Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren. Bernadette von Dreien
Zwanzigjährige war es damals, ins Amazonasgebiet nach Südamerika zu reisen und dort in einer Urwaldklinik zu arbeiten. Diesen Plan ließ ich allerdings wieder fallen, als man mir sagte, dass man sich beim Roten Kreuz für zwei ganze Jahre verpflichten müsse.
So suchte ich nach anderen Herausforderungen, begann in meiner Freizeit ambitionierter zu joggen und trat einem Laufsportverein bei, in den ich mich in der Folge auch intensiv einbrachte. Der Laufsport in freier Natur war für mich ein sehr befriedigender körperlicher Ausgleich zu meiner geliebten Tätigkeit in der Arztpraxis.
Kurz darauf bezog ich zusammen mit meinem späteren Ehemann eine eigene Wohnung, und im Jahre 1994, mit etwas mehr als 22 Jahren, heirateten wir. Von 1994 bis 1998 arbeitete ich in einer turbulenten Landarztpraxis, was mich tief erfüllte. Während dieser Zeit bauten wir auch ein Haus (1996), und ein halbes Jahr später (1997) erfüllte sich mein Ehemann seinen Wunsch nach einer eigenen Firma, indem er einen Holzbaubetrieb gründete. Voller Elan übernahm ich dort die anfallenden Büroarbeiten, was mich innerlich allerdings nicht wirklich ausfüllte. Dennoch lernte ich viel Neues in diesem Gewerbe, und die Vorstellung, später mit Kindern diese Arbeit als Nebenbeschäftigung weiterzuführen, gefiel mir.
Noch im selben Jahr suchte ich im Alter von 25 Jahren auch sportlich neue Herausforderungen. Als begeisterte Langstreckenläuferin lief ich entgegen dem Ratschlag meines Trainers im November 1997 meinen ersten Marathon. Im tiefsten Inneren wusste ich genau, dass ich für diese Distanz geradezu prädestiniert war. So freute ich mich riesig darauf, obwohl mir mit einem für eine Langstreckenläuferin vergleichsweise bescheidenen Trainingsumfang von rund 75km pro Woche eine angemessene Vorbereitung fehlte. Dennoch durfte ich bei strömendem Regen meinen ersten Elite-Schweizermeistertitel über die Marathon-Distanz feiern – nicht gerade in einer Weltklassezeit, aber immerhin in 2:44h, was für mich als Marathondebütantin zum nationalen Titel reichte. Das Potenzial war deutlich zu erkennen, und meine große Faszination für diese Wettkampfdistanz war geweckt.
Mit diesem ersten sportlichen Erfolg stand ich plötzlich auf einer neuen, ungewohnt großen Bühne, auf der unzählige Reaktionen aus der Sportwelt und der allgemeinen Gesellschaft auf mich niederprallten. Damit verbunden stiegen auch die Erwartungen und der Erfolgsdruck in hohem Ausmaß. Ich fühlte mich noch immer als dieselbe Person – wenngleich neu mit dem Prädikat «Marathon-Schweizermeisterin» –, doch die vielen schönen, zuweilen aber auch surrealen neuen Begebenheiten in meinem Leben gaben mir zu denken. Plötzlich fand ich mich auf Titelseiten und in Artikeln von Illustrierten wieder – mit Bildern, die ich nie bewilligt hatte, und sogar mit Aussagen, die ich gar nicht getätigt hatte. Die Resonanz auf meinen sportlichen Erfolg war zwar irgendwie großartig, doch in unserem ohnehin schon ausgefüllten Leben gab es danach kaum noch Raum für künftige Angebote und Verpflichtungen außerhalb des Rahmens von Beruf, Training und Wettkampf. Der Erwartungs- und Leistungsdruck seitens des Verbandes, der Sponsoren und der Medien wurde immer größer, und die negativen Folgen von alledem wurden bereits ein Jahr später sichtbar.
So reduzierte ich 1998 meine Arbeit in der Arztpraxis um 20%, um mehr Zeit für den Sport zu haben. Doch zugleich begann unser eigenes Geschäft immer mehr zu florieren, so dass dies keine Erleichterung darstellte. Mein Tag begann meist schon um 05:00 Uhr morgens mit Training oder Büroarbeit, bevor anschließend der Praxisalltag losging.
Dem Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit sowie auch dem Umgang mit meiner sportlichen Konkurrenz vermochte ich in jener Zeit nicht immer mit Freude zu begegnen. Es folgten mehrere Tiefschläge bzw. Lernprozesse in aller Öffentlichkeit: Bei der Marathon-Titelverteidigung 1998 musste ich wegen Erbrechens aufgeben, ebenso bei der Schweizer Meisterschaft über 5000m. Auch die Qualifikation für die Halbmarathon-Weltmeisterschaft entging mir ganz knapp, da ich mich im sportlichen Bereich in vielerlei Hinsicht fremdsteuern ließ.
Dies alles behagte meinem Inneren nicht, und so wurde ich in der Folge immer wieder mit meinen eigenen Schwächen und unvorteilhaften Gedankenmustern konfrontiert. Zu allem Überfluss traten nun auch unzählige Menschen mit allerlei vermeintlichen Patentrezepten an mich heran, wie ich diese im Leistungssport durchaus häufige Problematik in den Griff bekommen könne. Viele erfahrene Athleten und Trainer bemühten sich um mich, und ich bekam etliche gut gemeinte Tipps, Jobangebote und dergleichen.
Glücklicherweise wurde mir bald klar, dass es für mich nun nicht darum ging, bloß äußerlich meinen Berufs- und Trainingsalltag umzustellen und zu optimieren. Vielmehr war es eine deutliche Aufforderung an mich, wieder vermehrt auf meine innere Stimme zu hören, wenn ich in diesem Business weiterhin erfolgreich sein wollte. Denn es konnte doch nicht sein, dass ich als begeisterte Läuferin körperlich zwar in Topform war, aber durch vielfältige äußere Einflüsse – Verbände, Trainer, Termine, Medien usw. – im entscheidenden Moment meine Leistung nicht abzurufen vermochte. Mein Ego hatte mit der übermäßigen Orientierung nach außen meine Intuitionsfähigkeit und damit auch meine Erfolge sabotiert.
Ich erkannte: Laufen musste ich immer noch selber, das konnte mir niemand abnehmen. Auch die Begeisterung fürs Laufen konnte mir niemand von außen vermitteln. Man konnte sie mir höchstens wegnehmen. Um dies zu verhindern, war ich nun aufgefordert zu lernen, mich auf mich selbst zu konzentrieren und auf meine innere Stimme zu achten. Wie massiv unser Körper sofort reagiert, wenn man mit negativen Emotionen an eine Sache herangeht, ist gerade im Ausdauersport sehr intensiv zu erleben.
Durch diese veränderte Einstellung gelang es mir allmählich, sowohl Erfolge als auch Misserfolge ganz einfach als neutrale Erfahrungen und als Lernprozesse wahrzunehmen. Meine Entschlossenheit, mich vor allem in diesen mentalen Aspekten weiter zu verbessern, war groß, und die Ergebnisse waren höchst erfreulich: Meine Konkurrentinnen entwickelten sich zu Freundinnen, aus Trainingscamps wurden Ferien, aus Wettkämpfen willkommene Erlebnisse, die mich auf meinem Lebensweg und in meiner Persönlichkeitsentwicklung weiterbrachten.
Zu Beginn des Jahres 1999 hatte ich mein Leben wieder weitestgehend im Griff und wechselte beruflich auf ein 50%-Pensum in eine kardiologische Arztpraxis. Die Erwartungen im Sport waren nach wie vor hoch, aber ich vermochte ihnen fortan ganz anders zu begegnen.
Und siehe da, die Erfolge im Wettkampf stellten sich rasch wieder ein: Während der ersten sechs Monate lief ich zwar lediglich drei Rennen – drei Schweizer Meisterschaften, was den Druck zusätzlich erhöhte –, doch diese endeten äußerst erfolgreich: Gold über die Marathon-Distanz, Silber über die Halbmarathon-Distanz und Bronze über die Cross-Langdistanz. Meine persönlichen Bestzeiten konnte ich nochmals um etliche Minuten verbessern. Im Herbst 1999 lief ich im Elite-Feld anlässlich des Amsterdam-Marathons auf Rang 5, und es schien noch viel mehr sportliches Potenzial vorhanden zu sein, welches ich in den kommenden Jahren umzusetzen gewillt war.
Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit mir – zum Glück! Im November desselben Jahres wurden wir in einen spektakulären Autounfall verwickelt, der von einem betrunkenen Lenker verursacht wurde und mehrere Fahrzeuge erfasste. Dieser Unfall und dessen Folgeerkrankungen machten für mich während Wochen mehrere Klinikaufenthalte notwendig, und an den Nebenwirkungen litt ich noch Monate danach. An Wettkämpfe war im Olympiajahr 2000 nicht zu denken, und so strich ich die gesamte Wettkampfsaison und nahm bewusst Abstand vom ganzen Sportgeschehen.
Offensichtlich wurde ich geradezu gezwungen, meinem Leben noch andere Farbtupfer zu verleihen. So entstand mein tiefer Wunsch, nun eine Babypause einzulegen, dem auch bald entsprochen wurde: Im Herbst 2000 wurde ich schwanger, und daraufhin nahm mein Leben eine komplette Wende, die ich im vorliegenden Buch beschreiben werde.
Seit diesen Prozessen kann ich, zumindest was meine persönlichen Erfahrungen betrifft, deutlich betonen: Zu einem erfolgreichen Spitzensportler wird man nicht allein nur über professionelles körperliches Training, sondern hauptsächlich durch innere Entwicklungsprozesse – sofern man bereit ist, sich wirklich auf sie einzulassen. Eine der in diesem Zusammenhang für mich wichtigsten Erkenntnisse war, dass man sich allzu oft selbst Grenzen setzen lässt durch die gut gemeinten Tipps und Ratschläge anderer. Doch andere können immer nur aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont heraus sprechen, und keiner ist in der Lage, uns unsere persönlichen Lernprozesse abzunehmen.
Wer hingegen in Eigenverantwortung und mit Selbstvertrauen und intuitiver Intelligenz handelt, wer mutig neue Wege zu gehen bereit ist, der wird in jeder Extremsituation