heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler

heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler


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      Martin stand auf und bugsierte Geschirr und Kaffeebecher in die Spülmaschine, wischte über den makellosen Tisch, rückte den Stuhl zurecht und räumte die Zeitung in die dafür vorgesehene Lade. Keine Frage, es sah aus als hätte hier nie jemand gefrühstückt. Perfektes Beispiel einer Musterküche in einem Möbelhaus, dachte Martin und wendete sich Richtung Flur.

      Ein zweites Mal an diesem Tag verließ er die Wohnung, nahm aber dieses Mal den Hauptausgang zur Straße. Als die Sonne auf seinen dunklen Anzug traf, merkte er, dass er ihn immer noch trug.

      Wie kann man nur zu normalen Bürozeiten im Businesslook durch die Straßen schlendern? Aus Unverständnis über sich selbst musste er den Kopf schütteln. Während er an sich herabblickte, fuhr er mit den Händen entlang des seidigen Stoffs. Ein wenig steckte er in einer fremden Haut. Kein Ding befand sich heute an dem dafür vorgesehenen Ort.

      Martin überquerte den Vorplatz und trottete gedankenverloren in gemächlichem Tempo geradeaus die Straße hinunter. Links von ihm lag die Tiefgaragenausfahrt, die er vor ein paar Stunden bereits in beide Richtungen befahren hatte.

      Wieso um alles in der Welt war er heute nicht zur Arbeit gefahren? Das Schlimmste hatte er doch bereits überstanden gehabt, als er mit dem Auto bereits im Freien war?

      Es war ihm doch an diesem Morgen einigermaßen gelungen, seine Panik vor der Tiefgarage unter Kontrolle zu halten. Im Hinterkopf lauerte eine vage Idee, eine mögliche Antwort, aber Martin wehrte sich, ihr in seinem Bewusstsein einen festen Platz zuzuweisen. Gestern hatte eine völlig nebensächliche Staumeldung im Radio seine Ohren spitzen lassen und ihn in Habachtstimmung versetzt. Genau im falschen Moment hatte er den Worten des Nachrichtensprechers zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Stimme hatte sich sofort in seinem Denkorgan verhakt, negative Bilder heraufbeschworen und diese in seiner Fantasie wie ein Lauffeuer verbreitet. Dies hatte leider genau zu dem geführt, was Martin mitunter am meisten fürchtete. Schreckensszenarien fortzuspinnen. Nicht selten mündete so etwas bei Martin in die Ausschmückung absurdester Dramen.

      „Achtung, Achtung. Stau in der Unterführung an der Kreuzung Lobestraße West…“

      Was, wenn er in so einen Stau unterwegs hineingeriete und in so einer dunklen Unterführung ewig stehen musste? Dann hinge er in einer langen finsteren Schlange fest, Benzingestank, der Sauerstoff würde knapp, ein Feuer könnte ausbrechen. Rauch würde durch die Ritzen der Fenster und Türen dringen. Er könnte bei lebendigem Leib ersticken! Würde menschenunwürdig verdaut werden von beißendem Ruß und von dem öligen, zähen Schleim verbrennender Reifen. Mitten im schreienden Inferno um ihr Leben kämpfender Menschen. Unerträgliche Hitze! Mensch und Gummi schwarz wie der klebrige Teer …

      Martin öffnete sein Jackett. Er schwitzte und sein Puls rannte gegen den gebügelten weißen Hemdkragen. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, den obersten Knopf zu öffnen, so sehr zitterten seine Finger. Dann, endlich Luft! Was für eine Wohltat für die Kehle!

      Ja, er hatte Angst in dunklen geschlossenen Räumen. So viel musste er sich eingestehen. Aber mal ehrlich, ein Tunnel hatte doch zwei große, runde Enden mit Licht? Da kann man doch problemlos durchfahren, oder? Was verdammt nochmal ging ihn so ein saublöder Stau an? Ein Fingerschnipp der Erinnerung zauberte in seinem Kopf spontan den Artikel einer Apothekenzeitung hervor, den er vor etlichen Monaten beim Hausarzt in der Hand gehabt hatte. Es ging um Kreuzreaktionen bei Allergien. Wenn man gegen den einen Stoff überempfindlich war, konnte es sein, dass ein ähnlicher zu den gleichen Symptomen führen konnte. War Angst vielleicht so etwas wie eine Allergie gegen das Leben? Dann konnten zweifellos weitere Situationen plötzlich ebenfalls körpereigene Abwehr hervorrufen.

      Der Gedanke daran erschreckte ihn. Er musste ihn loswerden, bevor er seinen Geist noch mehr vergiftete. Martin beschleunigte seine Schritte und versuchte eine Melodie von Grönemeyer nach zu summen.

      „Sie hört Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt…“

      Vor einem gefühlten Jahrtausend hatte er euphorisch mitten in den Massen gestanden und vorne dieser begnadete Sänger! Die Druckwelle der Bässe hatte über Stunden das Blut in die Ohren gepumpt und am nächsten Tag ein beleidigtes Brummen hinterlassen. Verschwitzte Körper, kreischende Frauen und die Musik außerhalb und im Körper. Irre. Und vor allem irre lange her.

      Ein Piepsen mischte sich in seine Kopfmelodie. Nicht weit vor ihm entdeckte er einen Spatz neben einer kleinen Pfütze, der an irgendetwas herumpickte. Immer wieder sang er ein paar Töne, hüpfte aufgeregt, reckte das Köpfchen und pickte wieder. Inzwischen drückten Martins Lederschuhe vom ungewohnten Laufen auf Asphalt. Gerne blieb er eine Weile stehen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln, indem er sich ganz in den Bewegungsablauf dieses putzigen Tierchens vertiefte. Heute hatte er Zeit. Erstaunlich. Was für ein hektischer Tanz um Nahrung, Machogehabe und Körperpflege. Und immer das Sicherheitsradar im Vollbetrieb. Augen rechts, Augen links. Jedes Wesen war Tag täglich damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, nur dachten nicht alle so verkopft darüber nach wie der Mensch. Tiere lebten einfach nur, während unsere Spezies viel zu viel grübelt, neidet, verdrängt. Auf später verschiebt oder in Routinen vor sich hindämmert. Was war eigentlich der tiefere Plan des Lebens? Es bloß zu meistern oder es zu genießen? Konnte ein Vogel bewusst genießen? Und wenn ja, war es Genuss im philosophischen Sinne im Bezug auf sich selbst wie beim Menschen oder nur die Erleichterung, nicht gefressen worden zu sein? Es gab genügend Rätsel auf der Welt, die noch nicht gelöst waren. Und ein großes Fragezeichen schwang jedoch über Martin selbst. Begründet oder unbegründet, er war heute aus seinen Pflichten ausgeschert. Ein Novum. Herr Steiner kam normalerweise auch mit dem Kopf unter dem Arm in die Bank. Wenn er ehrlich darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass die Krankheitszeichen während seines Spaziergangs wohl eher überschaubar geblieben waren. Streng genommen hatte er ein Rechtfertigungsproblem für seine Arbeitsunfähigkeit…

      „Ach, was soll das“, murmelte er halblaut in die Pfütze, als müsste er dem Spatzen erklären, warum er hier grippefrei herumstand.

      „Herr Polarsky kann auch noch einen Tag länger auf sein Haifischbecken warten.“

      Man sollte sich auch mal einen Tag Erholung gönnen, wenn man sonst immer schnurrt wie eine Eins. Dennoch spürte er einen leichten Anflug von schlechtem Gewissen. Auf seinem Tisch stapelten sich die Anträge und er spazierte hier durch die Gegend. Aber hatte er heute Morgen nicht wirklich ein wenig Halsweh gehabt? Vielleicht bahnte sich eine Erkältung an? Da war ein Spaziergang an der frischen Luft und Sonne geradezu empfohlen zur schnellen Genesung. Er würde dadurch schnell wieder voll leistungsfähig sein und er würde darüber hinaus nicht unnötig nichtsahnende Kollegen anstecken. Denn war man nicht vor Ausbruch einer waschechten Grippe am meisten infektiös? Logisch folgte er den einzelnen Gliedern seiner gedanklichen Kette und ging damit unbewusst einem Trick des menschlichen Gehirns auf den Leim. Schutz des positiven Selbstbildes. Mit den richtigen Argumenten konnten unangenehme Sachverhalte stets bequem über die unsichtbare Trennlinie von der Negativseite auf die Positivseite des Kontos geschoben werden.

      Über all diesen neuen Grübeleien war das Räderwerk in seinem Hinterkopf bezüglich der gestrigen Staumeldung leiser geworden. Im Hintergrund ratterte es noch, aber Martin empfand es nicht als störend. Seine Füße trugen ihn weiter und weiter und im Wissen, seiner angeschlagenen Gesundheit etwas Gutes zu tun, konzentrierte er sich auf die kraftvolle Beinarbeit und genoss es, wieder Energie in der Muskulatur zu spüren. Laufen tat gut. Selbst mit harten Lederschuhen. Sportlich bog er Richtung Park ab. Überall piepsten die Vögel. Für sie war diese grüne Oase in der Stadt ein Paradies. Sein Weg führte ihn unter idyllisch hängenden Weiden hindurch und wohl dosiert sog er die kühle Luft des Vormittags ein. Ein kräftiger Wind nahm immer wieder Anlauf und wehte munter über die Kieswege und den gepflegten Rasen. Frech griffen die Böen einem Mann im Anzug in die Haare und zerzausten seine sonst so akkurat gekämmte Frisur. Dazu im flotten Laufschritt zu gehen, belebte, weckte Martins Lebensgeister. Er sog die Frische ein und schloss für eine Weile die Augen. Als er sie wieder öffnete, verlangsamte er und ließ den Blick über den Park schweifen. Ein wenig Orientierung konnte nicht schaden. Den Park nutzten normalerweise andere.

      Er selbst war seit ewigen Zeiten nicht mehr hier entlanggelaufen, aber er erkannte die Buxhecke, hinter


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