Faust & Helena. Claudia Schmölders
eine Universitätsstadt wie z. B. Bonn zurückzuziehen, mich dort mit Gelehrten zu umgeben u. mich ganz und gar den Wissenschaften zu widmen, ist jetzt schon seit Jahren in blutigem Kampf mit meinen zwei anderen Leidenschaften, dem Geiz und der Habsucht …«
Zwei Jahre später hatte er genügend Neu- wie auch Altgriechisch gelernt, um eine erste große Reise nach Athen anzutreten; aber die Geschäfte, vielleicht auch die Reichtumsgier eines Schatzgräbers und überhaupt Geltungssucht fesselten ihn und seine Ursehnsucht noch zwölf Jahre, bevor er in der Türkei nach Homer zu suchen und zu graben begann.
Heinrich Schliemann, geboren 1822 in Neubukow, Mecklenburg, aufgewachsen in Ankershagen, jammervoll gestorben auf einer Straße in Neapel, war ein kultureller Oligarch, wie ihn die Welt oder mindestens die deutsche bis dahin noch nicht gesehen hatte. In einen ärmlichen Pfarrhaushalt verschlagen, mit einem offenbar brutalen, aber kenntnisreichen Vater gestraft, verlor er früh die Mutter und musste schon mit vierzehn als Handlungsgehilfe arbeiten. Aber er war der Arbeit physisch nicht gewachsen. Nach Missgeschicken auf See kam er mit zwanzig in Amsterdam in einem Handelskontor unter; hier lernte er zwar Handel treiben, fühlte sich aber unterfordert und lernte Sprachen gleich schockweise: erst Englisch, Französisch, Holländisch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch, später Russisch. Offenbar war niemand in seiner Umgebung darüber erstaunt. 1846 ging er nach Petersburg und baute ein Imperium auf; schon 1854 galt er dort als Börsenmagnat, und das erst recht, als ihm der Krimkrieg 1854–1856 das Vermögen noch einmal verdoppelte; er hatte rechtzeitig Waren für das Militär eingekauft. Aber nun machten Geschäfte ihm keine Freude mehr; er fürchtete beständig Verluste und träumte nur noch von Bildungsreichtum. Inzwischen hatte er Reisen quer durch Europa und bis nach Amerika absolviert, Schwedisch und Polnisch gelernt, bis er in Petersburg auf Theodorus Vimbos traf, den Mann seiner Träume. Mit ihm entwickelte er eine eigene Methode, lernte erst Neu-, dann Altgriechisch und verständigte sich wenn nötig mit einer Mischung aus beidem. Es vergingen aber noch weitere zehn Jahre mit Geldverdienen, Reisen und Sprachenlernen in Asien und im Orient, ehe er sich 1866 in Paris niederließ, um ein Studium aufzunehmen. Alle möglichen Fächer wurden erwogen, aber die Antike reizte ihn dann offenbar doch am meisten. 1868 kam er zum ersten Mal über Italien zur Peloponnes und in die Türkei nach Hissarlik, wo nach Meinung einiger Fachleute und gebildeter Dilettanten Troja, die berühmteste Stadt aus Homers »Ilias« liegen musste. Mit dem Bericht über diese Reise promovierte Schliemann 1869 an der Universität Rostock; im selben Jahr heiratete er die blutjunge Griechin Sophia Engastromenou, eine Nichte seines Griechischlehrers. Zwei Jahre später hatte er sich endlich mit den türkischen Behörden geeinigt und stürzte sich auf die Ausgrabung Trojas im damals türkischen Gebiet. Er glaubte an die Wörtlichkeit der homerischen Epen wie ein Pietist an das Evangelium; Odyssee und Ilias waren für ihn nicht Gedichte, sondern Landeskunden, wenn auch rühmend und spannend vorgetragen. Seine amtlichen Grabungen begann Schliemann im Oktober 1871, neun Monate nach dem Sieg von Versailles und der Krönung von Wilhelm I. zum deutschen Kaiser, wofür er sich offenbar nicht interessierte. Im Lauf der kommenden zehn Jahre machte er weltweit beachtete, aufsehenerregende Funde, wenn auch die Fachwelt, besonders die deutsche, ihm immer wieder misstraute, nicht selten zu Recht. Aber er fand tatsächlich Stadtreste, die er Troja nannte, und er fand einen spektakulären Goldschatz, den er dem mythischen Trojanerkönig Priamos zuschrieb. Auch seine späteren Grabungen im griechischen Mykene machten Schliemann reich, als ob er das noch nötig gehabt hätte; in fünf sogenannten »Schachtgräbern« fand er wiederum lauter Schätze, am berühmtesten darunter eine goldene Gesichtsmaske: für Schliemann war es frei nach Homer die Maske von Agamemnon, dem Herrscher von Mykene und Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg – also eben im Krieg um die legendäre Helena, Königin von Sparta und Frau des Menelaos, dessen Bruder Agamemnon war. Helena war mithin seine Schwägerin.
Mit den Funden Schliemanns kam die ganze verwickelte griechische Mythologie ins Bewusstsein der europäischen, vor allem aber der deutschen Gesellschaft wieder zurück. Helena also: Atemberaubend schön, war sie nach der bekanntesten griechischen Sage das Opfer eines himmlischen Wettstreits, bei dem Göttinnen unrühmlich mitspielten, aber die Menschen nicht minder. Ein Königssohn namens Paris entführte die Frau des Menelaos angeblich nach Ilios oder Troja, in die heutige Türkei, vielleicht verschwand sie aber auch nach Ägypten, unter dem Schutz des Zeus, und ein Trugbild kam nach Troja, jedenfalls rüstete der Schwager Agamemnon die griechische Flotte zur Rückholung der Beute. Es wurde ein zehnjähriger Krieg mit grausamen Opfern; das Meiste darüber ist aus der Ilias des Homer bekannt.
Nun aber, im Jahr der realgeschichtlichen Ausgrabung von Troja, gerät Helena gleichsam leibhaft unter die Augen von Heinrich Schliemann. Aus tiefsten mythischen Nebeln taucht sie hier endlich auf, dieses ganz konkrete Objekt der Begierde eines wahrhaft faustischen deutschen Mannes, der auch noch wirklich Heinrich hieß. Schliemanns rastlose Karriere brachte die antike Traumfrau zum Greifen nahe, wie er glaubte, und zwar im Schatten ihrer Schmuckstücke. Die großen Funde von Troja und Mykene gehörten zwar nicht einer gemeinsamen Kulturepoche zu; denn Schliemann hatte ja eine rund zweitausend Jahre ältere Schicht, eine vormykenische Stadt Troja ergraben. Aber das stellte sich erst bei seinem Nachfolger Dörpfeld heraus. Erst einmal konnte der Ausgräber seinen Fund inszenieren. Der trojanische Schatz umfasste Tausende von Einzelteilen, darunter feinsten Schmuck, wie ihn Helena, falls es sie jemals gab, womöglich getragen hatte. Musste sich Schliemann nicht fühlen wie Goethes Faust auf dem Rücken des Chiron? Im eiligen Gespräch der beiden im zweiten Teil der Tragödie berichtet der heilkundige Kentaur ja, dass er Helena höchstpersönlich auf dem Rücken getragen und sie in seine Mähne gegriffen habe. Faust ist hingerissen, denn diese Mähne berührt ja nun auch er. Die Mähne als Fetisch: die Mähne als Analogie für den Schmuck. Ließ Helena sich mit einer Zeitmaschine von ferne berühren? Schliemann greift in die Verse Homers, der doch Helena wahrhaft näher stand als Goethe, und seine Mähne ist dieser Schatz. Später im Grabungsbericht wird alles sorgsam dokumentiert, wenn auch mit einigen Ungenauigkeiten, die von der Fachwelt alsbald registriert wurden. Natürlich inszenierte Schliemann alsbald eine Fotositzung, für den seine Frau Sophia das sogenannte »große Gehänge« einer Helena am trojanischen Hof anlegt, als »echte Griechin« und Nachkommin des homerischen Geschlechts – das alles mit geschickter Propaganda und weltweiter Wirkung aus einem erst vierzigjährigen jungen Griechenstaat heraus. Diese Helena/Sophia ist zwar nicht Frau eines südlichen Königs, wohl aber Gattin eines ostdeutschen Oligarchen, seinerseits geboren und aufgewachsen unweit von Stralsund, wo der Urvater der deutschen Hellasliebe, Johann Joachim Winckelmann, fast zwanzig Jahre gelebt hatte. Doch anders als der rastlose Schliemann hatte Winckelmann nie nach einer Helena gesucht, sondern war bis auf seltene Reisen in Italien sesshaft geblieben, meist in Rom, introvertiert und in mythisch schönen Männerkörpern befangen.
Bei aller deutschen Graekomanie – mit seinen pompös vermarkteten Grabungen ging Schliemann für die deutsche Fachwelt zunächst einmal wohl zu weit. Man tadelte und verlachte ihn und misstraute ihm. Der Berliner Papst der klassischen Philologen, Wilamowitz, soll in einer Satire Frau Schliemann gespielt haben, wie sie den Schatz in ein Tuch gewickelt von der Grabungsstätte getragen habe. Das Misstrauen der Philologen saß tief. Seit Gründung der Berliner Humboldt-Universität hatte man ja von oberster Stelle aus das Hellenentum in Gestalt der Gräzistik akademisch eingehegt und in diversen Instituten, wie etwa dem Deutschen Archäologischen Institut Athen, dann aber auch im humanistischen Gymnasium, glorifiziert und versäult. Hier kritisierte man an Schliemann noch lange den haut goût des Hochstaplers, des wütend ehrgeizigen Dilettanten und Aufsteigers. Der alte Schmidt in Fontanes »Frau Jenny Treibel« musste jedenfalls noch verteidigen, »dass jemand, der Tüten geklebt und Rosinen verkauft hat, den alten Priamus ausbuddelt«. Und wirklich: Fast rückhaltlose Bewunderung erhielt Schliemann zunächst einmal nur aus England; hier, im Londoner South Kensington Museum, durfte er seinen Fund 1877 ausstellen, bevor seine Frau und der Freund Rudolf Virchow ihn dazu brachten, den ganzen Schatz von mehr als achttausend Teilen 1881 dem Deutschen Reich zu schenken, durchaus zur Freude des Kaisers, der ja selber als Hobby-Archäologe tätig war. Pünktlich zu diesem Anlass erschien nun auch der voluminöse Bericht über das ganze Unternehmen, mit detailgenauen Zeichnungen, zahlreichen Fotos und Beiträgen namhafter Kollegen als Buch unter dem schlichten Titel »Ilios«, mit dem Untertitel »Stadt und Land der Trojaner. Forschungen und Entdeckungen in der Troas und besonders auf der Baustelle von Troja«.
Abbildung 14 in diesem