Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Ingo Reich

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Nah- und Distanzraum ist im Allgemeinen vage. Die Richtung, in der das distaledistal (vom Sprecher entfernte) Objekt zu lokalisieren ist, ist dagegen zumindest im Fall von dort für die Unterscheidung zwischen Nahraum und Distanzraum zunächst unerheblich.

      Im Fall der temporalen Deixis ist das etwas anders. Zeit hat (in unserer Vorstellung) eine gerichtete lineare Struktur und der Zeitpunkt der Äußerung, das Jetzt, teilt diese gerichtete Zeitlinie ein in ein Davor und ein Danach, in eine Vergangenheit und eine Zukunft. Diese Zweiteilung schlägt sich natürlich auch in der Art der Versprachlichung nieder: Mit gestern beziehen wir uns eben auf den Tag vor dem Tag der Äußerung und mit morgen auf den Tag nach dem [39]Tag der Äußerung. Mit vorhin bezeichnen wir einen Zeitraum, der zwar Teil des Davor ist, dabei aber relativ nahe am Jetzt, und mit nachher bezeichnen wir einen ebenfalls Jetzt-nahen Zeitraum im Danach.

      Ob die Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz auch bei der personalen Deixis sinnvoll ist, ist nicht völlig klar. Für die Charakterisierung von ich und du ist eigentlich die Unterscheidung zwischen Produzent und Adressat ausreichend. Dennoch wird nicht selten angenommen, dass die erste Person ich ein proximalesproximal (inkludiert den Sprecher) und die zweite Person du ein medialesmedial Verhältnis ausdrückt in dem Sinne, dass der Adressat zwar nicht mehr Teil der Origo, aber noch Teil der Äußerungssituation ist. Die dritte Person er, sie, es dagegen würde man eher als distal charakterisieren: Sie ist im Gegensatz zu ich und du eben nicht mehr notwendig Teil der Äußerungssituation.

      Abschließend sei noch erwähnt, dass der Bezugspunkt deiktischer Ausdrücke, die Ich-Jetzt-Hier-Origo, entlang jeder der drei Dimensionen Das Verschieben der Origoverschoben werden kann. Man spricht hier auch von Deixis am PhantasmaDeixisam Phantasma (vgl. Bühler 1934). Am deutlichsten ist dies wohl im Fall der lokalen Deixis: Wenn eine Ärztin in einer Krankenakte notiert, dass das linke Bein des Patienten gebrochen ist und operiert werden muss, dann meint links hier links vom Patienten aus gesehen, und nicht links von der Ärztin aus gesehen. Die Ärztin nimmt hier bei der Formulierung per Konvention (aus guten Gründen) gedanklich die Perspektive des Patienten ein.

      3.3 Äußerungsbedeutung und kommunikativer Sinn

      In Abschnitt 3.1 wurde gezeigt, dass sich die Äußerungsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks direkt aus seiner Ausdrucksbedeutung durch Verankerung der in der Äußerung enthaltenen deiktischen Ausdrücke in der Äußerungssituation ergibt. Machen wir uns das noch einmal an einem inzwischen klassischen Beispiel von Posner (1979: 357) klar, das als »Maat-Beispiel« in die Literatur eingegangen ist:

      Ein Schiffsmaat versteht sich nicht mit seinem Kapitän. Der Kapitän ist Antialkoholiker, während der Maat häufig betrunken ist. Der Kapitän möchte ihm deshalb gerne eine Ordnungsstrafe verpassen lassen, wenn das Schiff wieder in den Hafen kommt. Eines Tages, als der Kapitän Wache hat und der Maat wieder zu grölen anfängt, wird es dem Kapitän zu viel, und er schreibt in das Logbuch: […] »Heute, 23. März, der Maat ist betrunken.« Als der Maat [40]einige Tage später selbst Wache hat, sieht er diesen Logbucheintrag und überlegt, wie er dagegen angehen kann, ohne sich weiter zu kompromittieren. Schließlich macht auch er einen Eintrag ins Logbuch, der lautet: […] »Heute, 26. März, der Kapitän ist nicht betrunken«.

      Betrachten wir zunächst den Logbucheintrag des Der Maat und sein KapitänKapitäns. Der Kapitän hat »Heute, 23. März, der Maat ist betrunken.« in das Logbuch eingetragen. Diesen Eintrag können wir natürlich als eine Form der Äußerung auffassen, und in dieser Äußerung sind deiktische Ausdrücke wie heute auch bereits (im Wesentlichen) im Äußerungskontext verankert. Die Äußerungsbedeutung des Logbucheintrags lässt sich damit in aller Kürze wie folgt zusammenfassen: »Dass der Maat (des fraglichen Schiffs) am 23. März (des fraglichen Jahres) betrunken ist.« Dies ist im Wesentlichen auch die Information, die der Kapitän mit seinem Logbucheintrag den verantwortlichen Personen kommunizieren möchte. Analog können wir die Äußerungsbedeutung des zweiten Logbucheintrags wie folgt paraphrasieren: »Dass der Kapitän (des fraglichen Schiffs) am 26. März (des fraglichen Jahres) nicht betrunken ist.« Der wesentliche Unterschied zum Eintrag des Kapitäns und damit der Witz der ganzen Geschichte ist natürlich, dass der Maat mit seiner Äußerung dem Leser des Logbuchs etwas ganz anderes nahelegen möchte, ohne dies aber explizit zu formulieren: »Dass der Kapitän normalerweise betrunken ist.« Tatsächlich zielt der Logbucheintrag des Maats vor allem darauf ab. Mit anderen Worten: Der Maat hat etwas (intentional und erfolgreich) kommuniziert (»dass der Kapitän normalerweise betrunken ist«), ohne dies explizit zu sagen. Das, was er im eigentlichen Sinne ›gesagt‹ hat und worauf man ihn festnageln kann, ist lediglich die unstrittige Aussage, dass der Kapitän am 26. März nicht betrunken war.

      Die zentrale Frage, die dieses Beispiel aufwirft, ist die folgende: Wie kann es sein, dass wir mehr (intentional und erfolgreich) kommunizieren können, als wir im strikten Sinne des Wortes eigentlich sagen? Eine erste Ein erster ErklärungsversuchErklärung liegt gerade bei diesem Beispiel recht nahe: Ein Logbuch ist dadurch charakterisiert, dass in ihm nur besonders relevante bzw. erwähnenswerte Ereignisse verzeichnet werden. Indem der Maat die Aussage, dass der Kapitän am 26. März nicht betrunken war, explizit ins Logbuch aufnimmt, kennzeichnet er sie als besonders relevant. Besonders relevant ist sie aber eigentlich nur, wenn der Kapitän im Normalfall betrunken ist. Folglich ist es für den Leser des Logbucheintrags naheliegend und plausibel, genau dies anzunehmen. Diese zusätzliche Annahme hat aber lediglich den Status einer Hypothese des Adressaten, die die Äußerung in einen größeren Zusammenhang einordnet und ihr damit einen tieferen, erklärenden Sinn verleiht. Plausibilitätsannahmen dieser [41]Art werden auch als abduktive Schlussfolgerungen bezeichnet (vgl. hierzu Peirce 1997 [1903] und mit Bezug auf die Grice’sche Implikaturtheorie auch Hobbs 2004). Charakteristisch für abduktive Schlüsse ist, dass zusätzliche Information dazu führen kann, dass der Adressat die fragliche Hypothese wieder verwirft (oder erst gar nicht annimmt). Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass der Leser des Logbuchs außerdem weiß, dass am 24. März (des fraglichen Jahres) die Trinkwasservorräte an Bord zur Neige gegangen sind und die Besatzung von diesem Zeitpunkt an nur noch Rum trinken konnte, um ihren Durst zu stillen. In einem solchen Kontext wird der Leser sicher nicht den Schluss ziehen, dass der Kapitän sonst immer betrunken ist. Er wird wohl eher annehmen, dass der Kapitän, vermutlich aus Pflichtbewusstsein, an diesem Tag gar nichts getrunken hat. Schlussfolgerungen, die durch zusätzliches Wissen aufgehoben werden können, heißen nicht-monoton.

      Unter einer abduktiven FolgerungSchlussfolgerungabduktive ist eine erklärende Hypothese zu verstehen: Eine beobachtete Äußerung erklärt sich nur über eine plausible Zusatzannahme.

      Eine Schlussfolgerung heißt nicht-monotonSchlussfolgerungnicht-monotone, wenn die Hinzunahme einer weiteren Annahme dazu führen kann, dass die Schlussfolgerung nicht mehr legitim ist.

      Das, was der Produzent einer Äußerung in erster Linie mit seiner Äußerung kommunizieren möchte, werden wir im Folgenden Kommunikativer Sinnden kommunikativen Sinn dieser Äußerung nennen. Der kommunikative Sinn einer Äußerung kann im Wesentlichen mit ihrer Äußerungsbedeutung zusammenfallen (wie das vielleicht im Fall des Kapitäns ist; wobei wir auch hier ein übergeordnetes Ziel unterstellen können, nämlich dass er den Maat für sein unverantwortliches Handeln bestraft wissen will). Das ist aber wohl eher die Ausnahme. Im Normalfall zielen unsere Äußerungen auf mehr oder sogar auf ganz anderes ab, als wir im strikten Sinne eigentlich sagen. Nehmen wir z. B. an, dass mich eine Kollegin fragt, ob ich mit in die Mensa komme, und ich darauf lediglich antworte, dass (heute) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Dann wird die fragliche Kollegin nicht annehmen, dass mein primäres kommunikatives Ziel darin besteht, ihr mitzuteilen, dass (heute) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Sondern sie wird aus meiner Äußerung schließen, dass ich vermutlich die Vorlesung halten muss und deswegen nicht mit in die [42]Mensa gehen kann. Und sie wird annehmen, dass ich ihr genau das mit meiner Äußerung vermitteln wollte. Mit anderen


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