Im Strom. Hans Garbaden

Im Strom - Hans Garbaden


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Wintermantel, Wollschal, Pudelmütze und derbe hochschaftige Stiefel angezogen und war mit der U-Bahn zum amerikanischen Konsulat gefahren. Es war leider keiner der Fußballfreunde dabei gewesen, als er so ausstaffiert vorgelassen und nach seinen Wünschen gefragt wurde. Manni hatte geantwortet, dass er den Kältetest für Grönland machen wolle.

      Die Reaktion nach seiner Rückkehr deutete darauf hin, dass man ihn beinahe in die Geschlossene Abteilung der Psychiatrie in Eppendorf eingewiesen hätte. Manni hatte daraufhin einige Wochen nicht mehr mit den Freunden gesprochen und das Thema „Kältetest“ nie wieder erwähnt.

      Lachend stürzten sie sich wieder in die Fluten der Elbe.

      Michael deutete auf einige elbaufwärts fahrende Schleppkähne. „Wollen wir?“

      Renate schüttelte den Kopf. „Das könnt ihr machen, wenn ich nicht dabei bin!“ Sie hatte die nicht ganz ungefährlichen Aktionen von jungen Männern schon öfter beobachtet. Dabei schwammen die größeren Jungen und Männer zu den geschleppten Schuten und zogen sich auf dem tief im Wasser liegenden Ladebord hoch. Wenn sie Glück hatten und nicht vom Schiffer gleich wieder in den Fluss befördert wurden, ließen sie sich elbaufwärts ein paar Kilometer mitnehmen. Mit einem gewagten, möglichst weiten Sprung, um nicht in den starken Sog der Schiffe oder einen Stromwirbel zu kommen, glitten sie wieder ins Wasser und ließen sich mit dem Strom zur Badebucht zurücktreiben.

      Bis in den frühen Herbst hinein verbrachten die Freunde an sonnigen Tagen viele Stunden an der Elbe. Als die ersten Blätter an den Bäumen sich herbstlich färbten, verspürten Heinz und Renate immer mehr das Bedürfnis, sich ohne die Anwesenheit von Michael zu treffen.

      Als Michael an einem als letzten Badetag ins Auge gefassten Termin verhindert war, machte Heinz Renate den Vorschlag, einmal in einer anderen Bucht die Badesaison zu beenden. Freunde seiner Fußballmannschaft hatten die Stelle an der Süderelbe als Geheimtipp bezeichnet. Das letzte Stück mussten sie ihre Räder schieben, denn der schmale Pfad, der zu dem kleinen Strand führte, war durch dorniges Gestrüpp fast zugewachsen. Sie sahen gleich, dass sie die einzigen Badegäste waren. Sie sahen auch, dass vor der Bucht eine kleine, mit Buschwerk und ein paar Bäumen begrünte Insel lag.

      Wie fast immer war Renate am schnellsten im Wasser. „Wer ist zuerst an der Insel?“ gab sie das Ziel vor, als Heinz etwas frierend in das merklich abgekühlte Elbwasser stieg.

      Er wollte sich keine Blöße geben, tauchte kurz unter und hielt mit kräftigen Schwimmstößen auf die Insel zu. Um durch die starke Strömung nicht abgetrieben zu werden, musste er alle Kraft aufwenden, um geraden Kurs zu halten. Renate, die den Kraulstil perfekt beherrschte, hatte schnell zwei Körperlängen Vorsprung und schlug als Siegerin an.

      Etwas außer Atem gratulierte Heinz: „Zurück wird nicht gekrault. Wir wollen doch Chancengleichheit.“

      „Einverstanden. Aber erst erkunden wir die Insel“, meinte Renate.

      Heinz deutete auf ein verwittertes Schild in Ufernähe der Insel und las den kaum noch zu entziffernden Text laut vor: „Vogelschutzgebiet. Betreten verboten.“

      Renate hatte sich im Garten ihrer Eltern, in dem sie aufgewachsen war, durch die Beobachtung der Vogelwelt einige ornithologische Kenntnisse erworben. „Die Brutzeit unserer heimischen Vögel ist längst vorbei. Selbst Drosseln und Meisen, die oft zweimal hintereinander brüten, sind mit der Aufzucht ihrer Jungen längst durch. Die Zugvögel wie Stare sammeln sich doch schon für die Reise in den Süden.“

      Heinz war schon aus dem Wasser und stieg die Uferkante hinauf. Renate folgte ihm. Sie schlängelten sich durch die Büsche, deren Blätter sich bereits vom Grün in buntes Herbstlaub verwandelten. In der Mitte der Insel stießen sie auf eine kleine Lichtung. Renate ließ sich im hohen Gras auf den Rücken fallen und blickte zu den Wipfeln der Bäume hoch.

      Sie hob beide Arme in die Höhe. „So ähnlich muss es im Paradies sein.“

      Heinz ging neben ihr auf die Knie und blickte ihr in die Augen. „Dann sind wir Adam und Eva.“

      Er beugte sich weiter vor und küsste Renate. Die erwiderte nicht nur seinen Kuss, sondern umschlang Heinz mit beiden Armen und zog ihn zu sich hinunter.

      Als die Sonne schon tief stand und die Bäume lange Schatten warfen, zogen sie fröstelnd ihre nassen Badesachen wieder an und gingen zum Ufer der Insel zurück. Schweigend ließen sie sich ins Wasser gleiten. An ein Wettschwimmen dachten beide nicht mehr. Eng beieinander schwammen sie ruhig zum Elbufer zurück.

      Als sie sich abgetrocknet und wieder angezogen hatten, nahm Heinz Renate in den Arm. „Ist alles in Ordnung?“ fragte er.

      „Ja“, sagte sie. „Es war wunderschön!“

      Eine Woche später wurde auch ein Besuch des Herbstdoms auf dem Heiligengeistfeld ein Ausgang ohne Michael. Es gab weitere Treffen, bei denen Michael dabei war, aber die Aktivitäten ohne ihn wurden mit der Zeit immer häufiger.

      Ein etwas unerfreuliches Erlebnis hatte Heinz im Kleingarten der Holzmanns, als er Renate einmal abholen wollte, um mit ihr mit dem Fahrrad einen Ausflug ins Alte Land zu machen.

      Karl Holzmann war gerade dabei, eine gefällte Birke in handliche Stücke zu sägen. Er wollte für den bevorstehenden Winter einen Brennholzvorrat anlegen. Als er nach dem Begrüßungsschnack mit Heinz die Säge wieder ansetzte, brach er plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen und fasste sich an den Rücken. Heinz veranlasste die Einlieferung in ein Krankenhaus. Der Notarzt stellte fest, dass ein Granatsplitter im Körper von Karl Holzmann gewandert war. Mit einem kleinen Schnitt konnte der Splitter herausgeholt werden. Nachdem die Wunde versorgt worden war, konnte Vater Holzmann mit einem großen Pflaster auf dem Rücken und einem russischen Granatsplitter in der Geldbörse wieder nach Haus fahren.

      Zu Hause zeigte das Familienoberhaupt seiner Frau, Renate und Heinz sein Andenken aus dem Krieg erzählte die ganze Geschichte. Den Splitter hatte er sich in Russland eingefangen. Er kämpfte als Infanterist an vorderster Front, als sowjetische Panzer auftauchten und das Feuer eröffneten. Karl Holzmann lief neben einem Kameraden, dem von einer Granate der Kopf abgerissen wurde. Einige Splitter trafen ihn. Er stürzte, vom Blut des Kameraden übersudelt, in ein vor ihm auftauchendes Erdloch. Sein erster Gedanke war, dass jetzt alles vorbei sei. Nach einigen Minuten, als er sich die Gehirnmasse des toten Kameraden aus dem Gesicht gewischt hatte, erkannte er: „Mensch, ich lebe ja.“

      In einem Feldlazarett wurden die Splitter bis auf einen herausoperiert. Bei dem verbliebenen Splitter war den Ärzten das Risiko zu groß, weil er unmittelbar neben der Wirbelsäule lag. Jetzt war der Splitter gewandert, und das Problem hatte sich erledigt.

      Das war die einzige Kriegserinnerung, die Karl Holzmann seiner Familie erzählte. Er zeigte Verständnis für die Russen, denn er beendete seinen Bericht mit den Worten: „Was wollten wir dort? Wir waren doch gar nicht eingeladen!“

      Ende des Jahres bekam die Freundschaft zwischen Heinz Bendowski und Michael Sonnenberg die ersten Risse, als Heinz merkte, dass sein Freund es nicht akzeptieren konnte, dass zwischen Renate und ihm inzwischen aus Freundschaft Liebe geworden war. Von Renates Seite aus blieb die Freundschaft zu Michael unberührt.

       1961

      Tobias Döllmann, der Linksaußen des Wilhelmsburger SV, hatte für die Freunde eine Brauereibesichtigung organisiert. Tobias war Sohn einer der letzten Bauern in Wilhelmsburg. Da sein älterer Bruder als Erbfolger den elterlichen Hof übernehmen würde, hatte er sich bei der Holsten-Brauerei als Bierkutscher verdingt.

      Die Einladung galt auch den Frauen und Freundinnen der Spieler. An einem späten Nachmittag fanden sich die Teilnehmer auf dem Hof der Brauerei ein. Neben sieben anderen jungen Frauen war Renate zusammen mit Heinz und Michael gekommen.

      Nach der Begrüßung durch einen Braumeister traf etwas abgehetzt der lange Andreas, linker Verteidiger und Kapitän der Mannschaft, ein. Etwas derangiert meinte er: „Ich hatte heute Probleme mit der Polizei.“

      Alle Mannschaftskameraden schauten ihn fragend an. Der lange Andreas war Kunststudent, hatte


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