Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon
mit Füßen tritt; der Begriff »Neoliberalismus« fasst dabei in einem Wort die politische und soziale Kultur der »Kaste« zusammen. In einem allgemeineren Sinne könnte man sagen, dass das Wort »Volk« doppelgesichtig ist wie Janus. Es knüpft an den Gedanken einer gewissen moralischen Größe an, während es zugleich die finstersten Hassgefühle rechtfertigt.8 Es konstruiert das politische Feld auf eine Weise, dass der Gegner nur ein Feind der Menschheit sein kann. Es dient dazu, dem Unglück einen Namen zu geben und zugleich den Weg zu einer gewissen Art von Wandel zu weisen.
Unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten versuchen die populistischen Bewegungen, der Beschwörung eines unauffindbar gewordenen homogenen Volkes eine fassbare Gestalt zurückzugeben, eine Referenzgröße, die zuvor nur ein »schwebender Signifikant«, ja ein »leerer Signifikant« gewesen war, gemäß den bereits zitierten Formulierungen von Ernesto Laclau. Diese Art, »ein Volk zu konstruieren«9, wirft natürlich viele Fragen auf, auf die wir in jenem Teil dieses Buches zurückkommen werden, der den Voraussetzungen einer angemessenen Kritik des Populismus gewidmet ist. Doch gilt es zu betonen, dass sie den Vorteil aufweist, den Bruch oder zumindest die Spannung zwischen dem zivilen Volk und dem sozialen Volk zu reduzieren. Denn beide fallen zusammen mit dem Verweis der Regierenden und der verschiedenen Arten von Eliten oder Oligarchien in dieselbe Kategorie, die der Kaste zum Beispiel. Die Wiederbelebung der Demokratie und die Verbesserung der Lebensbedingungen hängen also, dieser populistischen Perspektive zufolge, von der gleichzeitigen Verabschiedung dieser kleinen, einheitlichen Gruppe von Volksfeinden ab, sodass sich sozialer Kampf und politische Konfrontation überlagern.10 Eben das begründet ihre Stärke.
1Vergleiche dazu die Ausführungen in meiner Vorlesung von 2018 am Collège de France.
2Ich erlaube mir, auf mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France zu verweisen.
3Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, S.16–17.
4Ernesto Laclau, »Logiques de la construction politique et identités populaires«, S.151. Dieser Text besteht aus Exzerpten von On Populist Reason und stellt eine gute Zusammenfassung seines Buches dar.
5Ebd., S.152.
6Siehe seinen Artikel »Ernesto Laclau: le seul et vrai théoricien de populisme de gauche«, Éléments, Nr. 160, Mai-Juni 2016.
7Siehe sein Gespräch mit Marcel Gauchet in: Philosophie Magazine, Nr. 124, Oktober 2018 (Gauchet hatte gerade Robespierre, l’homme qui nous divise le plus, veröffentlicht). Siehe auch sein mit Cécile Amar verfasstes De la vertu.
8Die Wahrung der eigenen Identität und Würde kann sich beispielsweise in einer Ablehnung als »fremdartig« geltender Religionen äußern (vor allem des Islam).
9Diesen Titel hat Chantal Mouffe einem gemeinsam mit der Nummer zwei von Podemos in Spanien verfassten Buch gegeben (Chantal Mouffe/Íñigo Errejón, Construir Pueblo; frz. Construire un peuple).
10Daher die geringe Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaften seitens der populistischen Bewegungen zuteilwird.
2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar
Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser Auffassung zu entwerfen, und zwar auf Grundlage der Infragestellung dieser beiden als reduktionistisch beurteilten Interpretationen des demokratischen Ideals.
Ein Viktor Orbán oder ein Wladimir Putin haben sich wiederholt als Befürworter eines Bruchs mit der liberalen Demokratie präsentiert, gemäß der Annahme, dass heute ein offener Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen des demokratischen Projekts existiert. Auf theoretischer Ebene hat Chantal Mouffe, mit dem Appell, zu verstehen, »dass liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind«1, dazu aufgefordert, Demokratie nicht mehr nur mit Rechtsstaat und Verteidigung der Menschenrechte gleichzusetzen – wie es in ihren Augen der Neoliberalismus tut –, sondern das Prinzip der kollektiven Souveränität in den Vordergrund zu stellen. Daher rührt der Zusammenhang zwischen dem Streben nach populistischer Radikalisierung der Demokratie und der intellektuellen Stigmatisierung einer gesellschaftlichen und »menschenrechtlichen« Sichtweise, die beschuldigt wird, einen Kult des Individuums und der Minderheiten zu betreiben, auf Kosten des Bemühens um Stärkung der Volkssouveränität. Daher rührt ebenfalls die theoretische Aufwertung des Illiberalismus des populistischen Projekts als Voraussetzung einer authentischeren Demokratie (auf diesen Punkt werden wir im letzten Teil dieses Werkes ausführlich eingehen).
Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.
Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie
In Frankreich machte der Front national seit Mitte der 1980er Jahre, mit dem Beginn seines Erfolgs an den Wahlurnen, die Ausweitung von Volksabstimmungsverfahren zu einem seiner wichtigsten Kampagnenthemen. Jean-Marie Le Pen rief seinerzeit zu einer »echten französischen Revolution« auf und sprach von einer notwendigen »Erweiterung der Demokratie« in diesem Sinne, um »dem Volk das Wort zu erteilen«.2 Er beschrieb das Referendum als »vollkommensten Ausdruck der Demokratie« und wünschte sich zugleich die Einführung einer besonderen Form, eines »Veto-Referendums«, das dem Volk ermöglichen sollte, das »Inkrafttreten im Parlament beschlossener, aber von ihm missbilligter Gesetze zu verhindern«.3 Einige Jahre später, in seinem Programm für die Parlamentswahlen von 1997, präzisierte der Front seinen Vorschlag, das Referendum zu erweitern, dahingehend, »das französische Volk aus dem Zugriff der politischen Klasse zu befreien«. Ein solches »Volksbegehren« sollte den Bürgern ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Themen ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden.4
Die Intellektuellenzirkel, die in dieser Zeit den Aufstieg des Front begleiteten, wie der Club de l’Horologe oder GRECE, beteiligten sich an dieser Glorifizierung der direkten Demokratie, indem sie diese mit der Schweizer Tradition