Handeln mit Dichtung. Sandra Schneeberger
seine breiten Anwendungsfelder produktiv scheinen für eine Lektüre altnordischer Literatur. Ein gewisses Unbehagen bleibt, ausgelöst durch eine zu wenig präzise Bestimmung der Begrifflichkeiten und ihre Anwendung in den verschiedensten Feldern. Daher ist es sinnvoll, einen Überblick über die Forschungsgeschichte des Performativen zu geben, um die produktiven Aspekte des Diskurses zu sichten. Dies soll hier allerdings eher als Abgrenzung und Herleitung der in dieser Arbeit benötigten Konzepte geschehen, als in einem umfassenden Überblick.6 Zuerst werden die forschungsgeschichtlichen Verzweigungen im chronologischen Verlauf und in den verschiedenen Disziplinen betrachtet und versucht, wichtige Aspekte herauszukristallisieren. Zentral für diese Arbeit ist ein spezifisches Verständnis von Performativität: die literarische Performativität mit einer mediävistischen Perspektive. Ihr wird deshalb ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Im Hauptteil der Arbeit – den Lektüren – wird sie vertieft behandelt und auf ihre Nützlichkeit für die Arbeit mit den Texten geprüft.
2.2 Forschungsüberblick
Man kann einen Forschungsüberblick zum Begriff der Performativität entlang verschiedener Linien nachzeichnen. Ein chronologisches Vorgehen bietet sich an, allerdings wird das leicht unübersichtlich, da sich die Entwicklung des Begriffs in verschiedenen Disziplinen gleichzeitig abspielt. Deshalb folgt dieser Überblick den chronologischen Entwicklungen innerhalb einzelner Fachrichtungen. Da sich die Diskurse gegenseitig beeinflussen und befruchten, kann die Aufteilung nicht völlig streng ausfallen. Damit ist auch impliziert, dass eine einheitliche Theorie des Performativen weder möglich noch erstrebenswert ist.
2.2.1 Entwicklungslinien des Performativen
Ihren Anfang nimmt die Performativitätsforschung wie oben erwähnt in der Sprachphilosophie. John L. Austin ist der Begründer der Sprechakttheorie und des Begriffs performative. Er versucht 1955 seine Einführung des „neue(n) und hässliche(n) Wort(es)“ zu begründen:
You are more than entitled not to know what the word ‚performative‘ means. It is a new word and an ugly word, and perhaps it does not mean anything very much. But at any rate there is one thing in favour, it is not a profound word.1
Das englische Adjektive performative leitet sich laut Austin vom Verb to perform (dt. vollziehen, ausführen, leisten; aber auch aufführen) ab. Austin bemerkt, dass man mit Sprache nicht nur etwas in der Welt beschreiben oder behaupten, sondern auch etwas tun kann. Mit performative bezeichnet er dementsprechend Äusserungen, die im Vollzug des Sprechakts soziale Wirklichkeit herstellen und grenzt sie anfangs von den konstativen Äusserungen ab. Konstative Äusserungen können wahr oder falsch sein, performative jedoch nicht, sie können nur gelingen oder misslingen. Austin macht deutlich, dass jede sprachliche Äusserung immer auch die Möglichkeit des Misslingens bzw. Scheiterns beinhaltet. Schliesslich verwirft er die Zweiteilung von konstativ und performativ, da jeder konstativen Äusserung immer auch eine performative Dimension eigne und umgekehrt bei performativen Akten auch der Wahrheitsgehalt bedeutsam sei.2 Deshalb nennt er schliesslich nur eine kleine Klasse von Äusserungen (explizite) performative Äusserungen. Diese vollziehen gleichzeitig das, was sie besagen und ändern dementsprechend die Wirklichkeit. Dazu müssen sie jedoch in den Kontext formaler oder informeller Institutionen eingebettet sein, sonst tritt keine Veränderung ein. Ein bekanntes Beispiel für eine durch einen institutionellen Kontext gestützte performative Äusserung, ist: „Sie sind jetzt Mann und Frau“ – ausgesprochen vom dazu autorisierten Pfarrer bei der Eheschliessung in der Kirche.
Austin konzentriert sich in seinen Überlegungen zum Performativen auf den Gebrauch von Äusserungen in „normaler Sprache“. Er unterscheidet sie von einem „nicht ernsthaften“ Gebrauch: „Es gibt die Auszehrung der Sprache, parasitären Gebrauch unterschiedlicher Art usw.: man kann sie in unterschiedlicher Weise ‚nicht ernsthaft‘ oder ‚nicht ganz normal‘ gebrauchen.“3 Performative Äusserungen können demnach z.B. nicht glücken, wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder auf der Theaterbühne vorgetragen werden. Es ist diese Ausklammerung von bestimmten Äusserungssituationen, die John Searle und Jacques Derrida den Begriff des Performativen weiterentwickeln lassen.4 Während sich Searle auf die von Austin begründete Theorie beruft und eine allgemeine Sprechakttheorie entwickelt, stellt Derrida das Konzept grundsätzlich in Frage:
Denn ist nicht schliesslich, was Austin als Anomalie, Ausnahme, ‚unernst‘ das Zitieren (auf der Bühne, in einem Gedicht oder in einem Monolog), ausschliesst, die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – einer allgemeinen Iterierbarkeit vielmehr –, ohne die es sogar kein ‚geglücktes‘ performative gäbe? So dass – als paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz – ein geglücktes performative notgedrungen ein ‚unreines‘ performative ist, um das Wort wieder aufzunehmen, das Austin später vorschlägt, wenn er eingesteht, dass es kein ‚reines‘ performative gibt.5
Derrida denkt ausgehend vom Sprechakt über die Sprache als Ganzes nach. Er setzt entgegen Austin voraus, dass jedes Zeichen iterierbar und damit zitierbar und eigentlich graphematischer Natur ist.6 Somit ist jede performative Äusserung nach einem „iterierbaren Muster konform“ und als „Zitat identifizierbar“.7 Dies gilt sowohl für Äusserungen, die Austin als „normal“ bezeichnet, als auch für solche, die gemäss ihm „parasitär oder unnormal“ sind. Für diese Arbeit ist die Bestimmung des Performativen als im Wesen iterierbar zentral. Sybille Krämer arbeitet ein wichtiges Merkmal im Denken der Wiederholung bei Derrida heraus, das für die Lektüren der Prosa-Edda relevant sein wird:
Das klassische philosophische Denken der Wiederholbarkeit folgt dabei dem Primat des Universellen: Wiederholung setzt Allgemeinheit voraus. Doch Derridas Denkbewegung führt zu einem anderen Ergebnis: Es ist die Wiederholung, die Allgemeinheit, Identität und Idealität überhaupt erst erzeugt und stabilisiert: ‚…Idealität ist aber nur das gesicherte Vermögen der Wiederholung.‘ Doch insofern jede Wiederholung ein Anderswerden des Wiederholten einschliesst, sind Reproduktion bzw. Repetition nicht bloss als Aktualisierung eines vorgängigen Schemas verstehbar, sondern bergen einen Überschuss, der das Schema verändert und sprengt – doch eben nur, wenn dieses Schema zugleich auch aufgegriffen und bestätigt wird.8
Wie sich in den Lektüre-Kapiteln zeigen wird, ist die Wiederholung und das Zitat ein grundlegendes Prinzip der Textgestaltung in der Prosa-Edda. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten findet in Kapitel 2.4.2 statt.
Der Begriff Performanz findet unabhängig von der sprachphilosophischen Diskussion auch in der Linguistik Verbreitung. Noam Chomsky unterscheidet im Anschluss an Ferdinand de Saussures Konzept von langue und parole „die ‚Performanz‘ (engl. performance) als den konkret-aktualen Gebrauch sprachlicher Äusserungen von der ‚Kompetenz‘ (engl. competence), dem allgemeinen Regel- und Kenntnissystem, das die konkreten Sprachäusserungen determiniert.“9 Diese Linie wird für die vorliegende Arbeit nicht weiterverfolgt.
Auch in den Künsten wurde das Performative in den 1960er Jahren immer zentraler, dazu schreibt Erika Fischer-Lichte:
Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater – alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.10
Der Ereignisbegriff ist zentral für diese Diskurse des Performativen. Weiter fokussiert sich Fischer-Lichte in ihren Ausführungen auf das Theater und den Begriff der Inszenierung und Aufführung. Sie vergleicht:
Was Austins Sprechakttheorie für die Erkenntnis von Sprache leistete, vollbrachte das „untitled event“ im Hinblick auf das Theater. Es liess schlagartig deutlich werden, was Theatermacher und Zuschauer immer schon intuitiv gewusst und praktiziert haben: dass Theater sich nicht in einer referentiellen Funktion erschöpft, sondern immer auch eine performative wahrnimmt. Mit dem besonderen Verhältnis der performativen Funktion zur referentiellen definiert es Theater neu als die performative Kunst schlechthin. Aufgrund dieses neuen Theaterbegriffs konnte Theater nun als ein kulturelles Modell begriffen werden.11
Damit