Wut – Das Tor zu deiner Kraft. Stefanie Carla Schäfer
hoch. Zum einen, weil alles, was nicht auf gesunde Weise geäußert wird, im Inneren gärt und dort auf Dauer großen Schaden anrichten kann. Zum anderen, weil Menschen, die sich ihre Wut nicht eingestehen, oft in ihren Grenzen verletzt werden und sich in ihren Beziehungen unnötig klein halten lassen, gemäß dem Motto: »Mit ihr/ihm kann man es ja machen!«
Die Entdeckung der eigenen Wut und ein gesunder und achtsamer Umgang damit hat dagegen viele positive Effekte – und kann sogar zu einer zutiefst heilsamen und transformierenden Erfahrung werden! Ich möchte Sie mit diesem Buch einladen, in dem Gefühl der Wut einen Freund kennenzulernen, jemanden, der stets auf Ihrer Seite ist. Eine kraftvolle Energie, die Ihnen geschenkt wurde, um für sich einzustehen, sich zu behaupten und wenn nötig zu verteidigen. Je besser Sie diesen Freund kennen und zu schätzen wissen, desto mehr werden Sie in ihm das Tor zu Ihrer Kraft entdecken. Und in der eigenen Kraft zu sein ist ein großartiges Gefühl.
Keine Sorge, das bedeutet nicht, dass Sie sich fortan rücksichtslos verhalten oder gar anderen Menschen wehtun müssen. Vermutlich liegt Ihnen ein positives und menschliches Miteinander genauso am Herzen wie mir. Es geht vielmehr darum, dass Sie sich erlauben, etwas zu empfinden, das Sie vielleicht lange verneint haben, und mit dieser neuen Energie umzugehen lernen. So als ob Sie auf einmal ein neues, schnelleres Auto führen.
Möglicherweise werden sich Ihre Beziehungen verändern, wenn Sie auf gesunde Art und Weise mit Ihrer Wut und Kraft verbunden sind, anstatt sie zu unterdrücken. Diese Veränderung wird positiver Natur sein und Sie mit einem Gefühl von Respekt, Selbstwert und Lebendigkeit belohnen.
Die Wissenschaft hat festgestellt, dass auch Symptome von Depression und Ängsten nachweislich zurückgehen, sobald ein Mensch seine oftmals lange unterdrückte Wut entdeckt und lernt, damit auf gesunde Weise umzugehen. Die Integration dieser Kraft wird also auf allen Ebenen maßgeblich zu Ihrer Gesundheit beitragen.
Doch wie kann der Weg dahin gelingen? Wie ist es möglich, das positive Potenzial der Wut zu entdecken, wenn Sie möglicherweise früher negative Erfahrungen damit gemacht haben, sie zu äußern, oder sich meilenweit davon entfernt fühlen, überhaupt einen Wut-Impuls in Ihrem Inneren zu spüren?
Eine große Rolle dabei spielt Ihr Körper, so viel sei schon mal verraten. Denn wir leben heute in einer sehr kopf- und verstandesorientierten Zeit, in der leider viele von uns verlernt haben, ihren Körper und ihre Emotionen wahrzunehmen und zu spüren. Indem es gelingt, uns wieder mit der Weisheit unseres Körpers zu verbinden und seinen Impulsen zu folgen, anstatt sie »wegzudenken«, regulieren wir uns selbst auf gesunde Weise und kommen wieder in unsere natürliche Kraft.
Auch Spiritualität ist eine wunderbare Kraftquelle, die unserem Leben einen höheren Sinn gibt. Allerdings sollte sie nicht dazu benutzt werden, unsere »dunkle Seite« – dazu zähle ich ungeliebte Gefühle wie Wut, Schmerz und Scham – wegzudrängen.
Ich nenne dieses Phänomen gerne die »Licht-und-Liebe-Falle« – alles menschlich Schwierige wird im Lichte falsch verstandener Spiritualität schöngeredet, dadurch aber nur ins Unbewusste verschoben, wo es weiter schwelt und auf Dauer Schaden anrichten kann. Besser ist es, unser spirituelles Bewusstsein dazu zu nutzen, Licht in die dunklen Ecken unserer Psyche zu bringen und unsere Schatten wirklich anzuschauen, als authentischen Teil von uns anzunehmen und zu integrieren. Denn interessanterweise wandelt sich dann oft der abgelehnte Aspekt in einen großen Schatz, der unserem persönlichen Wachstum dient. Dann wird zum Beispiel Wut zum Tor zu unserer Kraft.
In diesem Ratgeber möchte ich Sie ermuntern, sich dem Gefühl der Wut bewusst auf eine neue, achtsame Weise anzunähern und das große Heilungsund Kraftpotenzial zu entdecken, das hier verborgen liegt. Es ist eine Reise, die sich lohnt und die sogar richtig Spaß machen kann. Eines ist sicher: Wut ist nur dann gefährlich, wenn sie im Verborgenen schwelt und unachtsam ausagiert wird; in die richtigen Bahnen gelenkt jedoch, sorgt sie für neue Lebendigkeit und oftmals für positive Veränderungen.
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Wut – ein gesundes Gefühl
Das Feuer in uns
Wir sind umgeben von den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Jedes davon verkörpert eine bestimmte Qualität, die wir zum Leben brauchen. Wir brauchen Wasser zum Trinken, Luft zum Atmen, die Erde, auf der wir leben und die uns nährt – und wir brauchen Feuer, um uns zu wärmen.
Niemand käme auf die Idee zu behaupten, ein Element sei schlechter als das andere, denn wir brauchen jedes einzelne, um im Gleichgewicht zu sein. In der indischen Lehre des Ayurveda gibt es sogenannte Konstitutionstypen, die in jeweils unterschiedlicher Ausprägung die Elemente verkörpern. Jeder dieser Typen braucht zum persönlichen und energetischen Ausgleich auch die ihm von der Konstitution her fehlenden Teile. Übertragen wir unsere Emotionen auf die Elemente, steht die Wut für das Element Feuer.
Meiner Beobachtung nach müssten viele von uns ihr gesundes, inneres Feuer (neu) entdecken und entfachen. An diese Menschen richtet sich dieses Buch. Ein Feuer wärmt und ist lebendig, und wenn es in uns selbst brennt, bedeutet dies nicht einfach Wut, sondern kraftvolle Lebensenergie.
Idealerweise können wir unser Feuer selbst regulieren, bei Bedarf die Flamme hochdrehen oder auch runter. Wir wissen, dass wir diese kraftvolle Energie in uns haben, die uns mit unserer Kraft verbindet. Brennt das innere Feuer nur auf Sparflamme oder ist es bereits erloschen, ist ein Mensch kaum spürbar. Brennt es dagegen lichterloh und raumgreifend, kann es großen Schaden verursachen. Wir brauchen also ein Bewusstsein, eine Verbindung und einen gesunden Umgang mit diesem Feuer, das sich auf alle Ebenen unseres Seins bezieht:
Warum wir Wut verlernt haben
Es gibt verschiedene Gründe, warum jemand scheinbar keine Verbindung zu seiner Wut hat, auch wenn diese angebracht wäre. Damit meine ich nicht wahrhaft zufriedene Zeitgenossen, die einfach mit sich und der Welt im Einklang sind und bei denen es keinen Anlass zur Wut gibt. Wenn diese Menschen in ihren Grenzen verletzt werden, können sie nämlich meist auf gesunde Weise für einen Ausgleich der Situation sorgen, bei Bedarf also ihre Kraft hervorholen. Ich meine eher die lieben Seelen, die Konflikte lieber vermeiden und dazu neigen, Probleme in sich hineinzufressen, statt vielleicht den Schritt in die gesunde Aggression zu wagen. Dahinter steht immer eine Geschichte, deren Muster es sich bewusst zu machen gilt.
Wie schon eingangs erwähnt, werden die wenigsten Menschen in ihrer Erziehung darin unterstützt, dass Wut einfach ein gesundes Gefühl ist wie jedes andere auch. Weil Kinder am Vorbild ihrer Eltern oder Bezugspersonen lernen, prägt sich ihnen deren Haltung in der Regel fest ein. War Wut im Elternhaus ein Tabu, übernimmt das Kind oft diese Einstellung.
Aber auch das Gegenteil kommt vor: Ein Kind, das sehr wütend ist, bringt oft die nicht gelebte Wut eines ganzen Familiensystems zum Ausdruck.
Dabei gilt es zu bedenken, dass die Generation unserer Eltern und Großeltern, die im Krieg oder auch danach geboren wurden, oft mit Traumata und existenziellen Sorgen aufwuchs und die Frauen wesentlich abhängiger waren als heute. Sie konnten sich den Luxus der Selbstbestimmung, den Wut mit sich bringen kann, oft gar nicht leisten.
Nicht wenige Menschen sind aber auch mit einem aggressiven Elternteil aufgewachsen und haben daher Wut als sehr