Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas

Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas


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täte ich es verständlich und fundiert. Wer auch immer das hier verfasst hat, wünscht sich, mich in den Wahnsinn zu treiben. Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun. Ich straffe die Schultern. Meine Eltern müssen von diesem Brief erfahren.

      Eine Strafanzeige muss erstattet, mein Blut auf Spuren von möglichen Rauschgiften untersucht werden. Ich weigere mich das momentane Geschehen tatenlos hinzunehmen. Die unumstößlichen Fakten liegen auf dem Tisch: Jemand muss mich betäubt und verbrannt haben, um mir genau die Verletzungen zuzufügen, die in meinem verworrenen Hirn Gestalt angenommen haben. Wer weiß, was diese Person als nächstes vorhat. Wurden Fotos geschossen? Wenn an die Öffentlichkeit gelangt, wie ich in Unterwäsche und Schuhen bekleidet dasitze, sind sinkende Kurse mein geringstes Problem.

      Nichts könnte mein vorheriges Image wiederherstellen.

      Sollten Bilder von mir existieren, wie ich zugedröhnt auf dem Boden kauere, wird meine künftige Hochzeit noch weiter in den Hintergrund rücken als ohnehin schon. Diese Form eines Rauschgiftskandals, dessen Gesicht ich wäre, dürfte man nicht an Achim binden. Nicht nur mein Ruf würde leiden. Auch seiner. Von der Person, die diese Fälschung verfasst hat, hängt vieles ab. Mein Wohl, mein Leid, die unbeantwortete Frage, ob ich erneut fantasieren werde und neue Wunden davontrage. Wie sehr muss man einen Menschen hassen, um ihm diese Form der Qualen zuzufügen? Vermutlich war ich gestern Nacht zu betrunken, bin deswegen auf die Straße gegangen. Dort wurde ich abgefangen, unter Drogen gesetzt, misshandelt und letzten Endes unbemerkt zurück in dieses Apartment getragen, in dem Achim mich fand. Was soll ich Achim erzählen? Wie ihm das Ganze erklären? Sollte er von meinen Vermutungen erfahren? Wenn es jemanden gibt, der den passenden Anwalt und den Täter finden kann, dann ist er es.

      Wann immer ich Hilfe benötige, soll ich mich an ihn wenden. Achim bat mich selbst darum. Meine Eltern wiesen mich auf diese Möglichkeit hin. Der Mann an meiner Seite ist ein brillanter Jurist. Ich sollte das für meine Zwecke nutzen. Um noch einen Vorfall dieser Art zu vermeiden.

      Aber wann in den nächsten Stunden soll ich diese Problematik mit Achim thematisieren? Zu bald müssen wir in den Wagen steigen, der uns zu dem Brunch fährt.

      Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich nicht bereit dazu. Dieser Brief zerstört mich. Dieses Erlebnis, an das ich mich nicht einmal richtig erinnere, es zersetzt mich. Was von diesen Eindrücken zurückgeblieben ist, könnte mich ruinieren.

      Ein leises Klopfen an der Badezimmertür. „Darf ich Euch bitten, zu uns zu stoßen?“ Das Holz verzerrt die Stimme des Zimmermädchens. Meine Finger zittern erbärmlich, während ich den Brief zusammenfalte. Wohin damit? Jetzt kann ich ihn niemandem vorzeigen. Wer weiß, ob die Presse davon Wind bekommt. Es bräuchte einen ruhigen Moment und diese sind rar. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für diesen Brief, auf keinen Fall. Das Risiko, dass das Geschriebene gefunden wird, bleibt unkalkulierbar, und die Gewissheit, dass mir in naher Zukunft ein weiteres Exemplar zugestellt werden wird, ist kaum in Worte zu fassen.

      Von allein betätige ich den Wasserhahn und durchweiche den Briefbogen, beobachte, wie die Tinte in blauen Schlieren durch den Abguss wandert und das Papier flockig hinterherschwimmt.

      „Einen Moment.“ Ich muss die Ruhe wiederfinden, die ich für gewöhnlich in mir trage, sonst wird der heutige Vormittag ein Fiasko. Der Rock des Kleides, das sie mir routiniert anzogen wie einer Schaufensterpuppe, bauscht sich um meine Beine. Die Blasen an meinen Knöcheln wurden geöffnet und überdeckt. Ich kann mich an diese mit Sicherheit schmerzhaften Handgriffe nicht mehr erinnern. Die für das Kleid angefertigten Schuhe werden draußen auf mich warten. Ebenso wie Achim.

      Er schenkt mir ein schwaches Lächeln, als ich mich zu ihm und den Mädchen geselle. Sie haben das Bett bereits gemacht und das Fenster zum Lüften angekippt. Eine von ihnen – ich habe sie bisher zwei, drei Mal gesehen – beeilt sich, mir meine Schuhe zu bringen und anzuziehen. Sie sind vorne geschlossen. Niemand wird die aufgerissene Nagelhaut um meine Zehen herum sehen können.

      Achims dargebotenen Arm nehme ich dankend an. Hilfesuchend lehne ich mich an ihn, während die Türen des Aufzugs aufgleiten. Mit diesem Fahrstuhl bin ich gestern nach unten gefahren. Er hat mich auf die Straße und damit in die Hölle verfrachtet. Ich kann unmöglich sagen, was schrecklicher wäre. Wenn sich jemand an mir vergangen hätte oder ich tatsächlich in dem mittelalterlichen, höchstens barocken Deutschland gelandet wäre.

      Beides wäre unmöglich genug, um mir diese Male zuzufügen. Wunden, die die Mädchen mühsam und feinsäuberlich überdeckt haben. Nur einen Unterschied sehe ich zwischen den beiden grauenvollen Möglichkeiten der letzten Nacht: letzteres ist schlichtweg unmöglich. Eine Reise durch Zeit und Raum darf nicht Teil der Wirklichkeit sein. Ich lebe in einer aufgeklärten, hochwissenschaftlichen Welt und selbst wenn zahlreiche Meinungen rund um Mögliches und Unmögliches vertreten werden, sind sich Wissenschaftler doch einig bezüglich dieses Aspekts, dass Zeitreisen in einen Fantasyroman gehört. Nicht in das alltägliche Leben eines Mädchens, das im Fokus der Öffentlichkeit lebt.

      6

      Man erwartet uns an gedeckten Tafeln. Die weißen Tischtücher flattern in einem sanften Luftzug, als wir den Raum betreten. Uns werden die Mäntel abgenommen und an die Garderobe gehangen. Jeder scheint mich anzustarren. Als wüssten sie alle, unter welchen Umständen ich die Nacht verbracht habe. Was ich durchstehen musste. Die italienische Familie Riva mit ihrem äußerst verdächtigen Sohn Gioseppe sitzt am Tisch und betreibt leichte Konversation mit meinen Eltern. Der spanische Monarch, die schwarzen Haare glatt gegelt, schweigt angelegentlich und nippt an seinem Sektglas, während die ungarischen Oligarchen uns mit einem zu herzlichen Lächeln empfangen.

      Achim steuert geradewegs auf unsere Gäste zu und ich folge ihm stumm, momentan nicht fähig eine Entscheidung zu treffen. Ich stehe unsicher auf den Beinen, obwohl der Absatz meiner Schuhe nicht höher als gewohnt ist. Die Knopfleiste des Kleides reibt an der Brandwunde über meiner Wirbelsäule und die Haut an meinem Unterschenkel dehnt sich schmerzhaft bei jedem Schritt. „Úr Gabarscek.“ Achim verneigt sich nicht vor dem dicklichen Ungarn. Achim gibt ihm die Chance, zuerst die Hand zu reichen. Unser Gast nimmt die Ehre an. „Mr. Jameson, es ist mir eine Freude“, sagt Mister Gabarscek mit schwerem Akzent. Der ungarische Oligarch sollte sich erheben, stattdessen nippt er an seinem Glas und lehnt sich entspannt zurück. Achims Nachname klingt seltsam aus seinem Mund, zu gerollt und kantig zugleich. Mein Verlobter zuckt bei Mr. Gabarsceks Verfehlung nicht mit der Wimper.

      Ich lasse mich von Achim zu den Plätzen gegenüber von meinen Eltern führen. Mutter schenkt mir ein warmes Lächeln, Vater ist vertieft in das Gespräch mit einem mir unbekannten Mann, der die Ärmel seines Hemdes nach oben gerollt hat, anstatt sie ordnungsgemäß mit Manschettenknöpfen zu schließen. Gioseppe Riva grinst mich an, als hätte ich ihm nie verdeutlicht, dass seine Anwesenheit unerwünscht ist. Ich widme Gioseppe nicht einmal ein Nicken. Sollte er derjenige sein, der für die gestrige Nacht verantwortlich war, werde ich nie wieder ein Wort mit ihm wechseln müssen. Vorwurfsvoll drehe ich mich um. Ein Kellner zieht meinen Stuhl hervor und ich lasse mich darauf sinken. Die Knöpfe seiner Jacke glänzen, das Stofftuch über seinem Arm ist blütenweiß. „Wünscht die Dame Sekt oder Saft?“, fragt er mich. Kein Alkohol und Säfte sind schlecht für meine Figur. „Ein Wasser, bitte.“ Der junge Mann, dessen Uniform ein wenig an der zu schmalen Gestalt schlackert, verneigt sich vor mir und eilt davon, um meinem Wunsch nachzukommen. Derweil wird Achim sein Sekt eingeschenkt. Anstatt einen Schluck zu nehmen und zu probieren, lässt er ihn unberührt und wendet sich dem ungarischen Oligarchen zu.

      „Es war eine angenehme Überraschung zu erfahren, dass Sie Zeit fanden, zu diesem Essen zu erscheinen, Úr Gabarscek“, sagt Achim glatt und schenkt dem reichen Ungarn das einstudierte Lächeln, das Achims Augen charmant zur Geltung bringt. Der Ungar prostet ihm zu. „Hier geht es um Geschäfte und Essen. Ich liebe beides.“ Das sieht man. Konzentriert halte ich mein Gesicht unbewegt. Noch einen Zentimeter mehr und das Jackett lässt sich nicht mehr schließen. Die Knöpfe spannen bereits besorgniserregend. Sein Kollege lacht gekünstelt. „Es ist uns eine große Freude, die junge Hölgy Clark kennenzulernen.“ Ich straffe leicht die Schultern. Hölgy bedeutet Dame. Ich sollte mich wie eine zu benehmen wissen und nicht weiter den Illusionen einer vergangenen Nacht hinterherhinken.

      „Èn


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