Fehlalarm!. Leopold Stummer

Fehlalarm! - Leopold Stummer


Скачать книгу
Eingriff kann mit dem Hinweis auf die Sicherheitslage zuverlässig befriedigt werden. Es besteht also, abgesehen von den kommerziellen Interessen kleiner Gruppen, wie Sicherheitsindustrie, Medien, usw., auch ein übergeordnetes politisches Interesse daran, die Angst niemals schwinden zu lassen. Die (propagierte) allgemeine Bedrohung ändert gelegentlich ihr (vermeintliches) Aussehen, es darf aber nie der öffentliche Eindruck entstehen, sie sei plötzlich gar nicht mehr da, weil sich die Menschen sonst womöglich dem Nächstliegenden zuwenden würden; vielleicht sogar der Frage: »Ich hab das nicht bestellt, wieso soll ich dann dafür bezahlen?

      Augenscheinlich besteht also ein individuell-psychologisches, ein gruppenspezifisch-kommerzielles und ein allgemein-gesellschaftspolitisches Bedürfnis nach Panik.

      Immer wieder tauchte in verschiedenen Epochen und unterschiedlichen Krisen die tröstliche Devise auf: »… esst, trinkt und vergnügt euch, denn wahrscheinlich werden wir morgen alle sterben!«9 – So aufbauend diese Maxime in vielen Situationen auch sein mag, setzen wir hier zeitgemäß dagegen: »… esst, trinkt und vergnügt euch, denn wahrscheinlich werden wir auch morgen essen, trinken und uns vergnügen«. – Mit ein bisschen Glück, und wenn wir uns den Spaß nicht vermiesen lassen.

      2

      Exkurs – Zwei ­Geschichten von dem Jungen, der ­immer »Wolf! Wolf!« rief

      Zur Illustration der Panikmacher-Problematik soll eine alte Geschichte dienen. Die ursprüngliche Erzählung des griechischen Dichters Aesop (620–560 v. Chr.) ist vielleicht vielen vertraut:

      Es war einmal ein Junge, der sich langweilte. Offenbar war in der »guten alten« Zeit der legalen Kinderarbeit – der Junge war Schäfer von Beruf – Langeweile bei Jugendlichen schon bekannt, sogar ohne Spielkonsolen, Kabel-TV und Internet. Um seine idyllisch-pastorale Tätigkeit etwas abwechslungsreicher zu gestalten, alarmierte besagter Junge die Bewohner seines Dorfes wegen eines (fiktiven) Angriffs von Wölfen auf die Schafherde, die seiner Obhut anvertraut war. (Ganz offensichtlich litt der Junge unter einem Defizit an Aufmerksamkeit und Anerkennung durch seine Mitmenschen, vermutlich die Schuld seiner Eltern.) Das Dorfkollektiv, besorgt um die kommunalen Ressourcen und deren ökonomische Nutzbarkeit, rüstete sich mit »geeigneten Maßnahmen« und stürmte engagiert dem drohenden Desaster entgegen.

      Anstatt aber freudige Erleichterung darüber zu empfinden, dass die drohende Gefahr ohne schlimmere Folgen als Atemlosigkeit, Schweißausbrüche und Erschöpfungssymptome abgewendet werden konnte, murrten die Bürger über den gelungenen Test ihrer Einsatzbereitschaft. Ja, manche von ihnen bedachten unseren Jüngling mit zornigen Worten oder bedrohten ihn gar mit Schlägen! (Ja, ja, es war wirklich eine wilde, barbarische Zeit!)

      Wenig später – wir wissen nicht, ob wegen abermals eingetretener Langeweile oder um die Effizienz des Alarm­einsatzes der Bürger durch Wiederholung des Manövers »Wolfswehr«1 zu verbessern – rief der Bursche abermals »Wolf! Wolf!«, und von Neuem starteten die Bürger ihren (humanitären, friedenssichernden) Rettungseinsatz. Wiederum wurde keinem Tier ein Haar gekrümmt, und wiederum ließen es die Dorfbewohner (obwohl zum Teil selbst Schafeigentümer) an Verständnis und Empathie gegenüber unserem jungen Schäfer mangeln. Vielmehr machten einige von ihnen – wir erinnern uns, es handelt sich um griechische Landbevölkerung um ca. 600 v. Chr. – Anstalten, ihre bereits geäußerten Versprechungen bezüglich etwa zu verabreichender Prügel in die Tat umzusetzen.

      Usw. usw. – in einer Verfilmung würden jetzt einige Blätter eines Abreißkalenders im Winde davonfliegen …

      Nun, eines Tages, im flirrenden Licht der Mittagssonne, unhörbar durch den Lärm der Zikaden und die friedvollen Schalmeienklänge2 unseres Hirten, erscheint: der Wolf!

      Der Junge schreit auftragsmäßig aus Leibeskräften. Er versucht, die lethargische Öffentlichkeit aufzurütteln, um unverzüglich zweckdienliche, solidarisch-kollektive Abwehrmaßnahmen zu organisieren. Der Wolf jedoch kommt seiner natürlichen Bestimmung nach, verhält sich artgemäß, folgt seinem Instinkt und reißt ein Schaf.

      Da bekommt es der Junge mit der Angst zu tun. Würde er seinen ruhigen Job als Hirte verlieren, so müsste er sich womöglich wesentlich anstrengenderen Tätigkeiten widmen. Zwar könnte die durch das verschwundene Schaf entstandene Verbindlichkeit gegenüber dem Schafseigentümer durch seinen eigenen Verkaufspreis als Sklave abgedeckt werden, die Sklaverei ist schließlich auch ein krisensicherer Job und immer noch besser als gar nichts; … aber trotzdem!

      Die Verzweiflung des Jungen war beträchtlich. Aber wieso war das bisher so zuverlässige und dank seiner früheren Probealarme auch ausreichend trainierte Hilfskontingent an hochgerüsteten und -motivierten Dorfbewohnern ausgeblieben? Bittere Vorwürfe über die nachlässig-ignorante Haltung der Landbevölkerung kamen über seine Lippen, als er den Hügel zum Dorf hinauflief. Die Bürger aber sagten: »Warum hast du denn schon früher ›Wolf! Wolf!‹ gerufen, als noch weit und breit keiner zu finden war? Wir haben unsere Motivation inzwischen längst verloren, weil wir uns wie Idioten vorgekommen sind. Außerdem war unsere Aufmerksamkeit durch ein Übermaß an Ablenkungen – Symposien, Satyrspiele, Tragödien und ganz besonders von den soeben eingetroffenen Berichten von den olympischen Spiele – erlahmt.«

      Das Dorfoberhaupt, ein alter weiser Mann, meinte schließlich zu dem Jüngling: »Nimm es nicht tragisch, wir werden dir kein Leid zufügen. Merke dir aber – wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Ruf nur dann um Hilfe, wenn diese auch wirklich notwendig ist. Die Menschen werden sonst nicht mehr auf dich hören, dir keine Hilfe bringen und dich für einen Wichtigtuer und Lügner halten.«

      So ähnlich3 sprach der alte und überaus weise Dorfvorsteher. Allerdings hat Aesop die wahre Geschichte aus didaktisch-/propagandistischen Gründen für seine Erzählung abgeändert. Offenbar wollte er seine Ruhe finden und das dauernde »Wolf! Wolf!«-Geschrei abstellen. Die ursprüngliche Geschichte ging nämlich so:

      … Als der Junge in begreiflicher Erregung ins Dorf gelaufen kam, nachdem der Wolf tatsächlich (!) ein Schaf gerissen hatte, nahm ihn der (in Wirklichkeit etwas weniger alte & weise) Dorfvorsteher beiseite und sprach:

      »Ich danke dir, dass du uns auf die intolerable Bedrohung durch die Wölfe aufmerksam gemacht hast. Diese ungeheure Gefahr ist von meinem unfähigen Vorgänger sträflichst vernachlässigt worden. Ich werde sofort einen Ausschuss der Dorfwichtigsten einberufen und mit ihnen Wolfabwehrmaßnahmen beschließen.« Und er eilte davon, um unverzüglich die Tagesordnung für die Sitzungen des Planungskomitees auszuarbeiten.

      Der tiefere Grund für diesen unüblichen Eifer war, dass der Dorfvorsteher sein karges Gehalt ziemlich regelmäßig durch Zugriff auf die dörflichen Vorratslager zu ergänzen pflegte, eine Gewohnheit, die bei manchen Bewohnern schon zu kritischem Stirnrunzeln geführt hatte. Einige stellten offen die Frage, ob so ein Dorfvorsteher heutzutage überhaupt nötig sei, und selbst wenn – ob dieser spezielle denn auch der richtige für dieses Amt sei? Auch hatte er erst in der vorangegangenen Nacht großen Gefallen an der überaus jungen Tochter eines angesehenen Dorfindustriellen (und Schafbesitzers) gefunden. Es schien ihm deshalb dringend notwendig, den Dorfbewohnern seine nimmermüde, oft zu Unrecht kritisierte und dem Dorf aber stets zum Vorteil gereichende Tätigkeit zu »kommunizieren«.

      Die Klatschweiber (des einen, des anderen und beiderlei Geschlechts) stürzten sich sofort auf unseren armen Jungen. »Was ging dir durch den Kopf, als du den Wolf sahst? Wann hast du deine Mutter zuletzt besucht? Glaubst du, dass der Dorfvorsteher genug gegen Wölfe unternimmt? Wie sehr liebst du eigentlich dein ›Lieblingsschaf‹? – Und war es gerade dieses, das der Wolf geholt hat? Hast du den Wolf womöglich durch dein Verhalten provoziert oder hast du vielleicht immer schon etwas gegen Wölfe gehabt? Von welchem Schneider stammt dein Faltenröckchen? Wirst du deine Geschichte im Amphitheater aufführen lassen? – Und wer soll die Regie übernehmen?« So fragten sie durcheinander, bis der Junge vor lauter Verwirrung nur mehr blöde grinsen konnte und alle weiteren Auskünfte von einem rasch herbeigeeilten, erfahrenen »Freund« gegeben werden mussten.

      Bei dieser Gelegenheit wurde natürlich auch


Скачать книгу