Der Gehülfe. Robert Walser

Der Gehülfe - Robert  Walser


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enthielt er. Er war den Büchern, die die Welt liest, nachgeschrieben und enthielt vorzugsweise kühnlinierte und schraffierte Reisebeschreibungen. Die Welt sei doch herrlich, hieß es da, wenn man sich die Mühe nehme, sie zu Fuß zu durchwandern. Dann wurden der Himmel, die Wolken, die Halden, die Geißen, Kühe, Kuhglocken und die Berge beschrieben. Wie wichtig das alles war. Joseph hatte eine kleine Stube nach hinten gehend inne, dort las er. Sowie er nur dieses Stübchen betrat, fing ihm auch gleich die Bücherlektüre über den Kopf zu flattern an. Er las da so einen von jenen großen Romanen, an denen man monatelang lesen kann. Die Kost hatte er in einer Pension von Technikumsschülern und Kaufmannslehrlingen. Er hatte große Mühe, sich mit dem jugendlichen Volk einigermaßen zu unterhalten und schwieg daher meist bei Tisch. Wie war das alles für ihn erniedrigend. Auch da war er ein Knopf, der nur lose hing, den man gar nicht mehr festzunähen sich abmühte, da man zum voraus wußte, daß der Rock doch nicht lange getragen werde. Ja, seine Existenz war nur ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug. Nahe bei der Stadt lag ein runder, mäßig hoher Rebhügel, der oben mit Wald gekrönt war. Nun, das war fürs Spazierengehen ganz artig. Die Sonntagvormittage verlebte Joseph regelmäßig dort oben, während welcher Erholung er sich jedesmal in ferne, beinahe krankhaft schöne Träumereien verwickelt sah. Unten in der Fabrik ging es weniger schön zu, trotz des zunehmenden Frühlings, der seine kleinen duftenden Wunder an den Bäumen und Sträuchern zu entfalten begann. Der Prinzipal machte Joseph eines Tages ganz gehörig herunter, ja, er machte ihn schlecht, er nannte ihn geradezu einen Betrüger, und weswegen? Das war auch wieder so eine Kopfträgheit gewesen. Hohle Köpfe können ja nun allerdings einem Handelsgeschäft erheblichen Schaden zufügen. Man kann schlecht rechnen, oder aber, und das ist das Schlimme, man rechnet einfach gar nicht. Für Joseph war es so schwer gewesen, eine in englischer Pfundwährung aufgestellte Zinsenrechnung zu prüfen. Dazu fehlten ihm die paar Kenntnisse, und statt das nun offen dem Geschäftsherrn einzugestehen, wovor er sich schämte, setzte er unter die Rechnung, ohne sie wahrhaft geprüft zu haben, die lügnerische Bestätigung. Er schrieb mit Bleistift ein M zu der Schlußzahl, was so viel zu bedeuten hatte als die feste und ruhige Tatsache des Richtigbefundes. An diesem einen Tage nun kam es plötzlich durch eine mißtrauische Frage seitens des Prinzipals heraus, daß die Prüfung nur geschwindelt, und daß ja Joseph gar nicht imstande war, eine derartige Rechnung im Kopf zu lösen. Das waren eben englische Pfund, und Joseph wußte mit solchen absolut nicht umzugehen. Er verdiene, sprach der Vorgesetzte, mit Schimpf und Schande fortgejagt zu werden. Wenn er etwas nicht verstehe, so sei das keine Unehrenhaftigkeit, wenn er aber Verständnis lüge, so sei das Diebstahl. Man könne es nicht anders nennen, und Joseph solle sich in Grund und Boden hinab schämen. O das war ein tobendes Herzklopfen für ihn gewesen. Er spürte eine schwarze, fressende Welle über seinem ganzen Dasein. Die eigene, sonst, wie ihm immer schien, nicht schlechte Seele schnürte ihn von allen Seiten zu. Er zitterte so heftig, daß die Zahlen, die er eben schrieb, nachher ungeheuerlich fremd, verschoben und groß aussahen. Aber nach einer Stunde war ihm so wohl. Er ging zur Post, es war eben schönes Wetter, er ging so, und da meinte er, küsse ihn alles. Die kleinen süßen Blätter schienen alle in einem liebkosenden, farbigen Schwarm auf ihn zuzufliegen. Die vorübergehenden, im übrigen ganz alltäglichen Menschen sahen so schön aus, zum rein An-den-Hals-werfen. Er schaute glücklich in alle Gärten hinein, zum offenen Himmel hinauf. Wie rein und schön waren die weißen, frischen Wolken. Und das satte, süße Blau. Joseph hatte das eben Vorgefallene, das Wüste, nicht vergessen, er trug es beschämt mit sich, aber es hatte sich in etwas Unbekümmert-Leidvolles, in etwas Ebenmäßig-Verhängnisvolles verwandelt. Er zitterte noch ein wenig und dachte: »Also muß man mich mit Demütigungen zur reinen Freude an der Welt Gottes aufpeitschen?« Nach Feierabend trat er gemütlich in einen ihm wohlbekannten Zigarrenladen. Eine Frau hauste dort, eine womöglich, ja wahrscheinlich und nur zu sehr wahrscheinlich käufliche Frau. Joseph pflegte sich in ihrem Laden Abend für Abend auf einen Stuhl zu setzen, eine Zigarre dazu zu rauchen und zu plaudern mit der Inhaberin. Er gefiel ihr, das merkte er bald. »Wenn ich dieser Frau gefalle, so erweise ich ihr einen kleinen Dienst, regelmäßig bei ihr zu sitzen,« dachte er und tat auch so. Sie erzählte ihm ihre ganze Jugend und manches Schöne und Unschöne aus ihrem Leben. Sie alterte schon und hatte ein ziemlich häßlich geschminktes Gesicht, aber gute Augen leuchteten aus demselben hervor, und ihr Mund: »wie oft wird er geweint haben,« dachte Joseph. Er blieb immer artig und höflich bei ihr, als ob dieses Betragen selbstverständlich gewesen wäre. Einmal streichelte er ihr die Wangen, und er bemerkte die Freude, die sie über dieser Bewegung empfand, sie errötete und ihr Mund zuckte, als ob sie hätte sagen wollen: »zu spät, mein Freund.« Sie war früher eine Zeitlang Kellnerin gewesen, aber was hatte das alles zu bedeuten, da doch der ganze Anhängezipfel nach ein paar Wochen abgetrennt wurde. Der Chef schenkte Joseph zum Abschied eine Gratifikation, trotz jenes Vorfalles mit der englischen Geldwährung, und wünschte ihm Glück in die Kaserne. Jetzt kommt eine Eisenbahnfahrt durch ein frühlingverzaubertes Land, und dann weiß man nichts mehr, denn von da an ist man nur noch eine Nummer, man bekommt eine Uniform, eine Patronentasche, ein Seitengewehr, eine regelrechte Flinte, ein Käppi und schwere Marschschuhe. Man ist nichts mehr Eigenes, man ist ein Stück Gehorsam und ein Stück Übung. Man schläft, ißt, turnt, schießt, marschiert und gestattet sich Ruhepausen, aber in vorgeschriebener Weise. Selbst die Empfindungen werden scharf überwacht. Die Knochen wollen anfänglich brechen, aber nach und nach stählt sich der Körper, die biegsamen Kniescheiben werden zu eisernen Scharnieren, der Kopf wird frei von Gedanken, die Arme und Hände gewöhnen sich an das Gewehr, das den Soldaten und Rekruten überall hin begleitet. Im Traum hört Joseph Kommandoworte und das Knattern der Schüsse. Acht Wochen lang dauert das so, es ist keine Ewigkeit, aber bisweilen scheint es ihm eine.

      Doch was soll das alles, da er doch jetzt in Herrn Toblers Hause lebt.

       Zwei oder drei Tage sind noch keine gar so sehr lange Zeit. Dieser Zeitraum genügt nicht einmal, um sich in einem Zimmer ganz zurechtzufinden, wie viel weniger in einem immerhin stattlichen Haus. Joseph war ja ohnehin schwer von Begriff, wenigstens bildete er sich das ein, und Einbildungen sind nie gänzlich ohne grundlegende Berechtigung. Das Toblersche Haus war überdies noch zweiteilig, es bestund aus einem Wohnhaus sowohl wie aus einem Geschäftshaus, und Josephs Pflicht und Schuldigkeit war, beide Sorten Häuser ergründen zu lernen. Wo Familie und Geschäft so nah beieinander sind, daß sie sich, man möchte sagen, körperlich berühren, kann man das eine nicht gründlich kennen lernen und zugleich das andere übersehen. Die Obliegenheiten eines Angestellten liegen in solch einem Haus weder ausdrücklich da noch ausdrücklich dort, sondern überall. Auch die Stunden der Pflichterfüllung sind keine exakt begrenzten, sondern erstrecken sich manchmal bis tief in die Nacht hinein, um bisweilen plötzlich mitten am Tag für eine Zeitlang aufzuhören. Wer das Vergnügen haben darf, nachmittags draußen im Gartenhaus in Gesellschaft einer gewiß gar nicht üblen Frau Kaffee zu trinken, muß nicht böse werden, wenn er abends nach acht Uhr rasch noch irgend eine dringende Arbeit erledigen soll. Wer so schön zu Mittag ißt, wie Joseph, muß dies durch verdoppelte Leistungen wieder gut zu machen suchen. Wer Stumpen rauchen darf während der Geschäftsstunden, der darf nicht brummen, wenn ihn die Herrin des Hauses um einen häuslichen oder familiären Dienst kurz ersucht, auch wenn der Ton, womit dieses Gesuch ausgesprochen wird, eher ein befehlshaberischer als ein schüchtern bittender sein sollte. Wer hat alles Annehmliche und Schmeichelnde immer zusammen? Wer wird so anmaßend der Welt gegenüber sein, von ihr nur Kissen zum Daraufruhen zu verlangen, ohne zu bedenken, daß die samtenen und seidenen, mit feinem Flaum gefüllten und gestopften Kissen Geld kosten? Aber Joseph denkt gar nicht so. Man muß bedenken, daß Joseph nie viel Geld auf einmal besessen hat.

      Frau Tobler fand an ihm etwas Seltsames, sozusagen Unalltägliches, ohne ihn aber auch nur im geringsten gut zu beurteilen. Sie fand ihn ziemlich lächerlich in seinem dunkelgrün gefärbten, abgetragenen und erbleichten Anzug, aber auch in seinem Benehmen wollte sie etwas Komisches entdeckt wissen, worin sie in gewisser Beziehung recht hatte. Komisch war sein undezidiertes Auftreten, sein augenscheinlicher Mangel an Selbstbewußtheit, und komisch waren auch seine Manieren. Hinwiederum muß bemerkt werden, daß Frau Tobler, eine Bürgersfrau von echtester Abstammung, sehr leicht geneigt war, vieles komisch zu finden, was auch nur ein ganz klein wenig ihre Anschauungsweise fremd berühren konnte. Wenn das aber so ist, so wollen wir uns weiter nicht darüber aufregen, daß eine solche Frau einen solchen jungen Menschen komisch fand, sondern berichten, was sie zusammen redeten. Versetzen


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