Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann

Tot am Ring - Wolfgang Wiesmann


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weg. Ansage – Folge, wie beim Programmieren. Wenn keine Folge, dann Ansage erneut, sofort Kontrolle ohne Pardon, Folge, sonst Strafe. Alles klar? Die machen dich ansonsten zum Affen.“

      Umstehende Kollegen hatten Brisinzkis Standpauke mitgehört und empörten sich über den rüpelhaften Ton des Kollegen und der Unangemessenheit angesichts der Umstände. Brisinzki störte das Gemurre nicht. Er hatte das Gefühl, dass Inge Beer ihm zugelächelt hätte.

      Zuverlässig Form geben, das brauchten die Schüler mehr denn je. Er hatte das von Anfang an im Blut gehabt, aber Winter fehlte es selbst an Struktur, deswegen war er bei Thyssen-Krupp gescheitert und würde auch in der Schule versagen. Inge hatte erkannt, dass viele Eltern ihren Kindern keine zuverlässige Struktur und Orientierung mehr gaben. Kinder schlitterten in ein formloses Leben und konnten daran keine eigenen Formen ausbilden.

      Brisinzki machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für Inge und entfernte sich mit den Worten: „Ich wünschte, sie wäre hier und könnte uns allen die Ohren langziehen.“

      12 Übersehen

      Kühne empfing Fey und Mörris vor der Halle. Er wollte schnell Gewissheit haben, wie er sich am besten strategisch verhalten könnte. Er folgte beiden Kommissaren in die Halle. Mörris durchbrach die Flatterbandabsperrung und versuchte, den großen der beiden Kästen zu verschieben. Es war möglich, aber er brauchte Kraft. Dann zerlegte er den kleinen Kasten in drei Einzelteile und trug einen davon an Fey und Kühne vorbei in den Geräteraum. Überlegen lächelnd kam er zurück.

      „Völlig unmöglich. Frau Beer hat nie im Leben diese Kästen verschoben, noch in ihre Einzelteile zerlegt und von dort nach hier geschleppt.“

      „Unsere Pathologin hat festgestellt, dass Frau Beer einen verschleppten Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelregion hatte“, klärte Fey Kühne auf. „Sie war dadurch schwer gehandicapped, besonders im Hinblick auf Tragen und Schieben. Mein Kollege Mörris hat sich gerade davon überzeugt, wie kraftaufwendig das Bewegen der Kästen war. Frau Beer konnte ihren Selbstmord nicht ohne Hilfe durchführen. Oder Frau Beer wurde zum vorgetäuschten Selbstmord gezwungen.“

      „Zum Selbstmord gezwungen?“

      „Frau Beer wird in die Halle gebracht. Ihr Entführer zielt mit einer Pistole auf sie. Es gibt ein Pfand – ein Druckmittel –, das der Mörder bewusst so einsetzt, dass Frau Beer lieber mit der Schlinge um den Hals in den sicheren Tod springt, als zum Beispiel jemanden zu verraten oder ein Geheimnis preiszugeben. Haben wir alles schon erlebt, Herr Kühne.“

      „Verstehe ich Sie richtig, dass Sie also nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob es Selbstmord oder Mord war?“

      „Beihilfe zum Selbstmord käme als dritte Variante infrage“, ergänzte Mörris. „Wir stehen vor einem Rätsel und das just ab diesem Moment. Nur der Deutlichkeit halber, unsere Ermittlungen ziehen die Möglichkeit eines Mordes mit ein.“

      „Mord an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule. Eine makabre Posse. Ich bekomme jetzt schon kalte Füße, wenn ich an den Pressewirbel denke.“

      Fey versuchte Kühne zu beruhigen.

      „Es liegt ganz bei Ihnen, Herr Kühne. Sie machen nichts falsch, wenn Sie von einem ungeklärten Todesfall an Ihrer Schule sprechen. Vermeiden Sie das Wort ‚mysteriös‘. Es regt zu übertriebenen Spekulationen an. Bleiben Sie so präzise wie nötig und so einsilbig wie möglich. Kurz und bündig und Sie tun der Wahrheit keinen Schaden an. Es liegt auch in unserem Interesse, wenn der Öffentlichkeit, Ihrem Kollegium und der Presse keine Anlässe für Fehlinterpretationen gegeben werden.“

      13 Pastor Beer

      „Gut Ding will Weile haben“, bemerkte Mörris. „Mir ist, als bräuchten wir Geduld. Was schlägst du vor?“

      „Geduld, wenn es ein Selbstmord war, Ungeduld, wenn es ein Mord war. Der Mörder könnte Inge Beer unter einem Vorwand in die Halle gelockt, abgeschlossen und sein Ding durchgezogen haben. Beginnen wir mit der Suche nach dem Motiv.“

      „Klappern wir also alle Kollegen ab?“

      „Arbeitsteilung: Du Kühne und die Kollegen, ich ihren Ehemann Pastor Beer.“

      „Spür ich da ein Ungleichgewicht?“, fragte Mörris ironisch.

      „Keine Spur. Die entzückenden Lehrerinnen werden dir zu Füßen liegen. Ein echter Kriminalkommissar und ledig ist er auch noch.“

      Fey ließ sich von Kühne die Adresse der Familie Beer geben. Eine traurige Nachricht überbrachte man immer persönlich. An diesen Grundsatz hatten Fey und Mörris sich strikt gehalten. Nicht selten, dass sie Erste Hilfe leisten mussten und Betreuung für Kind oder Hund organisieren mussten.

      Sie hielt vor einem Neubau im Bauhausstil. Da steckte sicher eine halbe Million drin, ohne Grundstück und Gartenarchitektur, glaubte sie zu wissen. Fey warf einen abfälligen Blick auf den pflegeleichten Vorgarten mit den nichtssagenden Steinwänden und den Marmorkugeln als kastriertem Springbrunnen.

      Ein hochgewachsener, schmächtiger Mann öffnete die Tür, schaute freundlich und wartete auf eine Erklärung. Fey zeigte ihren Ausweis und stellte sich mit Namen vor. Pastor Beer bat sie herein. Im Flur stand ein Koffer. Alles sonst wirkte sehr aufgeräumt, fast wie aus einem Katalog. Blumenvase, Garderobe, Vitrine, Teppich, Bücherregal und ein Beistelltischchen fürs Telefon erweckten den Eindruck, als wären sie nach einer bestimmten Rezeptur angeordnet worden. Der grau-silbrige Betonton des Vorgartens setzte sich innenarchitektonisch fort. Fey konnte sich mit dem Interieur nicht anfreunden und hatte gleich das Gefühl, dass es nicht zu Inge Beer passte. Leblos, ganz anders als in einer Schule.

      Als sie sich im Wohnzimmer gesetzt hatten, konfrontierte Fey den Ehemann mit der tragischen Wahrheit. Er blieb gefasst und hörte sich kommentarlos die näheren Umstände des Todesfalls an. Seine seelsorgerische Arbeit hatte ihn wohl vorbereitet. Dem Tod den Schrecken nehmen. Das war seine Aufgabe. Diejenigen, die gingen und diejenigen, die blieben, sollten im Tod nicht nur Erlösung finden, sondern vor allem Erfüllung. Jeder Mensch stand dem Tod irgendwann gegenüber. Ihm dann die Hand zu reichen und sich im Sterben in Liebe auf sich selbst zu konzentrieren und die Liebe zu anderen zu spüren, entkräftete den Zinnober um Hölle und Gottes Schwert. Der Tod war immer gerecht, nur das Sterben nicht. Wenn Kinder starben, so lag das in der Hand der Natur, zu der das Leben gehörte. Natur war einst Chaos und doch barg dieses Chaos die Gesetze der Natur. So entstand Ordnung, wie der leibliche Körper. Aber diese Ordnung ist endlich. Sie vergeht wieder, wie die Sonne und das Universum eines Tages nicht mehr da sein werden. Im Sterben lag die Vergänglichkeit der Ordnung und im Tod der Urbeginn der Schöpfung.

      Beer hatte sich Zeit für die innere Einkehr genommen und bat nun seinen Besuch darum, allein sein zu dürfen. Fey betonte erneut die Möglichkeit eines Mordfalls und unterstrich die Notwendigkeit einer schnellen Aufklärung.

      „Pastor Beer, hatte Ihre Frau in der letzten Zeit depressive Stimmungen oder klagte sie über starke Schmerzen? Ich möchte mir gerne ein Bild verschaffen.“

      „Meine Frau war nicht in psychotherapeutischer Behandlung, wenn Sie das meinen. Sie nahm Medikamente gegen ihre Rücken- und Knieschmerzen. Leider musste sie die Dosierung erhöhen. Sie war ein sehr liebevoller Mensch, mit Leib und Seele Lehrerin. Sie beklagte allerdings, dass es heute in der Schule weniger um die Kinder gehe, als um die Institution Schule. Schulleiter und Dezernenten, aber auch die Eltern würden den Blick für die Kinder verlieren. Die Schule ächzt unter dem Druck einer orientierungslosen Bildungspolitik und dem Einfluss selbstsüchtiger Eltern, denen der Abschluss ihrer Kinder über deren Wohl geht. Auch wenn ich ihr nicht immer zustimmte, weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es in manchen Familien nur noch um Noten geht und die Zukunft eher eine Bedrohung bedeutet als eine Chance. Aber bitte, könnten wir Ihre Fragen nicht vertagen?“

      „Etwas möchte ich gerne noch wissen. War Ihre Ehe intakt?“

      „In meiner Funktion als Pastor werde ich Ihnen darauf antworten, ansonsten würde ich Ihre Frage als unangemessen empfinden. Wir führten eine Ehe mit Höhen und Tiefen. Kommunikation war unsere berufliche


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