Das Orchester, das niemals schläft. Christoph Wagner-Trenkwitz

Das Orchester, das niemals schläft - Christoph Wagner-Trenkwitz


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kapitalen Planungsfehler im Opernhaus weist Hellsberg hin: »Foyer und Garderoben für das Orchester waren vergessen worden«!

      Doch gab es bereits im Vorfeld auch positive Entwicklungen: Im Herbst 1868 wurde angesichts der ungleich größeren Dimensionen des neuen Hauses und der erweiterten Ansprüche der modernen Opernliteratur eine Orchestervergrößerung bewilligt. Erstmals überschritt der Klangkörper die Grenze von 100 Musikern, 55 neue Streichinstrumente wurden angeschafft, das Streicherensemble wesentlich vergrößert. Zum ersten – aber beileibe nicht zum letzten Mal – sahen sich die Philharmoniker dem Problem gegenüber, dass zahlreiche neue Opernorchester-Mitglieder auch an die Töpfe des Konzertorchesters drängten, also den vollkommen gerechtfertigten Wunsch nach Beteiligung an den »freien« Einnahmen äußerten.

      Nach wie vor fanden die »Philharmonischen« im alten Kärntnertor-Theater statt. Das Ersuchen des Orchesters an die Generalintendanz, das neue, am 25. Mai 1869 eröffnete Opernhaus für die Abhaltung der »Philharmonischen« zur Verfügung zu stellen, wurde abschlägig beschieden, da dieses Gebäude »grundsätzlich zu keiner […] Privatinteressen fördernden Vorstellung vergeben werden darf«. Dingelstedt engagierte mit Johann Herbeck einen neuen Kapellmeister und zwang das Orchester, vorübergehend mit sich selbst in Konkurrenz zu treten. Herbeck, seit 1859 Leiter der Gesellschaftskonzerte des Musikvereins, hatte die 1860 wiederbelebten Philharmoniker-Konzerte schon lange als Konkurrenz angesehen; nun leitete er ab Anfang November 1869 Konzerte im Opernhaus zugunsten des Hoftheaterpensionsfonds.

      Eine Woche später dirigierte Otto Dessoff im Kärntnertor-Theater ein »Philharmonisches«, das sich zum Triumph auswuchs: »Das zahlreiche, alle Räume des Kärntnerthor-Theaters füllende Auditorium und der nach jeder Nummer laut ausbrechende Beifall sollten zweifelnde Gemüter darüber beruhigt haben, ob die Beliebtheit der Philharmonie-Konzerte durch andere, neue Konzert-Unternehmungen gefährdet sei«, meldete die Neue Freie Presse.

      Als das Kärntnertor-Theater zum Abriss freigegeben wurde, schien sich die Situation wieder zuzuspitzen: Am 17. April 1870 fand mit Rossinis Wilhelm Tell die letzte Aufführung im alten Opernhaus statt, im Juni mussten die Orchestermitglieder binnen 14 Tagen ihre Instrumente abholen. Wohin mit den traditionsreichen, vom Wiener Publikum über die Maßen geschätzten Konzerten, denen das neue Opernhaus verschlossen blieb?

      Die Antwort auf diese Frage führt uns in einen neuen Abschnitt der philharmonischen Geschichte.

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      Die »Goldene Ära« …

       … begann im Goldenen Saal (1870–1897)

      Der Beginn des »Goldenen Zeitalters« wird für unser Orchester üblicherweise mit dem Jahr 1875, dem Amtsantritt Hans Richters als Abonnementdirigent, angesetzt. Obwohl Hellsberg diesen Standpunkt teilt, stellt er die rhetorische Frage: »Hat dieses Orchester überhaupt existiert, bevor es das Musikvereinsgebäude gab?«, um zu konstatieren, dass »die Weltgeltung der Philharmoniker in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann«. Der ideale Saal sorgte nämlich für »die volle Entfaltung ihres Klangpotentials« und prägte das philharmonische Musizieren nachhaltig. Die reiche Innenraumgestaltung ermöglicht die etwa zwei Sekunden dauernde Nachhallzeit und begünstigt den an tiefen Frequenzen reichen »warmen« Klang. Auch die ökonomische Stabilisierung des Unternehmens ist erwähnenswert: Innerhalb weniger Jahre, vom letzten Konzert im Kärntnertor-Theater 1870 bis zur Saison 1874/75, verdoppelten sich die Einnahmen, was uns wohl zusätzlich berechtigt, den Beginn der Goldenen Ära mit dem Einzug in den Goldenen Saal 1870 anzusetzen. Hier haben die Philharmoniker bis zum heutigen Tage – und hoffentlich auch in aller Zukunft – ihre Heimstatt gefunden.

      Bereits im Herbst 1869 übersiedelte das Konservatorium in die Räumlichkeiten des neuen Baus am Karlsplatz, im Jänner öffneten die Konzertsäle. Die Idee der Gesellschaft der Musikfreunde war es zunächst, das Gesellschaftsorchester mit den Philharmonikern zu fusionieren, doch auch dieser Auflösungsplan wurde nicht in die Tat umgesetzt. Unser Orchester ließ sich nur zu dem Zugeständnis bewegen, Musiker zu den Gesellschaftskonzerten zu entsenden. Am Sonntag, dem 13. November 1870 war es dann so weit: das »1. Abonnement-Concert, veranstaltet von den Mitgliedern des k. k. Hof-Opern-Orchesters« (sie nannten sich noch immer nicht »Philharmoniker«!) fand im »Grossen Saale« statt, Werke von Weber, Beethoven und Schumann standen auf dem Programm.

      Abonnementdirigent Otto Dessoff, der hauptberuflich weiterhin Dienst am Opernhaus versah, ermöglichte zu Beginn der 1870er-Jahre auch Gastspiele internationaler Dirigenten bei den »Philharmonischen«, unter anderen Hans von Bülows und Richard Wagners. Am 29. Dezember 1872 leitete Dessoff sein 100. Abonnementkonzert, und wenige Tage zuvor hatte Kaiser Franz Joseph ein »Pensions-Institut des k. k. Hofoperntheaters« genehmigt. Am 22. April 1873 fand der erste Opernball statt – allerdings nicht im Haus am Ring, sondern im Wiener Musikverein. Johann Strauß Sohn leitete zu diesem Anlass – natürlich mit der Geige in der Hand – die Uraufführung seines Walzers Wiener Blut. Schon wenige Monate später, im November 1873, dirigierte Strauß bei einem Musikvereins-Festkonzert im Rahmen der Weltausstellung An der schönen blauen Donau. Wer heute den Donauwalzer als Zugabe beim Neujahrskonzert genießt, möge daran denken, dass der Komponist selbst eine der frühen Wiedergaben dieser »heimlichen Hymne« Österreichs mit den Philharmonikern geleitet hat. Ermöglicht wurde dieses Konzert übrigens durch eine großzügige Spende der chinesischen Weltausstellungskommission – ein Jahrhundert sollte vergehen, bis die Philharmoniker China bereisten!

      Am 26. Oktober 1873 leitete Anton Bruckner zum ersten und letzten Mal ein Konzert unseres Orchesters, und zwar mit der Uraufführung seiner 2. Symphonie. Fürst Johann II. von und zu Liechtenstein hatte die Mittel für ein Sonderkonzert zur Verfügung gestellt. Arthur Nikisch, vorübergehend Primgeiger des Hofopernorchesters, erinnerte sich, »wie Bruckner ans Pult trat und zu uns sagte: ›Alsdann, meine Herren, wir können probieren, so lang wir wollen, i’ hab an, der’s zahlt.« Bruckner, aufs Höchste begeistert vom Erfolg (nach jedem Symphonie-Satz applaudierte das Publikum stürmisch, was damals noch »erlaubt« war!), fragte bei der Musikervereinigung schriftlich an: »Darf ich das Werk Ihnen dedizieren?« Es gehört zu den dunklen Punkten in der Geschichte unseres Orchesters, dass sie den Komponisten, dessen Hochachtung keineswegs erwidert wurde, zwei Jahre keiner Antwort würdigten …

      Parallel zu den philharmonischen Höhepunkten – so traten Franz Liszt und Johannes Brahms mit dem Orchester auf – ereigneten sich auch an der Oper historische Vorstellungen. Am 29. April 1874 wurde Giuseppe Verdis Aida erstmals aufgeführt. Bei einer Probe entlud sich die Spannung zwischen dem Dirigenten Dessoff und seinem Direktor Herbeck, der rief: »Die dritte Flöte fehlt, hören Sie das nicht, Herr Kapellmeister?« Darauf Dessoff: »Die dritte Flöte fehlt, sehen Sie das nicht, Herr Direktor?«

      Weil er seine Operngage als ungenügend betrachtete, verließ Dessoff Wien 1875 nach 15 Jahren mit einer Serie von triumphalen Philharmonischen Konzerten, und auch sein Widersacher Herbeck trat, »moralisch und körperlich halb zugrunde gerichtet«, ab.

      Innerhalb weniger Wochen konzertierte unser Orchester im Frühjahr 1875 unter der Leitung der beiden überragenden Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. Nachdem Wagner drei umjubelte Konzerte gegeben hatte, erschien Giuseppe Verdi, um im Juni seine Messa da Requiem sowie Aida einzustudieren und zu leiten. Der Italiener dirigierte zwar kein »Philharmonisches«, hinterließ beim Besuch des Konservatoriums im Musikverein aber ein doppeltes, dauerhaftes Kompliment: »Bei einer solchen Schule wird Wien noch lange das erste Orchester der Welt haben.« Hellsberg resümiert die Visiten Wagners und Verdis, aber auch die Gastauftritte unter anderen von Brahms (von dem noch die Rede sein wird) und Bruckner so: »Die bestandenen Bewährungsproben als Partner großer Komponisten weckten jenes Traditionsbewußtsein, das dem Selbstverständnis der Wiener Philharmoniker eine neue Dimension verlieh.«

      Ein


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