Die neuen Reiter der Apokalypse. Michael Ghanem
hatte die Apokalypse ihre Blütezeit im Judentum des zweiten Tempels (539 v. Chr.) bis zu dessen Zerstörung (70 n. Chr.). Spätere apokalyptische Literatur knüpfte meist an vorgegebene biblische Überlieferungen an. Streng genommen ist die Apokalyptik in der biblischen Überlieferung von der Prophetie zu unterscheiden: Der Prophet spricht im Namen Gottes ein Wort der Mahnung, des Gerichts oder der Verheißung in eine bestimmte geschichtliche Situation des Gottesvolkes hinein (z. B. Jes 7,1–16 EU). Der Apokalyptiker hingegen vermittelt mit Hilfe einer bildhaften Sprache einen göttlichen Plan zum Ablauf der Geschichte der Welt bis zum Endgericht und der Erschaffung einer neuen Welt hin (z. B. Dan 7,1–15). Dabei hilft dem Apokalyptiker ein überirdischer Vermittler, ein Engel oder eine göttliche Stimme, bei der Deutung der Bilder, die er gesehen hat (z. B. Dan 7,16–28 EU).
Endzeiterwartungen begegnen schon im 8. Jahrhundert v. Chr. in der frühen Unheilsprophetie: Amos kündete im Nordreich Israel einen „Tag JHWHs“ an, der „Finsternis, nicht Licht“ für Israel bringen werde (Am 5,18–20 EU). Micha verkündet Ähnliches im Südreich, verbunden mit einer endzeitlichen „Völkerwallfahrt“ zum Zion, dem Tempelberg in Jerusalem (Mi 4,2–4 EU). Jeremia greift 200 Jahre später auf Michas Unheilsprophetie zurück; seine Prophetie bezieht sich auf die politischen Ereignisse bis zur ersten Tempelzerstörung und Exilierung der judäischen Oberschicht (586 v. Chr.).
In der exilischen Prophetie Israels werden innergeschichtliche Gerichte, die Fremdherrscher an Israel vollstrecken, mit einem Völkergericht verbunden und universalisiert (z. B. Jes 2 EU, Joel 4 EU). Auch die Messias Erwartung ist tendenziell apokalyptisch, da der Messias die Unrechts- und Gewaltgeschichte der Welt abbricht und zu einem gerechten Ende führt (Jes 9 EU). Bei Jesaja wird der Messias als Weltrichter dann schon mit der Vorstellung einer endgültigen Verwandlung des ganzen Kosmos einschließlich der Naturgesetze verknüpft (Jes 11 EU).
Bei dem späteren Exilspropheten Ezechiel wird die Verkündigung des nahenden Endgerichts (Ez 7 EU) mit Visionen verbunden, die auf vergangene Geschichte zurückblicken und diese „vorhersagen“: nicht nur die „Greuel“ (Ez 8 EU), die die Zerstörung des ersten Tempels (Ez 9 EU) und den Untergang des Königtums (Ez 19 EU) herbeiziehen, sondern auch den Sieg Nebukadnezars über Ägypten (Ez 29–32 EU). Noch unverbunden damit tritt nun auch die Vorstellung einer jenseitigen Totenerweckung (Vision des Propheten Ezechiel von der Auferweckung Israels, Ez 37 EU) hervor.
Bei Daniel verdichten sich diese Motive zur großen Vision vom Kommen Gottes zum Endgericht (Dan 7 EU), das die ganze Weltgeschichte endgültig wenden werde: Alle Gewaltherrschaft werde dann vernichtet werden. Der „Menschensohn“ – Gottes ursprüngliches Ebenbild – erscheint, erhält Gottes volle Macht und verwirklicht damit die von den Propheten angekündete ewige Gottesherrschaft. Vom Messias und einer innergeschichtlichen Umkehr der Völker zum Gott Israels ist keine Rede mehr; dennoch bewahrt diese Apokalyptik Verheißungen der älteren Prophetie in der Situation akuter Existenzbedrohung Israels unter Antiochus IV.
Im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert entstehen weitere Bücher mit apokalyptischer Thematik, z. B. der äthiopische Henoch, das 4. Buch Esra und die „Kriegsrolle“ von Qumran (etwa 130 v. Chr.). Davon nahm eine rabbinische Synode bei Jawne um 100 n. Chr. aber nur das Buch Daniel als legitime Fortsetzung der biblischen Prophetie in den Kanon des jüdischen Tanach auf.
Urchristentum
Jesu Predigt vom Reich Gottes und vom Menschensohn ist durch und durch von der biblischen Prophetie und Apokalyptik geprägt. Aber die Unheilserwartung, die dort oft mit dem Weltende verbunden ist, wird nun im Anschluss an Deuterojesaja stärker eingebettet in die übergreifende Heilserwartung einer Rettung aller, auch der verlorenen und dem Endgericht verfallenen Kreaturen: etwa in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3–10 EU).
Die Urchristen verstanden Jesu Kreuzigung als stellvertretende Übernahme dieses Endgerichts, seine Auferweckung als rettende Vorwegnahme der endzeitlichen Wende der Weltgeschichte. Diese beiden Grunddaten wurden die zentralen Heilsereignisse im urchristlichen Glaubensbekenntnis (1 Kor 15,3ff EU): So wurde die Apokalyptik zur „Mutter der christlichen Theologie“ (Ernst Käsemann). Sie tritt in den Evangelien nun hinter die Verkündigung des schon gekommenen Christus zurück. Aber die „kleine Apokalypse“ des Markusevangeliums (Mk 13 EU) wird von allen späteren Evangelisten übernommen. Besonders Matthäus malt das Endgericht als Selbstoffenbarung des Weltrichters und endgültige Entscheidung zwischen echten und falschen Nachfolgern Jesu aus (Mt 24 EU).
Die Offenbarung des Johannes ist das einzige insgesamt apokalyptische Buch, das von urchristlichapokalyptischen Schriften in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurde. Es wird nach seinen Anfangsworten Apokálypsis Jesu Christu … im Christentum oft einfach Apokalypse genannt. Es knüpft an ältere Motive des Daniel Buches an: Der Seher erfährt in seinen Visionen durch Engel die Zukunft der Erde bis zum Weltende. Trotz durch das Opferblut Jesu bereits geschehener „Erlösung“ warteten die Urchristen wie die Juden auf die noch ausstehende Verwandlung der Welt durch den Messias, der für sie mit Jesus Christus schon gekommen war (Offb 1,1.10 EU).
Grundgedanken der apokalyptischen Theologie
• Die Apokalyptik erwartet die Wende vom Unheil zum Heil nicht mehr als ein Eingreifen Gottes in den Lauf der Weltgeschichte, sondern als sein Kommen zu deren Abbruch. Insofern herrscht hier gegenüber der älteren Prophetie eine geschichtspessimistische Grundstimmung: Die ganze Menschheits- bzw. Weltgeschichte wird als Unheilsgeschichte gesehen, die einem schrecklichen Ende zutreibt.
• An Gottes Herr Sein in Bezug auf seine Vorsätze wird nicht gerüttelt: Gott selbst habe den plötzlichen, katastrophalen Abbruch der von ihm bis dahin geduldeten Weltgeschichte im Voraus festgelegt (Gedanke der Vorsehung Gottes – lateinisch Providentia Dei oder theologischer Determinismus).
• Das endgültige, von Gott allein gesetzte Ende wird oft als Endkampf Gottes gegen den Satan und seinen dämonischen und menschlichen Anhang (vgl. Höllensturz) verstanden, der zur von Gott vorbestimmten Zeit beginnt (Mt 24 EU).
• Dieser Endkampf zwischen „Gut“ und „Böse“, Licht und Finsternis kann die Gestalt eines apokalyptischen Dualismus annehmen. Im Zoroastrismus und später im Gnostizismus wird dieser Kampf schon in die Schöpfungsgeschichten vorverlagert, so dass im Grunde zwei Gottheiten miteinander kämpfen (vgl. Offb 12,7 EU). Bereits in 1 Mos 3,15 EU wird vorhergesagt, dass der Schlange (Symbol für Satan und seine Nachfolger) der Kopf zermalmt werden würde. Das „böse Prinzip“ und der Schöpfergott treten in Konflikt miteinander. Erlösung und Rettung sind erkennbar durch die Auferstehung der Toten (Offb 11,18 EU; 20,5f.11 EU) und ein Überleben des Strafgerichtes Gottes durch jene, die das Loskaufsopfer Jesu Christi durch Taufe angenommen haben (Offb 7,9.13–17 EU) sowie durch Errichten des Reiches Gottes auch auf Erden (Offb 12,10 EU; Vater Unser).
• In der biblischjüdischen Apokalyptik wird an der Einheit der an sich guten Schöpfung festgehalten: Die Welt wird gemäß dem Willen Gottes von Grund auf verwandelt. Das Endgericht steht zu Beginn der Herrschaft Gottes und beendet die Herrschaft widergöttlicher Mächte, die Gott bis dahin geduldet hatte. Die Verwandlung der Welt ist allein Gottes Werk. Nur er kann die endgültige Gerechtigkeit bringen und weltweit durchsetzen. Sein Sieg steht seit undenklichen Zeiten her fest.
• Mit diesen Grundgedanken sind eine Reihe von Motiven und Bildern verbunden: Dazu gehören die Cherubim bei Ezechiel, der Menschenähnliche in Dan 7,14 oder die vier Apokalyptischen Reiter, die sich auf höheren Befehl hin auf den Weg machen.
Diese sind Symbole für den siegreichen Messias, den Krieg, Hungersnöte, Seuchen, denen der Tod unmittelbar folgt. In Offb 21 EU kommt das Neue Jerusalem als Bild der erneuerten Schöpfung und des Friedens zwischen Gott und den Menschen vom Himmel auf die Erde.
Islam
Eschatologische Beschreibungen finden sich bereits in den frühesten Suren des Korans.
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