Tarmac. Nicolas Dickner

Tarmac - Nicolas Dickner


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klebte ihr am Körper. In einiger Entfernung von Yarmouth hörte man ein Gewitter heraufziehen.

      Ann wusste fortan – und würde es keine Sekunde ihres Lebens mehr vergessen –, dass der Weltuntergang im Sommer 1989 bevorstand.

      Doch stutzte sie sofort über die mangelnde Vollständigkeit dieser Information. Sommer 1989? Weiter nichts? Ihre Cousins hatten ihr doch versichert, ihr würde nicht nur der genaue Zeitpunkt des Weltendes mitgeteilt, auf die Minute genau, sondern sie erhielte auch detaillierte Bilder, Tastempfindungen, Gerüche. Man hatte ihr eine Offenbarung auf Großleinwand versprochen, und was sie bekam, war ein unscharfes Dia, auf dem Bilddetails fehlten.

      Sie setzte sich im Bett auf und bemerkte, dass ein anderes Ereignis gerade eingetreten war – ein feuchtes, zähflüssiges und endgültiges Ereignis. Sie fuhr sich mit der Hand zwischen die Beine und zog drei Finger hervor, an denen rötlich braunes Blut glänzte. Somit war sie mit ihrer kleinen Höllentour also durch.

      Sie ging noch ein paar Jahre zur Schule, hatte auch immer gute Noten, verließ diese aber in der 12. Klasse ohne Nennung von Gründen. Es hätte sie ohnehin niemand danach gefragt. Sie trat eine Stelle in der Stadtbibliothek an (sie bestand aus ein paar Regalen im Keller des Rathauses), wo sie Bücher einordnete und ihr Latein aufbesserte.

      Mit achtzehn hatte Ann ein sehr kurzes Abenteuer mit einem Gerichtsschreiber und wurde auf der Stelle schwanger. Bei der Zeugung handelte es sich selbstredend um ein Produkt des Zufalls. Die Randalls vermehrten sich ausschließlich auf ungeplante Art und Weise. Die genaueren Umstände des nächtlichen Ereignisses blieben ungeklärt, der lokalen Legende zufolge wurde es nach der Öffnungszeit zwischen den Regalen der Kinderbuchabteilung vollführt. Böse Zungen behaupteten, dass Ann sehr wohl darauf aus gewesen war.

      Der Gerichtsschreiber, ein guter Familienvater und angesehener Bürger, verschwand daraufhin von der Bildfläche und überließ Ann sich selber – in der Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung wie auch mit der winzigen Kohlenstoff-Kopie seines genetischen Codes.

      Die Schwangerschaft ließ in Ann Randalls Gehirn eine ganze Reihe von Sicherungen durchbrennen: Sie wurde umgehend von apokalyptischen Panikanfällen sowie unkontrollierbaren Zwängen heimgesucht. Beispielsweise verwandte sie die Hälfte des Jahresbudgets der Bibliothek für die Anschaffung einer extravaganten Sammlung antiker Texte: Bibeln in Armenisch, Hebräisch und Griechisch, ein Faksimile der Schriftrollen vom Toten Meer, das Gilgamesch-Epos, das altbabylonische Enuma Elisch und das ägyptische Totenbuch. Sie ging nun auch nicht mehr nach Hause, sondern verbrachte die Nächte im Keller des Rathauses mit dem Lernen der toten Sprachen Mesopotamiens und ernährte sich von Ramen-Nudeln.

      Nach einigen Monaten wollte sie in völliger Erschöpfung ihren Tagen ein Ende setzen und schluckte ein ganzes Pillenglas Aspirin, ein Unterfangen, das ihr akute Leberbeschwerden bescherte. Im Krankenhaus wurden nacheinander die Vergiftung der Leber, die psychotischen Anfälle und der Fötus entdeckt. Drei Diagnosen zum Preis von einer.

      Sie wurde zum Gynäkologen geschickt, der sie an einen Sozialarbeiter verwies, der sie zum Psychologen brachte, der sie wiederum an den Psychiater weiterleitete, von dem aus sie mit einem Rezept nach Hause ging, das sich gewaschen hatte: 250 mg Clozapin jeden Morgen in Orangensaft gelöst – und eine Tablette Doxylamin gegen die Übelkeit.

      Die Psychosen hörten auf, und Ann arbeitete wieder in der Bibliothek. Alles schien unter Kontrolle. Sie schwebte in einem euphorischen Zustand, legte im Beckenbereich ordentlich zu, sortierte Bücher, stempelte Karten. Durch eben diesen medikamentösen Vorhang erblickte Hope drei Wochen vor dem errechneten Termin das Licht der Welt (Genauigkeit war eine Tugend, die bei den Randalls ganz offensichtlich ausstarb). Der eilig hinzugezogene Großvater Henry kam ins Säuglingsheim gerauscht. Er blieb gerade lange genug, um einen Blick auf das Baby zu werfen und zu erklären, dass sie Mary Hope Juliet heißen solle.

      So landete Mary Hope Juliet in ihrem Kuckucksnest.

      Das kleine Mädchen Hope mit ihrem aufmerksamen Blick und dem eigenständigen Wesen weinte selten und verweigerte sehr früh die Brust. Sie besaß nicht die zerbrechliche Schönheit ihrer Mutter, aber es ging von ihrer Erscheinung und ihren Gesten eine nicht zu leugnende Anmut aus. Sie hatte glattes, unfrisierbares Haar, und die Sommersprossen, die im Jahrhundertsommer des Jahres 1977 in ihrem Gesicht auftauchten, vollendeten das Bild eines Findelkindes aus dem hintersten Winkel des amazonischen Regenwalds.

      Die Jahre vergingen. Ann sortierte Bücher und hielt sich an die vorgeschriebene Dosierung. Hope besuchte die Grundschule auf der anderen Straßenseite. Sie hatten wenig Freunde, besuchten selten die Familie. Die Randalls trafen sich alle paar Monate auf dem Friedhof, wenn wieder einmal eine Tante oder ein Cousin der persönlichen Apokalypse anheimgefallen war. Und aus diesen Familienzusammenkünften am Grab bestand zu einem wesentlichen Teil ihr gesellschaftliches Leben. Sie führten im Großen und Ganzen ein Leben ohne Überraschungen.

      An dem Tag allerdings, als Ann in der Bibliothek kündigte – nicht ohne die Bibelsammlung mitzunehmen, deren Abwesenheit im Übrigen niemand bemerkte –, geriet dieses Leben ins Wanken. Sie verdingte sich daraufhin als Kassiererin bei Sobeys und begann, beachtliche Mengen an Lebensmitteln zu horten – genug, um damit über mehrere Monate eine von der Außenwelt abgeschnittene Großfamilie zu versorgen.

      Diese ernährungsphysiologische Auffälligkeit beruhte auf einer beunruhigenden Logik: Ann weigerte sich, Gemüse und frisches Obst zu kaufen – also Essware, die zu raschem Verfall verurteilt war. Ihre Nahrungsauswahl fand in Kubikmetern statt und richtete sich nach Proteingehalt und Nährwert. Aber vor allem nichts Verderbliches. Sie brachte von Sobeys unmäßige Ladungen mit nach Hause: fünf Pfund Reis, zehn Pfund Kartoffeln, vier Dosen rote Bohnen, vier Dosen geschmorte Tomaten, zwanzig Dosen Thunfisch in Olivenöl, zwanzig Dosen Birnen, zwanzig Dosen Pfirsiche, zwanzig Dosen Erbsen – und Ramen, Hunderte von Nudelpäckchen, die sie in jedem freien Winkel verstaute.

      Wenn ihre Tochter sie über den Zweck dieser Vorräte befragte, antwortete Ann Randall mit geheimnisvoller Miene:

      »Tauschware, wenn die Chinesen kommen.«

      Die gerade achteinhalbjährige Hope fand den Humor ihrer Mutter bereits damals suspekt.

      Nachdem es einige Jahre stillgehalten hatte, nahm sich das Sozialamt die Akte Ann Randall wieder vor. Ein Routinebesuch hatte in der Tat Anlass zu der Annahme gegeben, dass in dieser Familie tatsächlich nicht alles rund lief. Nicht nur, dass die Erziehungsberechtigte eine psychiatrische Vorgeschichte hatte, sie sammelte auch noch Tausende Päckchen Ramen-Nudeln und stapelweise Sardinendosen. Das war verdächtig.

      Glücklicherweise war Hope immer auf der Hut. Jedes Mal, wenn sich ein Sozialarbeiter ankündigte, wischte sie den Boden, goss einen Liter Chlorreiniger in die Toilette, füllte einen hübschen Weidenkorb mit Äpfeln und Orangen. Wenn man sie in sorgfältig hergerichteter Umgebung antraf, konnte Ann Randall fast normal wirken.

      Dieser Zirkus wiederholte sich alle sechs Monate, und Hope lernte mit der Zeit immer besser, nach außen die Illusion von Normalität zu erzeugen. Sie hatte schnell verstanden, dass bestimmte Details Verdacht erregten – vor allem eine Wohnung ohne Fernseher. Ein Fernseher war weitaus mehr als ein einfaches Haushaltsgerät, er bewies ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Hope durchstöberte also die Abfälle und stieß auf einen alten Schwarzweißfernseher der Marke Zenith. Der untere Teil des Bildschirms wollte zwar kein Bild mehr zeigen, aber solange man ihn nicht anstellte, erfüllte er seinen Zweck aufs Beste.

      Sobald der Fernseher seinen Platz im Esszimmer eingenommen hatte, änderte sich die Haltung der Sozialarbeiter. Sie nahmen diese positive Entwicklung zur Kenntnis, und ihre Besuche erfolgten in immer größeren Abständen. Zwischen den Inspektionen musste der Fernseher allerdings verschwinden: Ann Randall verabscheute diesen Apparat, der Netzhautkrebs auslöste und einem das Gehirn zumüllte.

      Das Fernsehgerät markierte einen Wendepunkt in Hopes Leben. Bisher war die Bibelsammlung ihrer Mutter ihre einzige Informationsquelle gewesen. Hope hatte einmal die King-James-Bibel gelesen – von der ersten bis zur letzten Seite –, und das hatte


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