Weihnachts-Blues. Wolfgang Schierlitz

Weihnachts-Blues - Wolfgang Schierlitz


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Schweinebraten-Oberbayern hat die vegane Küche viel zu bieten.«

      Der Marcel ist schon seit geraumer Zeit ziemlich beduselt und freut sich diebisch über seinen Erfolg, dass er den schaurig-tragischen Helden und Kriegskommandanten etwas reizen konnte. »Ich habe kürzlich mit seiner langjährigen Freundin gesprochen«, meint er süffisant. »Ihre Meinung dazu: ›Der war noch nie in Jugoslawien‹, das es ja heute auch gar nicht mehr gibt. Ich habe sie auch gefragt«, meint der Marcel, »wie kommt es eigentlich, dass du dich ausgerechnet in den Martl verliebt hast? Nachdenklich meint sie darauf: ›Siehst du, jetzt wunderst du dich auch!‹«

      Dabei geht er zum alten Grammofon hinüber und legt eine betagte Schall-Schellackplatte auf. Es ist die damals, 1939, weltbeste und von dem kuriosen, musikalischen Künstlervirtuosen auf dem Akkordeon namens Will und seinem Orchester eingespielte »Bier-Barrel-Polka«, mit der er hauptsächlich in Amerika große Berühmtheit erlangte. Früher hieß der Typ noch Gustav Adolf Wilhelm Glahé und war angeblich siebzehnfacher Träger der Goldenen Schallplatte. Andächtig-amüsiert lauschen alle den kratzigen Tönen. Und auch die Rückseite zeigt das musikalische, singende Tenorgenie namens Will virtuos mit seiner Quetschkommode: »Sie will nicht Blumen und nicht Schokolade.«

      Doch dann wird es ernst. Die Nadel am Grammofon pflügt nur noch kratzig durch die letzten leeren Rillen. Im Ofen knistert es.

      »Hört ihr das auch?«, ruft die Emma-Pauline plötzlich in die Beinahe-Stille hinein. Die Runde spitzt die Ohren. Verwehte, schwache Laute. »Das sind Hilferufe!«

      Der Marcel stellt das Weinglas auf den Tisch, und der Adrian springt sofort auf. In fliegender Eile ist die Winterausrüstung angelegt, und hinaus geht es in den treibenden Schneesturm. Dann hört man länger nichts mehr, außer dem Heulen des Windes um die Hütte. Früh ist die abendliche Dämmerung hereingebrochen, und nun wird es immer schneller dunkel. Es vergeht eine Viertelstunde, es vergeht eine halbe Stunde. Die Freunde werden unruhig und machen sich schon bereit, ebenfalls nachzuforschen. Dann rumpelt es plötzlich gewaltig an der Türe, bevor sie aufspringt und ein eisiger Schneeschauer hereinfegt. Beide Freunde stützen den berühmten Kriegsberichterstatter, den erschöpften Martl, sie schütteln den Schnee ab, und der Gerettete schleppt sich in die gute Stube. Völlig ausgepumpt und fertig landet er auf der Ofenbank. Es ist zwar nicht sehr weit zur Nachbarhütte, seiner Unterkunft, aber der Martl hat sich, nur leicht bekleidet, im Schneesturm und in seinem Suff total verirrt und wäre um ein Haar in die nahe Schlucht gestürzt.

      Kaum hat er sich wieder etwas erholt, meint er schwermütig, aber theatralisch: »Danke! Das muss gefeiert werden. Ich bin gerettet.« Er strahlt über das ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd. »Ich bin schon wieder total lebendig. Wie neugeboren.« Die gesunde Gesichtsfarbe kehrt schnell zurück. Und schon prostet der aus der Schneenot Befreite wieder mit dem vollen Glas in die Runde. Da wissen alle anderen, dass der gute Wein knapp werden wird. Kein Wort mehr vom vermeintlichen Hirschbraten in der Ofenröhre. Im Gegenteil. Vorsichtig erkundigt er sich, wie das mit dem weihnachtlichen Abendessen wäre. Er könne ja, wie man sehe, im Moment wegen des Unwetters noch nicht gleich in seine heimatliche Hüttenbehausung zurück, noch dazu in seinem angetrunkenen Zustand. Das wissen die anderen auch.

      Dann tischt die Anna-Lena auf. Das schmackhafte, goldbraun Gebackene wird verteilt.

      »Da habt ihr mich ja sauber hereingelegt«, meint der Held versöhnlich. Schmatzend und ohne weitere Widerrede verzehrt der Martl genüsslich die vegane Speise.

      »Du wirst am Ende noch ein leibhaftiger Veganer«, lacht die Anna-Lena amüsiert.

      Der Suffkopf nickt weise und erklärt zum Dank jovial: »Es folgt ein Witz. Von mir. Es darf gelacht werden: Neulich treffe ich einen alten Freund mit seinem Papagei. Ich frage ihn, ob das Vieh auch sprechen kann. Der grinst aber nur. ›Weiß ich doch nicht‹, krächzt der Papagei.«

      Der Martl lacht am meisten. Und gleich bricht erneut sein Humor wieder aus: »Neulich ist eine Lawine bergauf abgegangen. Warum? Sie hatte unheimlich starkes Heimweh!« Verhaltenes Lachen belohnt den quirligen Burschen.

      Dann wird es still, nur das alte Kanapee knarzt. Im Ofen prasseln die Fichtenscheite. Für kurze Zeit ist im schwachen Schein der Petroleumlampe weihnachtliche, nachdenkliche Beschaulichkeit eingekehrt. Aber gar nicht lange. Leider. Denn dann beginnt der große Held eine neue Märchenstunde: »Damals, als ich Kommandant in Kroatien war, …«

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      Wenn das Jahr sich langsam auflöst, die langen, dunkleren Dezembertage zum Ende hin eingetroffen sind, dann ist unser Freund, der Martl, zumindest geistig schon lange intensiv beschäftigt. Sinnend steht er stundenlang am Fenster und schaut in Gedanken versunken hinaus in die trostlose Winterwitterung, bis die Dämmerung hereinbricht. Draußen wallt der Nebel, ein eisiger Wind pfeift um das einsame Haus, und vom nahen Wald krächzen Raben. Unser Freund wirkt etwas depressiv und sehr ernst. Ein feierlicher, melancholischer Zug durchfurcht sein Gesicht. Schwere Konflikte bedrücken ihn schon einige Zeit. Er versucht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, für tolle, konsumkritische Weihnachtsgeschenke etwas aus seiner kuriosen, ungewöhnlichen Trödlersammlung zu opfern. Es unterstützt ihn dabei der beste Wein, den er aus seinem Fundus im Keller geholt hat. Einen obligatorischen Hindernislauf hinab durch die geliebten, unzähligen Sammelobjekte nimmt er gerne in Kauf. Obwohl er dabei auch schon gestrauchelt ist, eine unersetzliche Vase zerdeppern musste und sich einen der beiden Füße verrenkt hat. Er bemerkt beim Hinunterhumpeln sachlich: »Das muss mein Linker sein.« Mit exklusiver Spätlese kommt er humpelnd wieder empor.

      Euphorisch gestärkt und allmählich in weihnachtlich-überirdischer, feierlicher Stimmung ist endlich die wichtige, innere Ruhe eingekehrt. Er konzentriert sich auf die Weihnachtsgeschenke. Immer wieder holt er auch einige Sachen aus der Mülltonne zurück.

      »Gerade noch rechtzeitig«, stellt er fest, als das Müllauto anrückt. Dann grübelt er weiter. Das dauert seine Zeit – mindestens vom Oktober bis in den Advent hinein. Bald sind schon die ersten endlosen Lichterketten und kilometerweit strahlenden, turmhohen Event-Sensationen installiert. Die findigen Dekorateure haben jeden Winkel festlich geschmückt. Überall klingt und singt es weihnachtlich beschwingt. Auch die Hochsaison der Weihnachtsmärkte hat begonnen.

      »Da habe ich auch heuer wieder sensationell tolle Sachen und einmalige Schnäppchen erworben«, flüsterte er glücklich, als er mit seinem vollbeladenen Wagen zurückgekehrt war. Alles freut sich, und weit und breit merkt es bald jeder: Es weihnachtet umgehend sehr!

      Auch der Martl hat allmählich wieder Frieden und innere Ruhe gefunden. Er hat viele Verwandte und Freunde, und alle will er ökologisch-dynamisch beschenken. Aus seinem gewaltigen Sammelsurium lässt er aber nur Objekte heraus, die andere längst eliminiert hätten. Er löst damit seinen Gewissenskonflikt, schafft neuen Platz und fühlt sich noch dazu als vollwertiger Wohltäter. Aber genau das ist sein Problem, wenn die hohe Zeit daherkommt: »Was soll ich denn wieder aussortieren? Was würde ich wegwerfen? Was brauche ich absolut nicht mehr?«

      Die Freude der glücklich Beschenkten ist leider keineswegs umwerfend. »Was wird er wieder anschleppen? Ein unreparierbares Tonbandgerät? Einen angeblich historischen Klodeckel? Eine Kunststoffzahnbürste, die ganz bestimmt von Ludwig II. stammen soll?«

      So manche eigenartige Gabe verschwindet umgehend in der Mülltonne auf Nimmerwiedersehen. Die tolle, biologisch-wertvolle Geschenke-Euphorie hat jedoch für ihn den großen Vorteil, dass nach langem Hin und Her endlich wieder etwas Platz und Luft für neue Objekte entstehen kann. Eines ist klar: Er braucht Raum für seine Sammelwut. Viele empfindliche, einmalige Dinge stehen sogar immer noch im Freien, und der Rost ist oft schneller als er mit der schwierigen Beschaffung eines trockenen Platzes. Er denkt an sein großartiges, leider rostiges Hochrad, mit dem er im Regen zur Volksbelustigung unterwegs war. Dieses einmalige Gefährt aus einer anderen Zeit ruht aber inzwischen zu seiner Beruhigung und Zufriedenheit im Trockenen. Nur das Entrosten steht noch bevor.

      Doch dann ist es endlich wieder so weit. Der Vierundzwanzigste ist da. Fröhlich und freudig summt er in den dichter werdenden Nebel hinaus: »Ihr Kinderlein


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