Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

Eine ganze Welt - Goldie Goldbloom


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mitzunehmen. Während ihrer Kindheit hatte sie in ihrem Bett gelegen, das zuverlässige Ticken geliebt, die lauten Schläge, den Glanz des Mahagonis, die Fremdheit von etwas so Altem, weil alle, die sie kannte, mit nichts in die Vereinigten Staaten gekommen waren.

      An diesem Sonntag stand sie vor der Uhr, als sie zehn schlug. Sie war achtzehn, hielt die Kerzenständer ihrer Mutter in der Hand. Sie war siebenundfünfzig. Wie war es möglich, gleichzeitig beides zu sein? Surie folgte Yidel nach unten und schob mit dem Fuß zwei Hühner beiseite, bevor sie hinter ihrem Mann durch die Tür ging. Die Ecksteins hielten eigene Hühner. Sie aßen kein rotes Fleisch. Das Geflügel lebte im Hinterhof in einem großen Stall, den Dead Opa, Yidels Vater, 1951 gezimmert hatte. Er hatte auch im Flüchtlingslager in Österreich Hühner gehalten. Die Vögel pickten Würmer und rostige Schrauben aus der trockenen, blassgrauen Erde. Die Ecksteins besaßen immer fünfundzwanzig Hennen, dreißig vor Rosch ha-Schana, aber nie einen Gockel. An Sukkot, wenn Tzila Ruchel, Suries älteste Tochter, eine Laubhütte über die ganze Breite des Hauses errichtete und die Türen ständig geöffnet und geschlossen wurden, wanderten die Hühner hinaus auf die Straße und verursachten Unfälle.

      Es waren alberne Tiere. Sie sprangen wie Gummibälle in die Luft. Sie gackerten und gurrten und kreischten. Als sie heiratete, hatte Surie nicht gedacht, dass sie Hühner halten würde. Keine ihrer Freundinnen im Viertel hatte einen Hof voller weißer Federn und Mist. Manchmal rief Yidel in weit entfernten Brutbetrieben an und bestellte zweifach verwendbare Küken, Vögel, die in jede Ecke des Hühnerstalls Eier legten, aber sich auch für Suppen und Eintöpfe eigneten, wenn sie mit dem Eierlegen aufhörten. Was auch ihre eigene Fruchtbarkeit hätte tun sollen.

      Suries Familie hatte keine Hühner gehalten. Sie hatten im Keller keine Häute gegerbt oder Trauben oder Oliven ausgepresst, um daraus Wein und Öl zu machen. Sie waren vollkommen normal gewesen, bis bei ihrer Mutter mit fünfzig Brustkrebs diagnostiziert worden war. Surie war das jüngste von acht Kindern, das einzige, das noch zu Hause lebte und nicht verheiratet war. Ihr Vater geriet in Panik und wollte sie rasch unter die Haube bringen, damit ihre Mutter sie noch unter die Chupe führen konnte. Die Ironie der Geschichte war, dass ihr Vater kurz nach der Hochzeit an einem Herzinfarkt starb, während ihre Mutter noch zwei Jahre lebte.

      Surie war sechzehn gewesen, als sie im Esszimmer der Ehestifterin Yidel vorgestellt wurde. Sie hatten sich eine halbe Stunde unterhalten. Ein einziges Mal. Ja oder nein?, war sie gefragt worden. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Yuda Leib? Sie hatten nicht über Hühner gesprochen. Er hatte ein sanftmütiges Lächeln und ein Lachen, das das Zimmer ausfüllte. Später wurde ihr klar, dass er ein bisschen nach Hühnern und Häuten gerochen hatte, aber im Augenblick, im Zimmer der Ehestifterin war ihr der Geruch seiner Kleider exotisch, fremd und aufregend erschienen. Sein Bart war rotblond gewesen.

      »Wie bei König David«, sagte er und berührte den Bart, als er merkte, dass sie ihn betrachtete. Obwohl er älter war als sie, war er noch ein Junge, sein Bart gerade mal drei Zentimeter lang. Er war die ganze Zeit rot angelaufen, aufgeregt und beschämt wegen seiner Aufregung, beflissen und schüchtern. Derselbe Yidel, wirklich. »Masl-tow!«, hatte ihr Vater gerufen, als sie ja murmelte. Ihre verheirateten Geschwister und ihre Mutter waren hereingestürzt, um zu feiern, als hätten sie an der Tür gehorcht. Ihre Mutter hatte geweint und geweint und gewünscht, ihre vier älteren Kinder, die im Holocaust ermordet worden waren, könnten dabei sein, aber Surie wollte nicht in die alte Traurigkeit hineingezogen werden. Ihr stand ein neues Leben bevor, ein neues Heim, jenseits des Schattens von Europa.

      »Wann hattest du deine letzte Periode?«, war die erste Frage der Rebezn nach der Verlobung gewesen. Sollte sie darüber Buch führen? Offenbar. Glücklicherweise erinnerte sie sich. Die Hochzeit wurde auf zwei Monate danach festgelegt, die Zeit größter Fruchtbarkeit.

      Am Morgen nach der Hochzeit kam eine frischverheiratete Freundin vorbei, um ihr zu zeigen, wie sie ein Tuch über den rasierten Kopf band. Surie betrachtete sich im Spiegel. Jede verheiratete Person wusste, was in der vergangenen Nacht passiert war. Die Frauen würden mit ihr zusammenzucken, wenn sie sich setzte. Die Männer würden Yidel auf den Rücken klopfen und auf sein Lächeln hin grinsen. Aber abgesehen vom Kopftuch sah sie aus wie immer. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass keine Worte auf ihre Stirn gestempelt waren, die verkündeten, was sie in dem dunklen Zimmer getan hatte. Und zudem: Sie war nicht sicher, ob sie es hätte genießen sollen, aber sie hatte es genossen, und sie grinste Yidel immer wieder an und hielt sich dann die Faust vor den Mund. Und obendrein: Sie wusste es nicht, aber sie war bereits schwanger.

      Jetzt war sie auch schwanger, schwanger mit sechzehn und schwanger mit siebenundfünfzig, Lebensabschnitte, in denen man lieber nicht schwanger sein will. Es regnete, auf dem Gehweg bildeten sich breite Pfützen. Das Wasser lief ihr in die Schuhe. Yidel und Surie machten ihren sonntäglichen Gang die Division Avenue entlang bis zur Lee Avenue. Bei Flaum holten sie Pickles und Heringe. Zwei Häuser entfernt von ihrem Haus war ein Fischgeschäft, aber sie kauften seit vierzig Jahren bei Flaum ein. Yidel warf ein paar Münzen in die verwelkte Hand eines Mannes, dessen Rollstuhl vor dem Laden stand und der ständig vor sich hin murmelte. »Tschebiner Jeschiwa«, sagte der Mann. »Tschebiner Jeschiwa.«

      Zum Metzger in der Rodney Street. Zurück zur Lee, zu Wagers, dem Lebensmittelhändler. Im Rinnstein trieben glitzernde Fischschuppen davon. Regenwasser floss von den Dächern auf Stapel aus Mülltüten und flachgedrückten Schachteln. Spatzen pickten im Abfall. In der Bäckerei kaufte Yidel außer der Torte, die sie als Geschenk für die Gastgeberin der Schewa brachot an diesem Abend bestellt hatten, noch fünf Kekse. »Für Tzila Ruchels Mädchen«, sagte er. Ihre dreißigjährige Tochter lebte in der Wohnung unter ihnen. »Und einen für mein bestes Mädchen«, sagte er, warf einen sechsten Keks in die Tüte und lächelte sie an. Die Trolleys wurden schwerer und schwerer, neigten sich zur Seite, ihre Räder ächzten. Yidel nahm die schwersten Sachen aus Suries Trolley und legte sie in seinen. Kurz vor dem Mittagessen waren sie wieder zu Hause. Die Uhr ihrer Mutter schlug zwölf.

      »Geh schon rauf«, sagte Yidel zu ihr. Er würde beide Trolleys die Treppen hinaufziehen, doch er wurde auch nicht jünger. Manchmal befürchtete sie, dass er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hätte. Was würde passieren, wenn sie plötzlich damit herausplatzte, dass sie Zwillinge erwartete?

      »Ich mache die Suppe heiß«, sagte sie.

      2

      Am zweiten Nachmittag nach dem Ultraschall, volle achtundvierzig verschwundene Stunden, nachdem sie von den Zwillingen erfahren hatte, stand Surie wieder an der Spüle und wusch die kleinen Glashalter für die Schabbes-Kerzen mit Ammoniak und einem Lappen. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie hatte immer Tränen in den Augen, wenn sie Ammoniak benutzte.

      »Ich habe beschlossen, mit Schwartz Néni jede Woche mit dem Bikur-cholim-Bus zu fahren«, sagte sie zu Yidel. »Freitagnachmittags. Ich habe Zeit.« Es war Montag. Sie kündigte es ihm früh genug an.

      Dass sie die Kranken in der Klinik besuchen wollte, war nicht wirklich gelogen. Sie würde Schokoladenkuchen mitbringen. Sie würde an den Betten der Patienten stehen bleiben und Psalme aufsagen. Und dann würde sie zur Gynäkologie gehen. Wenn es eine Lüge war, dann durch Auslassung.

      Yidel erwiderte nichts. Er las die jiddische Zeitung.

      »Ich langweile mich«, erklärte sie. Unter ihren Armen, am Ende ihres Rückgrats sammelte sich Feuchtigkeit. Auch unter der Kugel ihres Bauchs. »Leere Tage machen komische Dinge mit einem.«

      Warum log sie? Nie zuvor hatte sie Yidel angelogen. Sie steckte den Lappen ins Glas und drehte ihn.

      »Die anderen Frauen sagen, dass sie in den Wechseljahren ruhelos werden.«

      Yidel wurde rot und raschelte mit der Zeitung, faltete sie und stand auf. »Du bist also normal. Eine normale Frau. Gut. Gott sei Dank.« Yidel war immer der liebevollste Vater gewesen, unendlich geduldig. Auch wenn er überrascht wäre, wäre er doch stolz auf die Zwillinge. Er hatte im Alter nicht nachgelassen; er lief noch immer die Treppe rauf und runter, schleppte mehrere Enkelkinder auf dem Rücken und sagte dabei alte ungarische Abzählreime auf. Jeden Tag würde er mit den Zwillingen zur Schil gehen, und seine Freunde müssten ihn ermahnen, den Mund zu halten,


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