Gesicht des Zorns. Блейк Пирс
Haus, zu dem sich Zoe unter normalen Umständen niemals getraut hätte. Es war kein Zufall, dass sie nur nachts herkam, wenn die Dunkelheit ihr Schutz bot und der Alkohol sie weniger nervös gemacht hatte. Nachts war es unwahrscheinlich, dass sie Zoe sehen würden, weshalb sie ungestört dort stehen und sich in ihren Schuldgefühlen suhlen konnte, ohne jemals irgendetwas dagegen zu tun.
Was nicht hieß, dass sie nichts tun wollte. Zoe wünschte sich nichts sehnlicher, als an die Tür dieses Hauses zu klopfen. Sie wünschte sich, dass sich die Haustür öffnen und ihre Partnerin Shelley Rose vor ihr stehen würde, mit ihrer perfekt sitzenden Frisur und ihrem sauber aufgetragenen, rosafarbenen Lippenstift. Sie wünschte sich, dass Shelley sie anlächeln und „Dann wollen wir mal, Zoe!“ oder etwas dergleichen sagen würde. Und dass sie dann zusammen in einen Flieger steigen und irgendwo einen Mordfall lösen würden. Dass einfach alles in Ordnung wäre.
Aber das war unmöglich, denn Shelley wohnte hier nicht mehr. Shelley lag unter der Erde. Zoe hatte dabei zugesehen, wie man sie in ihr frisch ausgehobenes Grab hinabgelassen hatte, während ihr Ehemann und ihre Tochter daneben standen. Sie hatte schon damals etwas sagen wollen, aber sie hatte es ebenfalls nicht geschafft. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, aber sie schaffte es immer noch nicht. Sie hatte es nicht verdient, mit der Sache einfach so abzuschließen.
Shelleys Ehemann hatte nun keine Frau mehr. Shelleys Tochter hatte nun keine Mutter mehr. Zoe hätte bei ihnen klopfen und ihnen sagen können, dass es ihr leid tat, dass sie an allem Schuld war, dass sie es nicht hatte verhindern können. Sie hätte die ganze Schuld auf sich nehmen können, den ganzen Hass der beiden – und überhaupt alles, was sie Zoe an den Kopf werfen wollten – absorbieren können. Sie hätte dafür sorgen können, dass es den beiden ein wenig besser ging.
Aber ob nun aus Rücksicht auf sich selbst oder auf Shelleys Familie – es war ihr nicht möglich. Nicht nur, weil sie es nicht verdient hatte. Auch nicht, weil sie sich nicht traute. Zoe sah zu dem Haus auf und versuchte, zu formulieren, was sie den beiden sagen würde. Aber alles, das ihr in den Sinn kam, war: Zur Straße hin hat das Haus fünf Fenster, die jeweils in vier Teile unterteilt sind; die Haustür ist zwei Meter hoch; der Weg zur Tür ist einen Meter und achtzig Zentimeter lang und besteht aus zwölf Gehwegplatten; jede einzelne dieser Platten ist fünfzehn Zentimeter lang, was im angloamerikanischen Maßsystem etwa einem halben Fuß oder sechs Zoll oder 0,164 Yard entspräche…
Zoe fand für sie keine Worte. Ihr kamen nur Zahlen in den Sinn. Sie wandte sich von dem ihr wohlbekannten Haus, mit all seinen Maßen und Dimensionen, ab und zwang sich dazu, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Wenn sie an diesem Moment angelangt war, dann ging es ihr immer noch schlechter, als es ihr vor ihrem Aufbruch gegangen war. Und doch führte es sie immer wieder hierher.
Früher oder später würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als einfach gar nicht mehr rauszugehen. Es war das Risiko einfach nicht wert.
Und Zoe sah keinen Ausweg aus dieser schrecklichen Situation – eine Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte. Sie würde einfach mit ausgeschaltetem Handy zu Hause sitzen bleiben und all die Anrufe ignorieren, die sie erhalten würde, wenn ihre Suspendierung aufgehoben wurde, und alles zur Erinnerung von jemand anderem verblassen lassen.
KAPITEL ZWEI
Elara Vega sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch, eine Geste, die nur für sie selbst gedacht war. Sie war schließlich allein; ihre Kollegen waren bereits gegangen, die meisten um sechs, als die Arbeitszeit offiziell geendet hatte. Aber Elara bedeutete ihre Arbeit alles – das war schon immer so gewesen.
Nein, das stimmte nicht ganz, dachte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte und ihre Notizen für den nächsten Morgen sortierte. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der ihr andere Dinge wichtiger gewesen waren. Sie hatte ihren Sohn groß gezogen und für eine Weile war sie auch verheiratet gewesen, auch wenn die Scheidung nun schon zwanzig Jahre zurücklag. Zwei Jahre nach der Scheidung war ihr Sohn fürs Studium ausgezogen und seitdem lebte sie allein. Ihr gefiel dieses Leben. So hatte sie all die Sterne und Planeten, die Ewigkeit und Vergänglichkeit zugleich repräsentierten, ganz für sich.
Elara warf noch einen weiteren Blick auf ihren aufgeräumten Schreibtisch, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war. Wenn sie in ihren neunundfünfzig Lebensjahren eines gelernt hatte, dann, dass es wesentlich einfacher war, immer alles gleich aufzuräumen, als ein Chaos zu beseitigen, das sich über längere Zeit angesammelt hatte.
Mit dem Ergebnis ihrer Mühen zufrieden, griff Elara nach ihrem Mantel, der über der Lehne ihres Stuhls hing, und warf ihn sich über. Dann machte sie sich in Richtung Ausgang auf. Sie war gerade dabei, ihren Kragen zu glätten, als sie in den Flur trat und sah, dass dort einer der Hausmeister damit beschäftigt war, mit kreisrunden Bewegungen den Boden zu wischen. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie so lange im Büro geblieben war, dass sie die Reinigungskräfte beim Putzen störte. Die mussten ja auch ihre Arbeit machen und waren sicher nicht begeistert davon, wenn sie in ihren Schuhen über den frisch gewischten Boden stiefelte.
In dem Planetarium gab es sowohl Büros als auch Konferenz- und Veranstaltungsräume, die alle um den in der Mitte gelegenen Vorführsaal angeordnet waren, von dem aus man ins Foyer und damit zum Ausgang kam. Elara trat in den dunklen Raum, der nachts, wenn das ganze Gebäude dunkel und still war und auf all den hier aufgereihten Stühlen niemand saß, immer etwas Gruseliges an sich hatte. Sie fühlte sich dabei immer an eine typische Horrorfilmszene erinnert, in der die Charaktere einen verwaisten und heruntergekommenen alten Kinosaal mit verrottenden Sitzpolstern und eingestaubtem Filmprojektor entdeckten. Sie mühte sich, den Saal rasch zu durchqueren, um möglichst schnell in das wesentlich weniger furchteinflößende Foyer zu gelangen. Und danach an die kühle Nachtluft.
Sie hatte gerade etwa die Mitte der vordersten Sitzreihe erreicht, als sie ein ihr gut bekanntes Geräusch vernahm: das mechanische Rattern des Projektors, das immer zu hören war, wenn er den Betrieb aufnahm. Elara blieb stehen, blickte sich verwundert um und sah schließlich zur Decke auf. Die Sterne und Planeten waren über ihrem Kopf zum Leben erwacht und wirbelten herum, bis sie schließlich an ihren Plätzen für den Beginn der Vorstellung zur Ruhe kamen. Sie hatte das schon hunderte Male gesehen und war sogar beteiligt gewesen, als vor einigen Jahren die Genauigkeit des Systems anhand neuer Sternkarten überprüft und aktualisiert worden war. Aber zu Beginn der Präsentation hier in der Mitte zu stehen, das war dennoch auch für sie ein ganz neues Gefühl. Es machte beinahe den Eindruck, als könnte sie nach den Sternen greifen und sie berühren…
Aber wer hatte den Projektor eingeschaltet? All ihre Kollegen waren bereits nach Hause gegangen. Und zu dieser späten Stunde sollte er eigentlich nicht an sein. Orchestermusik dröhnte nun aus den Lautsprechern, so laut, dass Elara nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sie runzelte die Stirn und drehte sich langsam um, denn sie dachte, dass sie besser mal im Projektorraum nachsehen sollte–
Doch plötzlich kniete sie auf dem Boden und starrte den Teppich an. Wie war das denn passiert? Gerade eben noch war sie doch – aber dann hatte ein starker Schmerz ihren Hinterkopf durchzogen – sie erinnerte sich daran, dass etwas mit krachendem Geräusch dagegen geprallt war, das Geräusch war sogar noch lauter als die Musik gewesen – daraufhin hatten ihre Beine nachgegeben, genau wie ihre Arme, ihr ganzer Körper hatte förmlich zu brummen begonnen–
Nun vernahm sie noch etwas anderes in ihrem Nacken – eine andere Form des Schmerzes – eine Hand, die fest zupackte, ohne Rücksicht auf ihre empfindliche Haut zu nehmen. Elara versuchte benommen, sich aus dem Griff zu befreien, denn sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Doch die Hand griff dadurch nur noch fester zu. Der Schmerz schien wie aus weiter Entfernung zu ihr durchzudringen. Als käme er von einem anderen Planeten, durch die große Entfernung und das Licht der anderen Sterne verschleiert. Sie bewegte sich nun. Genauer gesagt wurde sie bewegt, denn etwas packte sie immer noch am Nacken – brachte sie irgendwo hin, ihre Beine schleiften dabei hilflos den Boden entlang.
Elara gab sich alle Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, sie daran zu hindern, immer weiter über den glatten Boden zu rutschen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, denn die Musik war zu laut und die Lichter zu grell. Und dann floss da auch noch irgendetwas Heißes ihre Stirn herunter, direkt in ihr Auge. Unter sich nahm sie nun etwas Rundes