Heimatlos (mit Illustrationen). Johanna Spyri

Heimatlos (mit Illustrationen) - Johanna Spyri


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es klatschte, dann fuhr sie in die Stube hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Rico ging in seine dunkle Kammer hinauf. Am folgenden Tage, als drüben die ganze große Familie, Eltern, Großmutter und alle Kinder beim Abendessen saßen, kam die Base herübergelaufen und rief in die Stube hinein, ob sie etwas vom Rico wüßten, sie wisse nicht, wo er sei.

      »Der wird schon kommen, wenn's ans Abendessen geht«, antwortete der Vater geruhlich.

      Nun kam aber die Base ganz in die Stube hinein, denn sie hatte gedacht, sie brauche den Buben nur herauszurufen, er werde wohl da sein. Nun erzählte sie, er sei schon zum Morgenessen nicht gekommen und zum Mittagessen nicht, und im Bett sei er auch nicht gewesen, das sei noch wie gestern abend. Sie glaube fast, der sei schon am frühesten Morgen vor Tag auf seine Lumpereien ausgegangen, denn der Riegel sei inwendig von der Haustür weggeschoben gewesen, als sie auftun wollte. Sie habe aber zuerst gedacht, sie habe vor Ärger vergessen, ihn zuzustoßen, denn es wisse kein Mensch, was sie für Ärger habe.

      »Dem hat's etwas gegeben«, sagte der Vater unentwegt. »Er wird vielleicht in eine Spalte am Berg oben hineingefallen sein. Das gibt es manchmal bei so schmalen Buben, die überall herumklettern. Ihr hättet es ein wenig früher sagen sollen«, fuhr er langsam fort, »man wird ihn suchen müssen, und des Nachts sieht man nichts.«

      »Es glaubt es kein Mensch« – rief sie aus und sagte damit eine große Wahrheit – »was für ein heimtückischer, hinterlistiger, verstockter Bub der ist und wie er mir das Leben seit vier Jahren schwergemacht hat. Ein Vagabund wird er, ein Landstreicher und schädlicher Lump!«

      Die Großmutter hatte schon lange zu essen aufgehört. Sie war vom Tisch aufgestanden und vor die Base hingetreten, die immer noch lärmte.

      »Hört auf, Nachbarin, hört auf!« hatte die Großmutter zweimal gesagt, bevor die andere nachgab. »Ich kenne den Rico auch. Seit man das Büblein seiner Großmutter brachte, habe ich es immer gekannt. Wenn ich aber an Eurer Stelle wäre, so würde ich kein Wörtlein mehr sagen, aber ein wenig nachdenken, ob das Büblein, dem ein Unglück begegnet sein kann und das vielleicht schon da droben vor dem lieben Gott steht, ob es da niemanden anzuklagen hat, der in seiner Verlassenheit noch schweres Unrecht mit bösen Worten an ihm getan hat.«

      Der Base war es schon ein paarmal eingefallen, wie sie Rico am Abend angeschaut und gesagt hatte: »Ich kann Euch schon aus dem Weg gehen.« Sie hatte auch nur so furchtbar getobt, um diese Gedanken zu übertönen. Sie durfte die Großmutter nicht ansehen und sagte, sie müsse gehen, vielleicht sei der Rico nun doch heimgekommen, was sie jetzt gern genug gesehen hätte.

      Von dem Tage an sagte die Base nie mehr vor der Großmutter ein Wort gegen den Rico, freilich auch sonst nicht mehr viele. Sie glaubte, wie alle anderen Leute auch, er sei tot, und war froh, daß niemand wußte, was er am letzten Abend zu ihr gesagt hatte.

      Ein wenig Licht

      Aber Stineli wurde stiller und von Tag zu Tag magerer. Die kleinen Kinder schrien: »Das Stineli will nichts erzählen und lacht nicht mehr.« Die Mutter sagte zum Vater: »Siehst du's denn nicht? Es ist ja nicht mehr das gleiche.« Und der Vater sagte: »Das kommt vom Wachsen, man muß ihm am Morgen im Stall ein wenig Geißmilch geben.«

      Doch als drei Wochen so vergangen waren, da nahm die Großmutter eines Abends das Stineli in ihre Kammer hinauf und sagte: »Sieh, Stineli, ich kann es wohl begreifen, daß du den Rico nicht vergessen kannst, aber du mußt doch denken, daß der liebe Gott ihn weggenommen hat, und wenn es so sein mußte, so war es gut für den Rico, das werden wir noch einmal sehen.«

      Da fing das Stineli so zu weinen an, wie es die Großmutter nie an ihm erlebt hatte, und es schluchzte überlaut: »Der liebe Gott hat es ja nicht getan, ich habe es getan, Großmutter. Deshalb muß ich vor Angst ja fast sterben, denn ich habe den Rico angestiftet, an den See hinabzugehen. Nun ist er in die Rüfenen hineingefallen und ist tot, und es hat ihm noch so weh getan, und ich bin an allem schuld.« Und Stineli schluchzte zum Erbarmen.

      Der Großmutter war eine schwere Last vom Herzen gefallen. Sie hatte den Rico verloren gegeben, und heimlich hatte sie der quälende Gedanke verfolgt, das arme Büblein sei der bösen Behandlung entlaufen und liege vielleicht drüben im Wasser oder sei im Walde zugrunde gegangen. Jetzt stieg auf einmal eine neue Hoffnung in ihr auf.

      Sie beruhigte Stineli so weit, daß es ihr die ganze Geschichte von dem See erzählen konnte, von der sie gar nichts wußte. Daß der Rico immer von dem See gesprochen und es ihn dahin gezogen hatte und wie Stineli den Weg fand. Es war ganz sicher, daß Rico sich dahin auf den Weg gemacht hatte, aber des Vaters Worte von den Rüfenen hatten das Stineli um alle Hoffnung gebracht.

      Die Großmutter nahm das Kind bei der Hand und zog es zu sich heran. »Komm, Stineli«, sagte sie liebreich, »ich muß dir nun etwas erklären. Weißt du, wie's in dem alten Liede heißt, das wir noch am letzten Abend mit dem Rico gesungen haben?

      ›Denn was Er tut und läßt geschehn,

       Das nimmt ein gutes End.‹

      Siehst du, wenn nun auch der liebe Gott es nicht selbst getan hat, so war doch die Sache in seiner Hand, als du etwas Verkehrtes tatest, denn einem solchen kleinen Stineli wäre er schon noch Meister geworden. Und daß du etwas recht Verkehrtes getan hast, wirst du jetzt für dein Lebtag wissen, und was da herauskommen kann, wenn Kinder in die Welt hinauslaufen und Sachen unternehmen wollen, die sie gar nicht kennen, und niemanden ein Wort davon sagen, nicht den Eltern und nicht der Großmutter, die es gut mit ihnen meinen. Aber nun hat das der liebe Gott so gemacht, und nun dürfen wir bestimmt hoffen, daß alles noch ein gutes Ende nehmen kann.

      Jetzt denk daran, Stineli, und vergiß nie mehr, was du da erfahren hast. Weil es dir aber recht von Herzen leid tut, so darfst du jetzt auch gehen und den lieben Gott bitten, daß er doch noch etwas Gutes aus dem verkehrten Zeug mache, das ihr da angestellt habt, du und der Rico. Dann darfst du auch wieder fröhlich sein, Stineli, und ich bin es mit dir, denn ich glaube zuversichtlich, daß der Rico noch am Leben ist und daß ihn der liebe Gott nicht verläßt.«

      Von dem Tage an wurde Stineli wieder munter, und wenn ihm auch der Rico auf jedem Schritt fehlte, so hatte es doch keine Angst und keine Vorwürfe mehr im Herzen. Tag für Tag schaute es nach der Straße hinüber, ob nicht vielleicht der Rico dort vom Maloja herunterkäme. So ging die Zeit dahin, aber vom Rico hörte man nichts mehr.

      Eine lange Reise

      Rico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunklen Kammer auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu Bett gegangen war.

      Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht vor, daß er sich nur noch überlegen wollte, wann er am besten gehen könne. Er hatte ein Gefühl, daß die Base ihn vielleicht zurückhalten würde, wenn er auch wußte, daß er ihr nicht stark fehlen werde.

      Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er: »So will ich gleich gehen, wenn sie im Bett ist.«

      Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er nach, wie schön es sein würde, wenn er nun viele Tage lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welch große Büschel von den roten Blumen er dem Stineli mitbringen wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer und die violetten Berge vor sich und war eingeschlafen.

      Er war aber nicht in einer sehr bequemen Lage, denn die Geige hatte er nicht aus der Hand gelegt, daher erwachte er nach einiger Zeit wieder, es war aber noch ganz dunkel. Nun fiel ihm aber gleich alles ein. Er war noch in seinem Sonntagsanzug, das war gut. Seine Kappe hatte er noch von gestern her auf dem Kopf, die Geige nahm er unter den Arm, und so ging er leise die Treppe hinunter, schob den Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus. Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen und in Sils krähten die Hähne. Er ging tüchtig drauflos, damit er von den Häusern weg und auf die große Straße komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter, denn da war ihm alles so wohlbekannt, er war oft mit dem Vater da hinaufgegangen. Wie lang es aber dauerte, bis man auf den Maloja


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