Handbuch Sozialraumorientierung. Группа авторов
Löw die beiden Prozesse »Syntheseleistung« und »Spacing« zu unterscheiden. »Syntheseleistung« meint das Schaffen von Räumen durch die Verknüpfung der Raumelemente (soziale Güter und Lebewesen) durch Menschen über Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Imaginationsprozesse. Unter »Spacing« wird der zweite Vorgang der Konstitution von Raum, das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen und deren symbolischer Markierung, durch welche deren Zusammenspiel kenntlich gemacht würde, verstanden. »Syntheseleistung« und »Spacing« geschehen im Alltag der Konstitution von Raum gleichzeitig. Löw geht »(analytisch) von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten« (2001: 15).
Räume sind für Löw aufgrund der in hierarchisch organisierten Gesellschaften meist ungleichen und unterschiedlichen Bevölkerungsteile begünstigenden bzw. benachteiligenden Verteilung oft Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen.
»Verfügungsmöglichkeiten über Geld [Ökonomisches Kapital, wie Einkommen], Zeugnis [Kulturelles Kapital, wie Bildung], Rang [Status] und Assoziationen [Inklusion/Exklusion; Soziales Kapital] sind ausschlaggebend, um (An)Ordnungen durchsetzen zu können, so wie umgekehrt die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann« (Löw 2001: 272).2
Schroer (2006) verweist auf die etymologische Herkunft des Raumbegriffs von »räumen/abräumen/Platz schaffen« und erklärt damit die Bedeutung des »Raum [S]chaffens« als sozialen Prozess. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Rezeption des Begriffes konstatiert Schroer eine Veränderung von absoluten (Aristoteles, Newton, Kant) über relativistische (Leibniz, Einstein) zu relationalen Raum-Verständnissen (Elias, Lefèbvre, Löw). Schroer sieht » die besondere Bedeutung Simmels für eine Soziologie des Raums darin, dass er sowohl die strukturelle Seite des Raums betont als auch die Hervorbringung des Raums durch menschliche Aktivitäten« (2006: 78). Das Verdienst der Literaturwissenschaftler um Dünne und Günzel (2006) ist es, eine interdisziplinäre Übersicht der Theorien zu Raum erstellt und dabei eine wertvolle Sammlung von Originaltexten vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zusammengestellt, aufbereitet und kommentiert zu haben.
Die oben aufgeführten raumtheoretischen Überlegungen sind für Soziale Arbeit deshalb besonders relevant, weil daraus klar ersichtlich wird, dass Räume von unterschiedlichen Bevölkerungsteilen unterschiedlich erlebt, erfahren und bestimmt werden. Wenn mit den Raumkonstitutionen auch Chancen auf Zugang und Ausschluss von Raum einhergehen, wie von Martina Löw (2001) beschrieben, kann die Konstitution von Raum als Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse und sozialer Konflikte im Allgemeinen sowie sozialer Benachteiligung im Besonderen betrachtet werden. So lassen sich bspw. Nutzungskonflikte, die aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen und gesellschaftlicher Machtverhältnisse entstehen, als ver-/aushandelbare gesellschaftliche Prozesse zur Bearbeitung sozialer Probleme verstehen. Als Beispiel zur weiteren Veranschaulichung der empirischen Bedeutung der Raumtheorie eignet sich die Publikation von Emmenegger und Litscher (2011). Darin werden, in Auseinandersetzung mit öffentlichen Räumen, unterschiedliche Kontexte aus multidisziplinären Perspektiven beleuchtet und mit Beispielen von Forschungsprojekten aus der Schweiz belegt. Empirisch evident für die Lebenswirklichkeit und Lebensweise von Menschen dürften die Wohn- und Arbeitsorte sowie Orte der Freizeitbeschäftigung und Orte der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sein. Die Verbindungen solcher Orte lassen sich analytisch als Aktionsräume be- und nachzeichnen (Kaschuba u. a. 2016), während sich die Fragen der individuellen und gruppenbezogenen Bedeutungszuschreibungen im Lebensweltansatz (Thiersch 1929) wiederfinden. Präsenz und Nutzungsverhalten von Menschen an Orten divergieren je nach Lebenslagen, Lebensstilen und Milieuzuschreibungen und sind daher als relevante Aspekte sozialräumlicher Konstellationen zu berücksichtigen. Ebenso prägen empirisch relevante (Ein-)Teilungsprozesse administrativer Art (wie amtlich festgelegte statische Stadtbezirke, Wahlbezirke, Schulbezirke etc.) oder Einteilungen je nach persönlichen Merkmalen und Organisierungsgrad (Kirchenbezirke) das soziale (Er-)Leben.
Aus der Kombination der obigen (raum-)theoretischen Überlegungen mit empirischen Raumnutzungsprozessen lässt sich ein relationales (Raum-)Verständnis entwickeln, das soziale und räumliche Aspekte möglichst weitgehend einbezieht und sensibel für vorschnelle oder unpassende Verwendungen von Behälter- oder Gebietsbegriffen ist.
Dementsprechend ist der Begriff Sozialraum im oben dargelegten und diesem Handbuch zugrunde liegenden Verständnis nicht als Gebietsbegriff synonym für einen geografisch oder administrativ begrenzten Perimeter zu verwenden, wie immer wieder zu lesen ist (»das Leben im Sozialraum«, »Menschen in ihrem Sozialraum«), sondern seine Bedeutung erscheint sinnvollerweise ohne die Verwendung des Substantivs am passendsten.
Als Ergebnis der obigen begrifflichen und theoretischen Explikation wird im Rahmen des hier zu beschreibenden »Handlungskonzept Sozialraumorientierung«
»Sozialraum« als sozial und räumlich strukturierter Kontext verstanden, der von Menschen und ihren Vergesellschaftungen unterschiedlich konstruiert, produziert und interpretiert wird und zu dem Menschen in unterschiedlichen Relationen (Aufenthalt, Begegnung, Interaktion, Zugehörigkeit etc.) stehen.
Mit dem Begriffspaar Sozialraum-Orientierung wird deutlich gemacht, dass das hier zu beschreibende »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« eine bestimmte Ausrichtung hat und die Perspektive auf den programmatischen Aspekt »Sozialraum«, in oben beschriebener Bedeutung, richtet. Diese spezifische Sichtweise bietet Orientierung im Sinne einer konzeptionellen Ausrichtung des Handelns (s. o. zu »Handlungskonzept«;
Mit dem Raumverständnis und -begriff sind auch sozialpolitische Diskurse, bspw. über den »Umbau des Sozialstaats«, vom »Welfare-State« zum »Workfare-State« oder vom »versorgenden« zum »aktivierenden« Staat, verbunden (Dahme/Wohlfahrt 2003). In deren Rahmen würde die Verantwortung für soziale Probleme und deren Bewältigung tendenziell auf die lokale Ebene und schwerpunkmäßig auf das Individuum, die Bürger*innen verlagert, wobei sich der Staat aus der Verantwortung zurückziehen und die Entwicklung den Marktmechanismen überlassen solle (Giddens 1998). In diesem Zusammenhang ist die dezentrale räumlich-territoriale Orientierung an lokalen Steuerungseinheiten (Stadt, Gemeinde, Quartier) und die sozialpolitische Orientierung an selbstverantwortlichen Individuen und leistungsfähigen Gemeinschaften (Nachbarschaft, Bürgerengagement, Kommunitarismus, vgl. Etzioni 1998) zu hinterfragen und mit den Verursachungsgründen und Bewältigungsbedingungen sozialer Probleme zu konfrontieren.
1.3 Sozialraumorientierung im Diskurs der Sozialen Arbeit
In der Formulierung aus dem Handbuch Gemeinwesenarbeit (GWA) (Stövesand u. a. 2013: 21) »GWA integriert die Bearbeitung individueller und struktureller Aspekte in sozialräumlicher Perspektive« wird auf eine grundlegende Orientierung (sozialräumliche Perspektive) hingewiesen, die als programmatischer Aspekt eines Konzeptes (hier Sozialraumorientierung) verstanden werden kann. Auch Oelschlägels (2005: 259) Definition von GWA als »sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil« richtet, lässt sich als Hinweis auf SRO als Konzept lesen. Folgerichtig konstatieren Stövesand u. a. (2013: 28) »bleibt es richtig, dass die Konzepte von GWA als sozialräumliche