Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom


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eine dritte Ladung schmutzige Wäsche in den Keller und legte die zweite zusammen. Sie schälte Kartoffeln für die Latkes und ließ sie in einem Topf mit kaltem Wasser in der Spüle stehen. Sie polierte die Messing-Menora aus Ungarn, die ihrem Vater gehört hatte, dann polierte sie die Menora, die sie für ihren Sohn Lipa zu seiner Bar-Mizwa gekauft hatte. Sie war versilbert, und darauf geprägt waren Löwen, die ein Schild hielten. Diese Menora stellte sie zurück in den Schrank. Danach nahm sie sein Jahrzeit-Licht aus der Schublade und stellte es zu den Menora auf das Fensterbrett. Und dann war es Mittagessenszeit.

      Ihre sechs verheirateten Kinder kamen mit ihren Frauen und Männern und allen ihren Kindern lachend und rufend die Treppe herauf. Surie hatte zweiunddreißig Enkel, und jeden Freitagabend zündete sie für jeden eine Kerze an und sagte in einem langen gebetsartigen Singsang ihre Namen auf. Ihr ältester Sohn Eluzer war vierzig, kein Kind mehr und doch immer noch ihr Kind trotz seiner Größe, seines Alters, seiner Ernsthaftigkeit und seines langen Barts, der grau zu werden begann. Die Tochter ihres Sohnes, das erste seiner zehn Kinder, war bereits verheiratet. In ein paar Monaten würde Surie Urgroßmutter.

      Dead Onyu und Dead Opa stöhnten, als sie einer nach dem anderen in den Treppenlift gehievt wurden, der auf einer Schiene die Treppen zu ihrer Wohnung hinauffuhr. Suries Kinder und Enkel sahen alle gleich aus mit ihren langen schmalen Gesichtern, den blauschwarzen Augen und der dunklen Kleidung.

      Sie hatte viele Namen. Surie. Onyu. Mamme, Mommy, Schwiger, Tantie, Bubbie. Bald würde Surie Dead Onyu genannt werden, Urgroßmutter, und Dead Onyu wäre Ook Onyu, Ururgroßmutter. Sie alle sprachen gleichzeitig in ihrem ungarisch angehauchten Jiddisch, und ihre Kinder und Kindeskinder umarmten sie, küssten ihr die Hand und erklärten, was sie zum Familienessen mitgebracht hatten. Seit vier Jahren kochte an diesem einen Tag im Jahr ihre Familie und nicht sie. Ihre Töchter übernahmen die winzige Kochnische und begannen, die Kartoffeln zu reiben, und ihr zweiter Sohn, der gern kochte, frittierte die Donuts. Die Wohnung war erfüllt vom Geruch nach heißem Öl, Zwiebeln und Windeln. Auf dem Tisch standen Köstlichkeiten, ihre Töchter und Schwiegertöchter versuchten, einander zu übertreffen mit Delkelach oder Dobostorte oder Arany Gulashka, Krumplileves oder Papanaşi oder Flódni.

      Die Wohnung war klein, beengt und dunkel. Die Kinder richteten im langen Flur eine Kegelbahn ein, wechselten sich mit dem Ball ab und zielten auf mit Sand gefüllte Plastikflaschen. Zuerst kegelten die Mädchen, dann die Jungen.

      Der ölige Geruch, der durch die Wohnung zog, überwältigte Surie, und ihr wurde schlecht, obwohl sie sich bemühte, die Nase zu verschließen. Gleich würde sich ihr der Magen umdrehen. In dieser Wohnung gab es nur ein kleines Bad mit zwei Türen, eine führte in ihr Schlafzimmer, die andere in den Flur, in dem die Kinder spielten. Sie würden alles hören. Sie würden sich Sorgen machen und zu ihren Eltern laufen, und eine ihrer schwangeren Schwiegertöchter würde einer anderen Schwiegertochter einen Witz über morgendliche Übelkeit zuflüstern. Sie konnte sich ihr Entsetzen vorstellen, wenn sie erfuhren, dass sie Zwillinge erwartete. Das Schweigen, die feuerroten Gesichter, die schockierten Blicke. Niemand würde »In a gite sha’a« sagen. Niemand würde sie nach dem Entbindungstermin fragen. Sie würden von ihr zu Yidel schauen und wieder zurück und glauben, dass ein Verbrechen geschehen war, um eine Urgroßmutter zu schwängern.

      Sie musste weg von den Gerüchen! Surie wandte sich an Dead Onyu und sagte: »Du siehst aus, als würdest du frieren.« Das Zimmer war wahnsinnig überheizt. Schweiß lief ihr übers Gesicht.

      Dead Onyu griff nach ihrem Arm und schnüffelte in der Luft. »Was ist los, Surie? Sag es mir.«

      Surie schüttelte ihre Schwiegermutter ab und sagte, dass sie hinuntergehen und ihren Pullover holen würde.

      Sie ließen sie nicht gehen. »Heute ist dein freier Tag, Mamme«, sagte Eluzer, führte sie zu einem Sessel und zog einen Fußschemel heran. »Ich hole ihre Strickjacke.« Tzila Ruchel brachte ihr eine Tasse mit heißem Kakao, in dem Marshmellows schwammen. Eine Enkelin stieg ihr auf den Schoß. War es schlimm, dass sie nicht immer den richtigen Namen zu einem Gesicht wusste? Auf Suries Stirn standen kleine Schweißperlen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Salz schmeckte gut. Doch sie hatte Angst, sich auf den Kopf des Kindes zu übergeben. Schließlich ließ die Übelkeit nach, und sie lehnte sich in das Polster zurück und atmete wieder.

      Jemand hatte das Fenster geöffnet, und ein kalter Wind blies über sie, trug den tiefgrünen Geruch des Flusses herein. Durch das Fenster sah sie die Wolken, die sich über den höchsten Platanen türmten. Hunderte von Kanadagänsen flogen in V-Formation schnatternd vorbei, unterwegs zu einem wärmeren Ort. In den nahen Bäumen saßen Krähen im Geäst, geduckt gegen den Wind. Die Zahnräder der großen Uhr setzten aus, ein Klicken, ein Augenblick der Spannung, und dann die Schläge. Drei Uhr, eine Stunde vor Schabbes. Eine einzelne weiße Flocke schwebte am Fenster vorbei und dann noch eine.

      »Es schneit«, rief eins der Mädchen, und alle jubelten und scharten sich ums Fenster. »Der Ojberschte schüttelt die Federn aus seinem Federbett!«

      Surie ging in ihr Schlafzimmer und schaute hinauf zu der Landkarte von Europa. Mäntel lagen auf ihrem Bett, ein Berg schwarzer Wollstoff, gefüttert mit schwarzer Seide. Sie wollte sich hinlegen. Sie war sehr müde. Ihre Beine schmerzten. Sie kratzte sich im Nacken, an den Innenseiten ihrer Handgelenke, am Kinn. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich blutig kratzen. Sie nahm ihr hübsches Kopftuch und die Kurzhaarperücke ab und bedeckte den Kopf mit einem Baumwollturban. Sie betrachtete sich im Spiegel. Was für eine Bubbie. Dann nahm sie den Turban wieder ab, setzte erneut die steife Perücke und das Kopftuch auf. Vielleicht war es das letzte Jahr, in dem ihre Kinder zu Chanukka kamen. Nächstes Jahr würden sie wissen, was sie dieses Jahr verheimlichte. Sie sollte es jetzt genießen. Wer wusste schon, was nächstes Jahr wäre? Wer wusste schon, ob sie überhaupt noch am Leben wäre? Schwanger mit siebenundfünfzig … Sie sollte zurückgehen und sich zu ihrer Familie setzen.

      »Du siehst gut aus, Bubbie.«

      Surie erschrak. Hinter der Spiegeltür saß in dem altmodischen Kleiderschrank ihre älteste Enkelin, Tzila Ruchels Tochter, die zur gleichen Zeit vor dreizehn Jahren auf die Welt gekommen war wie Suries Chaim Tzvi. Sie hatte es sich auf einem zusammengefalteten Mantel bequem gemacht und hielt ein Buch auf den Knien. Ihr Haar war dicht und blond, zu zwei Zöpfen geflochten. Sie galt als sehr schlau. Sie war viel intelligenter als Chaim Tzvi, dem die lange Geburt nicht gut bekommen war. Alle machten sich Sorgen um sie. Zu schlau zu sein war nicht gut. Statt des Gesichts des Mädchens sah Surie das Gesicht ihres sechsten Kindes, ihres Sohns Lipa mit seinen dunklen Augen und seiner traurigen Miene und der seltsamen grünen Brille, mit der er eines Tages nach Hause gekommen war. Als kleines Kind hatte auch er gern in dem Schrank gesessen und gelesen. Manchmal war er dort eingeschlafen, und sie hatte ihn hochgehoben und in sein Zimmer getragen, sein lieber kleiner Kopf an ihrer Schulter, seine weichen Pejess an ihrer Wange. Heute, der erste Abend von Chanukka, war Lipas vierter Todestag. Wenn er nur da wäre. Sie würde nichts über seine sonderbare Brille sagen.

      Lipa verblasste. Surie berührte die grüne Brille in der Tasche ihrer Schürze. Sie war wieder allein mit dem Mädchen. Sie ging zu ihrer Enkelin und hielt ihr die Hand hin. »Miryam Chiena«, sagte sie, »sollen wir zurück zu den anderen gehen?«

      Sie gingen Hand in Hand ins Esszimmer, und alle aßen die besonderen Gerichte, die zu Ehren von Chanukka zubereitet worden waren, obwohl Chanukka erst nach Sonnenuntergang begann. Yidel lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Hände auf dem Bauch gefaltet, und summte ein altes wortloses Lied. Das war ihr Brauch, früh zu essen, die Kerzen anzuzünden und dann durch die Straßen zu gehen, die Menora in den Fenstern zu bestaunen und ihre Freunde zu grüßen, von denen viele ebenfalls auf den Straßen unterwegs waren.

      Einer der kleinen Jungen saß weinend unter dem Tisch, weil er nicht das letzte süße Quarkteilchen bekommen hatte.

      »Komm«, sagte Surie und bückte sich keuchend über ihren Bauch, um ihn hervorzuholen und ihm ein Stück der Schokolade zu geben, die eigentlich für die Erwachsenen bestimmt war. »Du bist was ganz Besonderes, mein Lämmchen.« Und er freute sich und leckte ganz langsam an der Schokolade, um die anderen Kinder zu quälen.

      Lipa war immer das Kind gewesen, das unter dem Tisch weinte. Seine Cousins


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