Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Ingo Reich
explizit kodierten ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutungexplizit kodierte und einer pragmatisch angereicherten ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutungpragmatisch angereicherte unterscheiden. Letztere ist die (gegebenenfalls erforderliche) pragmatische AnreicherungAnreicherungpragmatische der explizit kodierten Äußerungsbedeutung auf der Basis kontextuell plausibler Annahmen, mit dem Resultat einer (minimalen) als wahr oder falsch bewertbaren Aussage (Proposition). Wenn wir im Folgenden also von Äußerungsbedeutung sprechen, dann ist damit (solange nichts anderes gesagt wird) immer die pragmatisch angereicherte Äußerungsbedeutung gemeint.
[59]Die explizit kodierte Äußerungsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ergibt sich aus dessen Ausdrucksbedeutung und ihrer Verankerung im Äußerungskontext. (In Abschnitt 3.1 haben wir sie noch einfach Äußerungsbedeutung genannt.)
Werden sprachliche Äußerungen vom Adressaten (über nicht-monotone Inferenzen) inhaltlich ergänzt, dann spricht man von pragmatischer Anreicherung.
Die (pragmatisch angereicherte) Äußerungsbedeutung ergibt sich aus der explizit kodierten Äußerungsbedeutung über pragmatische Anreicherungen. Sie ist im Prinzip als wahr oder falsch beurteilbar, kann aber auch expressive Bedeutung tragen.
Die Beobachtung, dass die explizit kodierte Äußerungsbedeutung im Allgemeinen noch pragmatisch angereichert werden muss, um eine grundsätzlich als wahr oder falsch beurteilbare Aussage zu erhalten, ist für den Grice’schen Ansatz nicht ganz unproblematisch. Das Problem ist – wie z. B. Levinson (2000) ausführlich darstellt –, dass nach Grice (1975) Konversationsimplikaturen immer auf der Basis des Gesagten (unter Bezug auf die Gesprächsmaximen) herzuleiten sind. Um bei unvollständigen Äußerungen aber überhaupt zu einer als wahr oder falsch beurteilbaren Aussage (also dem Gesagten) kommen zu können, muss die explizit kodierte Äußerungsbedeutung pragmatisch angereichert werden. Dieser Prozess der pragmatischen Anreicherung ist aber wiederum ein nicht-monotoner Inferenzprozess, der dem der konversationellen Implikaturen zumindest sehr nahekommt, wenn nicht sogar mit ihm identisch ist. Im Allgemeinen braucht man also das Gesagte, um Implikaturen abzuleiten, gleichzeitig aber auch Implikaturen, um zum Gesagten zu kommen. Levinson (2000) nennt dies Der Grice’sche Zirkelden Grice’schen ZirkelGrice'sche Zirkel. Dieser wird von Levinson (2000) in der Weise aufgelöst, dass erstens generalisierte und partikulare Implikaturen als unterschiedliche Prozesse betrachtet werden: Generalisierte Konversationsimplikaturen sind Default-Annahmen auf der Basis von Heuristika, während partikulare Konversationsimplikaturen alleine über Relevanzbetrachtungen ausgelöst werden. Zweitens nimmt Levinson (2000) an, dass pragmatische Anreicherung nur über generalisierte Konversationsimplikaturen erfolgt. Damit muss bei der pragmatischen Anreicherung nicht mehr Bezug auf die Maximen genommen werden und die Zirkularität ist damit aufgelöst.
In der Relevanztheorie (Sperber & Wilson 1986) wird dieses Problem gelöst, indem die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik verschoben und zwischen dem gezogen wird, was wir Ausdrucksbedeutung (›Logische Form‹ in der Terminologie der Relevanztheoretiker) und explizit kodierte Äußerungsbedeutung genannt haben: Dem Prozess der pragmatischen Anreicherung (der ›Explikatur‹) und des Ziehens weiterer Schlussfolgerungen (also von ›Implikaturen‹ im engeren Sinne) liegt zwar derselbe Mechanismus zugrunde (die Annahme optimaler Relevanz), aber da beide Prozesse (i) pragmatischer Natur und (ii) nicht linear geordnet sind (im Sinne von zuerst Explikatur, dann Implikatur), kann Zirkularität erst gar nicht entstehen.
Betrachtet man das obige Beispiel »ich hatte schon drei« nochmal etwas genauer, dann ist am Ende gar nicht so klar, dass die Äußerung in syntaktischer Hinsicht wirklich unvollständig ist. Man kann in der Syntax durchaus argumentieren, dass das Numeral drei hier allein noch kein geeignetes Objekt ist und aus strukturellen Gründen einen so genannten nominalen Kopf benötigt. Tatsächlich wird von nicht wenigen Linguisten in solchen Fällen angenommen, dass hier eine Ellipse vorliegt: Auf syntaktischer Ebene ist die Phrase Tassen Kaffee eigentlich präsent, sie wird aber (aus Ökonomiegründen) nicht ausgesprochen, da sie über die vorige Äußerung leicht rekonstruierbar ist. So gesehen wäre die Phrase Tassen Kaffee sprachlich kodiert, aber eben nur auf syntaktischer Ebene und nicht auf phonetischer Ebene, also implizit und nicht explizit. Damit ist sie folglich nicht Teil der explizit kodierten Äußerungsbedeutung. Folgt man dieser Argumentation, dann ist die Rekonstruktion der Lücke grammatisch bzw. strukturell motiviert und wir sprechen daher Strukturbedingte Anreicherungvon strukturbedingter AnreicherungAnreicherungstrukturbedingte oder auch von SättigungSättigungAnreicherung. Die strukturbedingte Anreicherung einer explizit kodierten Äußerungsbedeutung bezeichnen wir als die grammatisch determinierte ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutunggrammatisch determinierte. (Man vergleiche hierzu auch die Überlegungen in der entsprechenden Vertiefungsbox in Abschnitt 3.1.)
Wenn es pragmatische Anreicherungen gibt, die strukturbedingt sind, dann gibt es vermutlich auch pragmatische Anreicherungen, die dies (höchstwahrscheinlich) nicht sind. Tatsächlich lässt sich auch dies an unserem Beispiel illustrieren. Denn was mit der Äußerung von »Ich hatte schon drei« in der obigen Situation kommuniziert wird, ist ja nicht einfach, dass Erna schon drei Tassen Kaffee hatte, sondern genau genommen, dass Erna heute schon drei Tassen Kaffee hatte. Der Adressat (in diesem Fall Lisbeth) ergänzt die Äußerung gedanklich also auch noch durch heute. Die naheliegende Frage ist nun, ob diese Ergänzung wie im vorigen Fall strukturell motiviert ist. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass hier ein etwas anderer Fall vorliegt. Wir werden in der Syntax noch sehen, dass heute (in unserem Beispiel) als temporales Adverbial eine Angabe ist. Das heißt im Wesentlichen, dass heute (in diesem Fall) in syntaktischer Hinsicht nicht zwingend erforderlich ist, um einen vollständigen Satz zu bilden. Das Adverbial kann also frei hinzugefügt werden, muss es aber nicht. In diesem Sinne hat die pragmatische Anreicherung der Äußerung durch das Temporaladverbial heute keine strukturelle Basis und wir sprechen entsprechend von Freie Anreicherungeiner freien AnreicherungAnreicherungfreie.
Man könnte hier argumentieren, dass das Adverbial heute zwar syntaktisch fakultativ, aber in Semantisch motivierte Anreicherung?semantischer Hinsicht obligatorisch ist, damit die Äußerung überhaupt eine beurteilbare Aussage ausdrückt, also eine Aussage, die wir als [61]wahr oder falsch bewerten können. Diese Frage ist empirisch nicht einfach zu entscheiden. Vermutlich wird man sagen müssen, dass eine Äußerung der Art »Ich hatte schon drei Tassen Kaffee« bereits temporal spezifiziert ist und (semantisch) ausdrückt, dass Erna irgendwann (in ihrem Leben) schon drei Tassen Kaffee hatte. Diese Aussage ist aber sicher nicht die Aussage, die wir verstehen und die vom Sprecher intendiert ist. Da es in der gegebenen Situation aber nicht relevant ist, ob Erna schon einmal irgendwann in ihrem Leben drei Tassen Kaffee getrunken hat, wird der Adressat die Aussage auf den relevanten Zeitraum (heute) verengen. Bei einer Äußerung von »Ich habe schon dreimal geheiratet« wird er es dagegen (sehr wahrscheinlich) nicht tun.
Abbildung 3.5 soll die in diesem Kapitel eingeführten Begrifflichkeiten und die jeweiligen Eine schematische ZusammenfassungZusammenhänge (in leicht vereinfachter Form) grafisch verdeutlichen:
Abb. 3.5: Interpretations- und Handlungsebenen im Beispiel »Ich hatte schon drei.«
Ziel der schematischen Darstellung in Abbildung 3.5 ist vor allem, die Ebenen der Ausdrucksbedeutung, der Ebenen der Äußerungsbedeutung und kognitive VerarbeitungÄußerungsbedeutung, des kommunikativen Sinns und des Sprechakts deutlich voneinander zu trennen und innerhalb der Äußerungsbedeutung nochmals zwischen den verschiedenen Ebenen zu differenzieren. Die Pfeile sollen hier den strukturellen Zusammenhang zwischen diesen Ebenen deutlich machen. Die Linearisierung sollte dabei aber nicht so verstanden werden, dass mit ihr gleichzeitig eine entsprechende linear geordnete kognitive Verarbeitung behauptet wird. Es ist zwar sicherlich so, dass das Erfassen der Äußerungsbedeutung der Aktivierung von Ausdrücken im mentalen Lexikon