Gewalt und Mobbing an Schulen. Wilfried Schubarth
Erkenntnisse gibt es zur Intervention und Prävention?
Mit diesen Fragen und Themen soll der Gewaltdebatte der letzten Jahre Rechnung getragen werden. Zugleich wird damit die bisherige Debatte um weitere Facetten ergänzt. Unsere Annahme dabei ist, dass ein verändertes gesellschaftliches Klima und vermehrte schulische Aufgaben wie Inklusion, Integration usw. auch neue Anforderungen stellen, insbesondere an das Schulklima und an eine gewaltfreie Kommunikation unter bzw. zwischen Schülern, Lehrkräften und Eltern, was – bei ungünstigen Voraussetzungen – zu einer höheren Gewaltbelastung an Schulen führen kann. Eine der Konsequenzen wäre deshalb, mehr in Bildung und Schule zu investieren und Schulen besser personell und sachgerecht auszustatten. Ansonsten werden Gewalt und Mobbing auch in Zukunft ein Dauerthema bleiben. Das heißt aber auch, dass alle Lehrkräfte grundlegende Kompetenzen beim Umgang mit Gewalt und Mobbing erwerben sollten – am besten schon in der Ausbildung. Der vorliegende Band will dazu einen Beitrag leisten.
Das Erscheinen der dritten Auflage gibt mir zugleich die Gelegenheit, mich bei Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth für die langjährige, kontinuierliche Zusammenarbeit herzlich zu bedanken.
Potsdam, im Januar 2019 | Wilfried Schubarth |
1 Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).
Wie sich Gewalt und Mobbing in den letzten Jahren entwickelt haben und welche Gegenstrategien nötig sind
Wie im Vorwort zur dritten Auflage kurz beschrieben, haben sich in den letzten Jahren in der Schule wie in der Gesellschaft insgesamt vielfältige Wandlungsprozesse vollzogen: Inklusion und Integration, aber auch Lehrkräftemangel sind nur die bekanntesten Stichworte. Brandbriefe und andere Überlastungsanzeigen sind die Folge. So ist es nicht verwunderlich, dass die Annahme, dass Gewalt und Mobbing an Schulen zugenommen haben, weit verbreitet ist. Das ist jedoch zunächst eine »gefühlte Gewaltzunahme«, die auch von den Medien stark beeinflusst wird.
Für eine Versachlichung der Debatte ist es notwendig, aktuelle Studien zu befragen, soweit diese vorhanden sind. Im Folgenden soll deshalb der aktuelle Forschungsstand zu zentralen Aspekten der Debatte um Gewalt und Mobbing zusammenfassend dargestellt werden. Dabei soll vor allem auf folgende drei Fragen eingegangen werden:
a) Haben Gewalt und Mobbing, einschließlich Gewalt gegen Lehrkräfte, in den letzten Jahren zugenommen?
b) Welche Rolle spielen Cybermobbing und Hate Speech?
c) Welche neueren Erkenntnisse gibt es zur Intervention und Prävention von Gewalt und Mobbing an Schulen?
Mit diesen Aspekten soll die Gewaltdebatte der letzten Jahre aufgegriffen und mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse möglichst versachlicht werden. Wir beginnen mit der Frage nach dem Ausmaß und der Entwicklung von Gewalt und Mobbing in den letzten Jahren.
a) Haben Gewalt und Mobbing, einschließlich Gewalt gegen Lehrkräfte, in den letzten Jahren zugenommen?
Unsere Leitthese ist, dass ein verändertes gesellschaftliches Klima, eine heterogene Schüler- und Elternschaft und vermehrte schulische Aufgaben wie Inklusion, Integration usw. auch höhere Anforderungen an Schule und Lehrkräfte stellen, insbesondere an das Schulklima und an eine gewaltfreie Kommunikation unter bzw. zwischen Schülern, Lehrkräften und Eltern, was – bei ungünstigen Voraussetzungen – zu einer höheren Gewaltbelastung an Schulen führen kann.
Zunächst ist nach wie vor festzuhalten, dass Gewalt und Mobbing an Schulen zum Schulalltag gehören und deshalb nicht verharmlost werden dürfen. Laut aktueller PISA-Studie ist fast jeder sechste 15-Jährige in Deutschland regelmäßig Opfer von körperlichen oder seelischen Attacken durch Mitschüler. Fast jeder zehnte 15-Jährige beklagt, regelmäßig Ziel von Spott und Lästereien zu sein. Jeweils 2 % der Befragten geben an, in der Schule herumgeschubst und geschlagen oder bedroht worden zu sein. Jungen sind häufiger Mobbing-Opfer als Mädchen. Letztere sind aber stärker von Ausgrenzung und bösen Gerüchten betroffen (vgl. OECD 2017). Die internationale HBSC-Studie »Health Behaviour in School-aged Children« (11- bis 15-Jährige) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Danach sind jeweils ca. 9 % der Schüler mehrmals im Monat Opfer bzw. Täter von Mobbing. Im Vergleich zu anderen Ländern liegt Deutschland im unteren Mittelfeld, d. h. deutsche Schulen sind im Vergleich etwas weniger mit Gewalt und Mobbing belastet (HBSC-Deutschland 2015; OECD 2017).
Erfahrungen von Gewalt und Mobbing von Kindern (6 bis 11 Jahre) hat die World Vision Kinderstudie 2018 ermittelt. Ähnlich wie bei der PISA-Studie gibt jedes fünfte Kind an, selbst Erfahrungen mit Ausgrenzung zu haben oder gemobbt zu werden. Dabei gibt es kaum Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. 6- bis 7-Jährige werden eher gemobbt als ältere Kinder. Kinder aus der unteren sozialen Herkunftsschicht sind davon deutlich mehr betroffen als andere Kinder. Meist findet Ausgrenzung in der Schule statt (16 %), deutlich seltener im Freundeskreis (2 %) oder anderswo (draußen oder in der Familie: 1 %). Ca. 1 % der befragten Kinder berichtet über entsprechende Erfahrungen im Internet (World Vision Kinderstudie 2018).
Gewaltrückgang bis 2014, Trendwende seit 2015/2016?
Bei der Frage nach der Entwicklung von Gewalt und Mobbing ist – entsprechend der Studienlage – die Situation zweigeteilt. Bis etwa zum Jahre 2014 lassen die wenigen Vergleichsstudien eher auf eine Gewaltabnahme schließen. Seit 2015/16 ändert sich das Bild: Seitdem gibt es vermehrt Anzeichen für eine Zunahme von Gewalt, wenngleich die Datenlage nicht einheitlich ist.
So verweist unsere eigene Replikationsstudie von 2014 im Vergleich mit unserer Studie von 1996 insgesamt auf einen leichten Rückgang von Gewalt an Schulen bis zum Jahre 2014. Dieser leichte Rückgang bezieht sich größtenteils auf die Täteranteile. Zugenommen hat dagegen der Anteil der Opfer psychischer Gewalt, während der Anteil der Opfer von verbaler Gewalt konstant geblieben ist (Bilz/Schubarth/Dudziak u. a. 2017). Ähnliche Trends wurden auch durch die HBSC-Studien im Zeitraum von 2002 bis 2014 ermittelt. Danach gab es bis 2010 eine deutliche Gewaltabnahme, die sich dann bis 2014 leicht fortsetzte (Melzer/Schubarth 2016).
Dieser rückläufige Trend für Schulen steht auch im Einklang mit weiteren Befunden (vgl. z. B. Pfeiffer/Beier/Kliem 2018): So ermittelte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) unter Neuntklässlern im Bundesland Niedersachsen von 1998 zu 2015 einen Rückgang des Anteils Jugendlicher, die angaben, eine Körperverletzung begangen zu haben, von 18 auf 5 % und bei Raubtaten einen Rückgang von 5 auf 0,4 %, wobei sich der Rückgang auf Schüler beiderlei Geschlechts, unterschiedlicher Schulformen und unterschiedlicher ethnischer Herkunft bezog. Auch die Statistik der Unfallversicherung verweist bis zum Jahre 2015 auf einen deutlichen Rückgang der Raufunfälle und zwar von 15 (pro 1000 Schülerinnen und Schüler) im Jahre 1999 auf neun Raufunfälle im Jahre 2015. Und schließlich registrierte auch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKZ) zwischen 2007 und 2015 eine Halbierung der Tatverdächtigungsbelastungszahl (TVZ) im Bereich der Gewaltkriminalität bei 14- bis unter 18-Jährige und zwar von 1.266 auf 628 pro 1.000.000 Personen einer Altersgruppe.
Während somit bis etwa zum Jahre 2014 eine tendenzielle Abnahme von Gewalt an Schulen nachweisbar ist, scheinen die Jahre 2015/16 eine Trendwende darzustellen. Seitdem mehren sich die Anzeichen, dass Gewalt und Mobbing an Schulen zunehmen. Dafür sprechen folgende Befunde, wobei sich aufgrund der schwierigen Befundlage kein klares Gesamtbild ergibt.
Die von den Landeskriminalämtern zum »Tatort Schule« erhobenen Statistiken für 2017 haben folgende Ergebnisse und Trends erbracht: Aus den Lagebildern zum »Tatort Schule« im Jahre 2018 geht hervor, dass die Kriminalität an Schulen in zehn Bundesländern zugenommen hat. Die Steigerungsraten reichen von drei Prozent in Nordrhein-Westfalen, 14 % in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, 32 % in Niedersachsen bis zu 114 % im Saarland. Während die Schulkriminalität bis 2013 zurückgegangen war, ist jetzt in zehn Bundesländern eine Trendwende zu beobachten. Besonders deutlich fällt diese Trendwende bei körperlicher und verbaler Gewalt aus. Hier registrierten alle Bundesländer ab 2013