Die Farben meines Lebens. Arik Brauer
wurde nur von der Landbevölkerung gesprochen und verstanden.
Simche hatte soeben seine Bar Mizwa gefeiert. Er war hochmusikalisch, hatte eine helle Knabenstimme, sein Vortrag im Tempel hatte allgemeine Anerkennung gefunden, und es regnete Geschenke. Das Fest wurde traditionell gefeiert, Verwandte waren angereist, und die Klezmorim (Musiker) spielten auf, wie es sich gehört. Für Simche aber war das Wichtigste die Einladung bei seinen Großeltern. Der Kantor, den er über alles liebte, hatte immer ein kleines Liedel auf den Lippen und verstand es vorzüglich, Witze und kleine Geschichten zu erzählen. Die Großeltern wohnten in einer entfernten Kleinstadt, und die Anreise mit der Kutsche dauerte einen ganzen Tag. Nach einer Woche Liedeln, Mohnkreplach (mit Mohn gefüllte Teigtaschen) und Zimes wurde das Pferd wieder aufgezäumt und Abschied genommen. Es war ein kalter Novembertag, und der Morast auf den Straßen war festgefroren. Das Pferd fühlte sich unsicher, man kam nur langsam voran und bald nach Mittag begann es bereits zu dämmern. Der Kutscher – ein gutmütiger Litauer – sparte nicht mit saftigen russischen Flüchen und Peitschengeknall. Simche saß in eine Decke gehüllt im halboffenen Wagen und betrachtete verträumt die langsam vorbeiziehenden Wälder und Sümpfe. Ein gelbliches, trübes Licht hing zwischen den vernebelten Birkenkronen, und die dünne, harte Schneekruste, die den Boden bedeckte, zeigte zahlreiche Risse und Rinnen, Spuren des letzten Tauwetters. Gegen Abend hatte sich eine trübe Dunkelheit breit gemacht, und das Pferd bekam es langsam mit der Angst zu tun. Es wusste nichts von dem sich langsam vergrößernden Sprung in der Wagenachse, aber es fühlte, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. „Sollten wir nicht lieber einen nahen Stall aufsuchen?“, meinte das Tier. Der gutmütige Litauer verstand das Geschnaube genau und antwortete: „Mach weiter Pferd, hier gibt es keine Ställe.“ Simche schlief in seine Decke eingewickelt, als die Achse brach und er unsanft geweckt wurde. Das Pferd tanzte und ärgerte sich, dass es weder Russisch noch Jiddisch sprechen konnte, wollte es doch seiner Empörung und Angst Luft machen. Der Kutscher fluchte und kroch unter den halb umgekippten Wagen, wobei sich Tempo und Lautstärke seiner Verwünschungen noch steigerten. Schließlich spannte er das Pferd aus, bestieg es ohne Sattel, beauftragte Simche im Wagen zu warten und ritt davon. Simche saß im Wagen, er machte sich mit der Decke vom Kutschbock eine Art Zelt und hatte es verhältnismäßig warm. Bald schlief er wieder ein. Nach Mitternacht wurde es empfindlich kalt, er wachte auf und starrte in die zähe Finsternis. Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun. Wie spät ist es? Wann kommt der Kutscher? Wo bin ich? Muss ich jetzt erfrieren? Er begann zu beten: Schema Israel Adonai Eloheino. Er murmelte Psalmen, die er auswendig wusste. Die Zeit wurde endlos. Im Halbschlaf glaubte er, Leute sprechen zu hören, aber es war nur sein eigenes Gemurmel. Dann hörte er ganz deutlich Hundegebell, wachte auf und schälte sich aus der Decke. Irgendwo wurde gebellt, kein Zweifel, er hatte nicht geträumt, da waren wohl auch die Stimmen kein Traum gewesen – wo es Hunde gibt, da sind auch Menschen. Ein Haus vielleicht, ein Dorf. Er kletterte aus dem Wagen und lauschte in den Wald hinein. Jetzt war ein Heulen zu hören, ganz in der Nähe. Er begann dem Geräusch nach in den Wald zu stolpern. Kaum hundert Meter hatte er sich von Baum zu Baum vorangetastet, als sich eine Lichtung vor ihm auftat. Der Nebel hatte sich gehoben, und zwischen schweren Wolkenfetzen schickte der Mond einen fahlen Schein auf einen kleinen zugefrorenen Teich. Die ganze Lichtung war von dichtem Gestrüpp umstanden, das wie ein Zaun den Teich umrandete. Simche trat einige Schritte auf die feste Eisdecke vor. Das Heulen war verstummt und passend zum fahlen Mondlicht erfüllte eine lähmende Stille die Lichtung. Simche wartete ziemlich lange, aber alles blieb ruhig. Er wollte schon weitergehen, als sich etwas Dunkles langsam aus dem Dickicht herausbewegte. Der Knabe hatte einen riesigen Hund vor sich, der sich schwarz von der hellen Eisdecke abhob. Das Tier blieb in der Mitte des Teiches stehen und starrte unverwandt auf den jungen Menschen. Wieder vergingen Minuten, die Simche endlos erschienen. Dann begann sich das Dickicht zu bewegen und an die zwanzig graue Wesen traten ins Mondlicht. Da begriff Simche, dass er ein Rudel Wölfe vor sich hatte. Er stand wie gelähmt da und sah in die glänzenden Augen des regungslos vor ihm verharrenden Leitwolfes. Was in seinem Kopf abrollte, war nicht sein vergangenes Leben, sondern sein zukünftiges. Er hörte den Wolf sprechen: „Hier bin ich, aber du hast noch fünfzig Jahre, dann komm ich wieder.“ Der Wolf hechelte bloß, aber im Kopf des Knaben wandelte sich das Geräusch in Worte, die ihm für einen kurzen Moment jenes weltumspannende Netz sichtbar machten, jenen Zusammenhang von allem mit allem, in dem der unabänderliche Ablauf von Ursache und Wirkung die Zukunft entscheidet. Kurz darauf drehte sich der Wolf um und verschwand im Gebüsch, so als wüsste er, dass seine Aufgabe vorläufig erfüllt war. Sogleich verschwand das gesamte Rudel. Simche taumelte benommen zurück durch den Wald. Als er bei der Kutsche war, begann es im Osten bereits zu dämmern und der gutmütige Litauer war damit beschäftigt, die mitgebrachte neue Wagenachse zu montieren. Sie erreichten Vilna am späten Nachmittag.
Simche benützte seine geborgten fünfzig Jahre auf seine Weise. Er wandte sich vom Talmud ab, wurde nachdenklicher Marxist und erlernte das Schusterhandwerk. Eine Religion oder fixe Ideologie, die man als Kind eingraviert bekommt, ist sehr schwer abzuschütteln. Die jüdische Religion ist nur zu ertragen, wenn man ihre Grundlage, nämlich das Alte Testament, als absolute und unhinterfragbare – vom Schöpfer selbst – verkündete Wahrheit akzeptiert. Für ein Kind stellt dies kein Problem dar, ein Erwachsener hingegen muss viele zunächst eindeutig scheinende Fakten als falsch abkanzeln. Ein ideologischer Eiertanz, der umso komplizierter wird, je mehr Tatsachen einem bekannt sind. Simche lernte in seiner Jugendzeit offensichtlich zu viele solcher Fakten, die in krassem Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte stehen, zum Beispiel die Erschaffung der Pflanzen am Dienstag und die Erschaffung der Sonne am Mittwoch. Das Weltbild seiner Kindheit, das ja auch von seiner ganzen Umgebung mitgetragen wurde, brach für ihn zusammen. Was weiß eine Ameise, die über ein Buch klettert, vom Inhalt und Sinn des Geschriebenen? Nichts. Selbst eine noch so begabte Ameise – ein Ameiseneinstein – kann nur erkennen, wofür ihre Antennen gebaut sind, was für den Fortbestand ihrer Art von Relevanz ist. So eine Ameise ist der Mensch vor dem Ursprung und der Ursache von allem. Weil wir aber auch neugierige Affen sind, füllen wir dieses totale Nichtverstehen mit Phantasiegebilden, die sich auf erstaunlich naive Weise an menschlichen Lebensbedingungen orientieren.
Als der Russisch-Japanische Krieg ausbrach und das Väterchen Zar mit eisernen Krallen nach allem fasste, was sich im Krieg verheizen ließ, floh Simche nach Wien. Er fand dort Arbeit und lebte als Junggeselle im Arbeiterheim. Eine Zeit lang wohnte dort auch „a verkrampfter Oberchochem“, der wenige Jahre später als der „Führer“ Adolf Hitler die Welt ins Unglück stürzen sollte.
Brauers fünfzig Jahre waren keine sehr günstigen: Erster Weltkrieg, Nachkriegselend, Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Trotzdem gelang es ihm, eine Familie zu gründen und dieselbe bescheiden, aber gut über die Runden zu bringen. Gewohnt wurde in einer Zinskaserne am Ludo-Hartmann-Platz 4. Zimmer, Küche, Wasser und Toilette am Gang. 1927 kam ein Mädchen zur Welt, das nach dem russischen Fluss Lena benannt wurde, 1929 ein Knabe: Erich Brauer.
Simche arbeitete alleine in seiner kleinen Werkstätte. Er machte orthopädische Schuhe. Von einem Achtstundentag konnte keine Rede sein. Wenn er abends nach Hause kam, waren die Kinder bereits im Bett, dann trank er zusammen mit seiner Frau eine Tasse Tee in der Küche und es wurde im Flüsterton geplaudert. Die Schule des Knaben lag nahe der Werkstätte, und der Bub verbrachte dort drei Nachmittage pro Woche. Es blieben ein Nachmittag für die Religionsstunde, die der „Sozialistenspross“ aus unerklärlichen Gründen besuchen musste, und zwei für den Park. In der „Schil“ war das Kind ein Jude unter Juden, im Park ein Goi (eigentlich Stamm, für Nichtjuden gebrauchter Ausdruck) unter Goim. Der Bub wuchs in einem friedlichen Elternhaus auf, mit Schrebergarten-Besuchen und Wienerwald-Ausflügen. Trotzdem rannte er – wann immer er konnte – in den Park, wo grausame Sitten herrschten. Simche, der sehr gut Deutsch sprach und schrieb, verehrte die deutsche Literatur über alles. Die im Deutschen allgemein bekannten hebräischen Worte wie Tachles, Masel, Tinnef etc. verwendete er selten, häufig aber jene charakteristischen, aus dem Mittelhochdeutschen stammenden jiddischen Wendungen wie „sei sennen“ („sie sind“) oder „daffen“ („bedürfen“ in der Bedeutung von „sollen“). Als sein Sohn zu fragen begann, wieso Papa anders spreche als die Mutter, wurde ihm verschämt mitgeteilt: „Papa hat einen russischen Akzent.“ In der Werkstätte jedoch