren haben. Und es bleibt der Eindruck einer Verantwortungslosigkeit, die sich nicht nur auf die politische Führung beschränkt, sondern sich auch auf die teilweise Akzeptanz und Befürwortung des eingeschlagenen politischen und gesellschaftlichen Kurses erstreckt. Es scheint, als seien das Undenkbare zu einer Tatsache und das Unsagbare zu einem Mantra geworden.

      Die menschliche Existenz lässt sich in Kausalitäten ausdrücken und erklärbar machen, ohne dabei jemals eine Frage der menschlichen Bedeutung hervorgebracht zu haben. Wie stehen die menschlichen Bedürfnisse also unseren Antrieben und unserer Art und Weise des Handelns gegenüber? Der Mensch ist kein abgeschlossenes System, dessen Gedanken von der Welt abgeschnitten sind, während er sich physisch in ihr verwirklichen kann. Der Einfluss, den wir auf unsere Umwelt ausüben, korreliert mit der uns umgebenden, auf uns einwirkenden Umwelt. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt besteht in einer Form der wechselseitigen Einflussnahme. Unser Einfluss mag durch die Erfüllung unserer Bedürfnisse motiviert sein, doch die Schlussfolgerungen, die wir aus dieser Kausalität ziehen, dürfen wir uns nicht wie eine Einbahnstraße vorstellen.

      Dass wir unsere Art und Weise des Handelns an die Rahmenbedingungen unserer Umwelt anpassen, bedeutet aufgrund der bis dahin ausgeblendeten Wechselseitigkeit, dass sich durch jede verwirklichte Handlung nicht nur der Zustand unserer Umwelt verändert, sondern auch, dass dieser veränderte Zustand wiederum auf eine andere Art und Weise mit unserer Einflussnahme korreliert und wechselwirkt.

      Wir haben die Bedeutung der menschlichen Bedürfnisse, die wir zum Antrieb unserer Kausalität erklärten, als etwas Selbsterklärendes vorausgesetzt. Dabei ist die Betrachtung der menschlichen Bedürfnisse, die wir auf diese Weise jedem Menschen wie eine unabänderliche Gesetzmäßigkeit zuteilwerden ließen hinfällig, wenn die Wechselwirkung zwischen der


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