Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15. Jo Zybell

Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15 - Jo Zybell


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stieg die Treppe hoch.

      Verfluchter Komet! Nicht nur am Himmel spukte er herum. Auch in allen Köpfen. Die harte Stelle in seiner Brust tat weh, richtig wund fühlte sie sich an.

      Brüllender Motorradlärm näherte sich. Simon drehte sich zur Straße um. Die Maschine hielt mit kreischenden Bremsen vor Petes Gartentor.

      Der Fahrer trug rotes Lederzeug. Blondes Langhaar hing aus dem Helm auf den Rücken herunter. Die Haustür öffnete sich, ein Bursche mit Rucksack und in schwarzem Trenchcoat rannte an Pete vorbei über den Gartenweg, schwang sich über das Tor und dann auf den Rücksitz. Rudy Armagosa, Petes jüngster Enkel. Der Junge hatte sich heillos mit seinen Eltern zerstritten. Seit anderthalb Jahren wohnte er bei den Großeltern. Simon mochte ihn nicht.

      Der Motor heulte auf, das Motorrad schoss zurück auf die Lincoln Avenue.

      »Morgen, Simon.« Colin Ashton stand unter seinem Garagentor, in der Rechten einen Lötkolben, in der Linken eine Zigarette. »Frage mich, ob der Bursche jemals pünktlich auf dem College erscheint.«

      Colin war gut zwanzig Jahre jünger als Pete und er. Seine Frau Gina war die Leiterin der Primary School und er Captain des Polizeireviers von Riverside. Wenn er keinen Dienst hatte, schraubte er an einem Wagen herum oder fuhr zur Jagd in die San Bernardino Mountains. Oldtimer und Waffen – Colins Leidenschaften.

      »Was für einen hast du in der Mache?«, erkundigte Simon sich.

      »Ein Mercedes Cabriolet, Baujahr 1965. Bringt ‘ne Menge Kohle, aber vielleicht behalt ich‘s als Drittwagen.« Er grinste und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Colin Ashton war einen halben Kopf größer als Simon und fast doppelt so breit. So vierschrötig sein Körperbau, so knorrig war seine Art: Er dachte nicht besonders schnell, aber wenn er fertig war mit Denken, pflegte er das Ergebnis hartnäckig in die Tat umzusetzen. »Übrigens – Kathleen kommt zurück.«

      »Schon? Ich dachte, sie will ein ganzes Jahr drüben bleiben.« Kathleen Ashton, Colins und Ginas einziges Kind, hielt sich seit dem Sommer zu einem Schüleraustausch in Deutschland auf. Ach ja – Colin hatte noch eine dritte Leidenschaft: seine Tochter.

      Colin zuckte mit den Schultern. »Panik, schätz ich.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Himmel und dann auf die Zeitung.

      »Siehst ja, was los ist in der Welt.« Mit dem Lötkolben tippte er sich an die Stirn. »Komm gegen Abend mal auf‘n Bier vorbei, Simon«. Er zog sich in seine Garage zurück.

      Simon bückte sich nach der Milchflasche und ging ins Haus. Kathleen Ashton gehörte eigentlich nicht zu den hysterischen Typen. Der verfluchte Komet, dachte Simon, er macht die Leute vollkommen meschugge!

      Es roch nach Kaffee. Aus der Küche hörte er Musik. Stand by me – wie lange hatte Marc den Song nicht mehr gespielt? Simon konnte sich schon nicht mehr an den Namen der Gruppe erinnern.

      »Bist du auf, Eve?« Er lief in die Küche.

      Im Morgenmantel lehnte sie gegen die Frühstückstheke, das blonde Haar offen, die Arme vor der Brust verschränkt, blass und dunkle Ringe unter den Augen. So sah sie ihm entgegen. »Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugemacht.«

      »Wegen Tim und Liz?« Simon stellte die Milch neben die Kaffeemaschine und warf die Zeitung daneben. »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.« Ein Blick auf die Armbanduhr: gleich halb zehn.

      »Sie müssten es jetzt hinter sich haben.« Er nahm zwei Kaffeebecher aus dem Regal über der Theke.

      »Vielleicht auch wegen Tim.« Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. »Halt mich fest, Darling.«

      Er stellte die Tassen ab und nahm sie in die Arme. Sie schwiegen, hörten dem Song zu, hielten sich umschlungen.

      Marc Shindlers Stimme überblendete die Musik. »Was haltet ihr von Alexander-Jonathan, ihr Leute aus dem sonnigen Kalifornien? Am Telefon hab ich jetzt Jane aus Fontana. Hi, Jane, wie geht‘s so? Was glaubst du – ist das Ende der Menschheit gekommen?«

      Es klang, als würde er feixen, während er sprach.

      »Blödsinn!«, sagte eine weibliche Telefonstimme. »Absoluter Blödsinn! Die Sache ist doch die, Marc: Jedes Jahr zischen so und so viele Asteroiden und Kometen durchs Sonnensystem. Und wann hat mal einer getroffen? Vor tausend Jahren? Vor hunderttausend Jahren?«

      »Vor hundertdrei Jahren!«

      »Vor Millionen Jahren?«

      »Hey Jane, vor hundertdrei Jahren in Sibirien!«

      »Der gilt nicht, Marc, das war doch nur ein Kieselstein.«

      »O nein, Lady Jane!«

      »Und wenn schon, was hat Amerika nicht schon alles …«

      Simon schaltete ab. Er ließ Eve los und zog sich einen der Barhocker unter der Theke heraus. Eve schenkte Kaffee ein und schraubte die Milchflasche auf.

      »Der Aufstand in Brasilien, die Unruhen überall, Ausnahmezustand in so vielen Staaten, sogar in Europa – ich hab die ganze Nacht davon geträumt.« Eve seufzte. »Die Leute scheinen tatsächlich zu glauben, dass er mit der Erde zusammenstößt.« Sie schob die Kanne zurück in die Maschine und setzte sich auf den Barhocker neben ihn. Eine Zeitlang sprachen sie kein Wort, rührten einfach nur in ihren Tassen herum und schlürften die dampfende Brühe. »Was glaubst du, Simon?«, fragte Eve plötzlich.

      »Wie – was glaubst du?« Über den Becherrand hinweg blickte er auf den Wochenkalender neben der Tür. Ein Foto zeigte den Rohbau des zweiten World Trade Center über den Straßenschluchten Lower Manhattans. Ein paar behelmte Männer hissten das Sternenbanner. Bauarbeiter und der Präsident. Unter dem Foto ein Wahlspruch der Woche: Es gibt keine Krisen, es gibt nur Herausforderungen.

      »Glaubst du, dass er vorbeifliegt? Oder glaubst du auch, dass er uns trifft?«

      »Ich weiß es nicht. Ich hab weder seine Bahn noch seine Geschwindigkeit berechnet. Ich weiß nur, dass ein paar Leute, die es wissen müssen, von einer hohen Kollisionswahrscheinlichkeit ausgehen.«

      »O Gott, Simon!« Sie bohrte die Stirn in seine Brust. »Das kann doch nicht sein, das kann Gott doch nicht zulassen …« Tränen erstickten ihre Stimme. »Das kann doch nicht der Wille des Herrn sein!«

      Simon besaß genug Taktgefühl, um sich nicht auf eine theologische Diskussion einzulassen. Schon seit Wochen bemerkte er eine Häufung religiöser Wendungen im Sprachschatz seiner Frau.

      »Die ganze Nacht hab ich davon geträumt«, schluchzte sie. »Ich hab Angst; seit wir dieses Lied gehört haben, hab ich solche Angst …«

      Simon nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihr die Tränen aus den Augen. »Welches Lied?«

      »Den alten Stones-Song. Gestern. Wir saßen mit Tim im Esszimmer, aßen sein Lieblingsgericht und Marc spielte This could be the last time.« Wieder brach sie in Tränen aus. »Verstehst du, Darling? Tim besuchte uns, wir aßen Truthahn und Rotkohl, und Marc spielte This could be the last time

      Simon nahm ihr die Tasse ab. Eve fiel ihm um den Hals. Ein Heulkrampf schüttelte sie. Sein Blick fiel auf die Titelseite der Zeitung, während er ihren Rücken streichelte.

       Tausende Tote in Rio de Janeiro. Komet wird seinen erdnächsten Punkt vielleicht doch früher erreichen, als bisher erwartet, Kollision immer wahrscheinlicher …

      Der Dreiklang an der Haustür ertönte. Eve machte sich von ihm los. Sie zog ein Taschentuch aus dem Morgenmantel, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte sich. »Ich mach auf.« Sie zupfte den Gürtel des Mantels zurecht, fuhr sich durchs Haar und lief aus der Küche zur Haustür.

      Simon schmunzelte. Auch das war Eve. Sie konnte von einem Augenblick zum anderen umschalten.

      Draußen hörte er die Haustür aufgehen. »Hi, Mom«, sagte die belegte Stimme seines Sohnes. Unwillkürlich wartete Simon auf das für Liz so typische Wunderbar-siehst-du-aus-Mom! und auf das


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